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Pflegerevolution | Pflegen, lächeln – fighten! Wie junge Auszubildende sich durch das Krankenhaus kämpfen


Link [2022-06-11 14:42:41]



Lisa und Miran wollen sich um Menschen kümmern – und wagen es. Sie werden Pfleger:innen. Doch der Arbeitsalltag bringt auch sie schnell an ihre Belastungsgrenzen. Sie merken: Es braucht ein Sondervermögen für die Pflege

Eigentlich kommt Lisa Schandl aus dem Leistungssport. Kickboxen war ihr Ding, „Körperschach“ nennt sie das. Doch alleine wollte sie sich eigentlich nicht durchboxen in der Welt, in der es sie von der bayrischen Provinz in ein Kinderkrankenhaus in Südafrika und schließlich an die Berliner Charité verschlug. Sie ist die erste Abiturientin in der Familie, hat ein Pflegepraktikum absolviert, schnupperte durch die verschiedenen Bereiche. In Berlin arbeitete sie als Sanitäterin, weil sie sich für die Schicksale interessierte, die sie im Rettungsdienst hinter den Wohnfassaden vorfand. Warum kein Medizinstudium? Sie lacht: „Immer diese Frage! Ich hätte auch Psychologin werden können. Aber für mich war klar, ich will ins Krankenhaus und das Medizinstudium fand ich einschüchternd. Ich wusste schon, was mich erwartet und dass die Pflege ein sinkendes Schiff ist. Aber die Realität fand ich dann doch krass.“

2019, noch vor Corona, hat Lisa Schandl ihre Ausbildung an der Charité begonnen.Aber wieso heuert eine 24-Jährige, die tough ist, selbstbewusst und schon viel von der Welt gesehen hat, auf einem „Totenschiff“ an?

Ich treffe Lisa an einem trüben Nachmittag in einem Café am Nollendorfplatz in Berlin. Ins Krankenhaus darf ich sie nicht begleiten, auch nicht in die Schule. Es ist gar nicht leicht, Pflegeschüler:innen zu finden, die Auskunft über ihre Ausbildungssituation geben. Das Krankenhaus ist ein sehr hierarchischer Betrieb, das gilt bis heute. Und Lisa steht gerade kurz vor ihrem Pflegeexamen, hat wenig Zeit. Doch sie weiß sofort, worum es geht. Vor einem Jahr hat sie sich im Streik der Berliner Pflegekräfte engagiert, dem längsten Ausstand, den es in dieser Branche in Deutschland jemals gegeben hat. „Wir haben nicht für Geld gestreikt. Wir haben die Beschäftigten gefragt, was sie brauchen. Die sagten vor allem eins: Entlastung.“

Seitdem mit Corona weltweit die Menschen den Pflegenden von den Balkonen herab Beifall gezollt haben, dürfte über die Systemrelevanz von Pflege kaum mehr gestritten werden. Was hinter Krankenhausmauern oder den Pforten von Pflegeheimen geleistet wird, ist unverzichtbar – und es hat einen Preis. Den aber noch immer niemand zahlen will. Deshalb haben viele Pflegekräfte den Dienst quittiert. Knapp 25 Prozent der Berufsanfänger:innen kehren innerhalb von fünf Jahren ihrem Beruf den Rücken, nur jede fünfte Pflegekraft geht davon aus, ihn bis zur Rente ausüben zu können. Wer ihm treu bleibt, geht häufig in Teilzeit, weil die Belastungen sonst zu hoch sind, in der Langzeitpflege betrifft das sogar zwei von drei Pflegekräften. Der Pflegestreik an den nordrhein-westfälischen Unikliniken für einen Entlastungstarifvertrag geht gerade in die vierte Woche.

Lisa wird „ausgeliehen“

Wie erlebt der Pflegenachwuchs die Situation? Wenn die Auszubildenden mitansehen, wie ihre älteren, ausgepowerten Kolleg:innen in andere Bereiche abwandern oder dem Beruf völlig den Rücken kehren, weil sie das, was sie als „gute Pflege“ gelernt haben, nicht ausüben können? Wenn sie beobachten, wie Familien unter entgrenzten Schichtdiensten leiden? Wenn die Atmosphäre auf den Stationen immer angespannter wird und niemand Zeit hat, sie vernünftig anzuleiten?

Lisa gehörte, als sie sich 2019 für die Profession entschieden hatte, schon zu den „Überzeugungstäter:innen“ Doch ihre Erwartung, sich nun nicht mehr alleine durchboxen zu müssen wie im Sport, hat sich nicht erfüllt: „Ab Tag eins musste man immer alles einfordern, sich darum kümmern, einen Schlüssel für die Station zu bekommen, man musste sich im Klo umziehen, weil man keinen Zugang zur Umkleidekabine hatte, und es wird einem ständig signalisiert, dass man als Azubi eine Belastung ist. Die Examinierten streiten sich, wer uns einarbeitet oder wer einen ,ausleihen‘ darf.“ Das sei von Anfang an „desillusionierend und demotivierend“ gewesen, setzt Lisa hinzu, obwohl sie voller Enthusiasmus in den Beruf gestartet ist.

Lisa gehört zu den Letzten, die noch nach Sparten ausgebildet wurden. Bis 2020 konnten sich die Auszubildenden entweder für Gesundheits- und Krankenpflege, Kinderkranken- oder Altenpflege entscheiden. Seither gilt für den Pflegeberuf auch in Deutschland die „generalistische“ Ausbildung: Alle drei Bereiche werden gleichmäßig gelehrt. Die angehenden Pflegekräfte wechseln zwischen dem theoretischen Unterricht in der Schule und den Einrichtungen, wo sie praktische Erfahrungen sammeln.

Die Abbrecherquote ist hoch. Von den 22 Frauen und vier Männern, die mit Lisa angefangen haben, blieben nach der Probezeit 18 übrig, dann bröckelte es immer mehr. „Die Stimmung im 2. Ausbildungsjahr, als die Pandemie begann, war furchtbar. Die Verzweiflung auf den Stationen und die eigene Demotivation. Dazu kam, dass wir viele Nicht-Muttersprachliche im Kurs hatten, die drohten immer weiter abgehängt zu werden.“ Viele Menschen, die ihre Heimat verlassen müssten, kämen mit hoch qualifizierten Abschlüssen und machten die Ausbildung, weil sie nicht viele andere Möglichkeiten hätten. Es ist nicht immer der Wunschberuf.

Sie wollen den Menschen helfen

Die Pflegeausbildung, erklärt die Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe (BBG), Christine Vogler, sei sehr anspruchsvoll, das werde oft unterschätzt, und eine Abbruchquote von 30 Prozent gilt als normal. „Inzwischen werden alle in den Beruf reingeschoben, die irgendwie Interesse bekunden. Bei dem herrschenden Pflegenotstand denken viele, alle warten auf mich, und treffen in der Praxis dann auf Kollegen, die es kaum schaffen, den Alltag zu bewältigen und dann auch noch die Praxisanleitung zu gewährleisten.“

Auch Miran Berwan* hatte, als er mit der Pflegeausbildung begann, schon Erfahrung. An den Mittleren Schulabschluss hing er ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Krankenhaus, dann bewarb sich der heute 18-Jährige bei Vivantes, neben der Charité der zweite öffentliche Krankenhausträger in Berlin. „Ich wusste, das ist mein Beruf“, sagt er. „Ich finde es superschön, Menschen helfen zu können und aktiv zu sehen, dass unsere Maßnahmen dazu beitragen, Menschen gesund zu machen.“ Dass es sich immer noch um einen „weiblichen“ Beruf handelt, stört ihn nicht, er hat die Ausbildung mit zwei Freunden begonnen, und in seinem Kurs sitzen sechs Männer. Er erlebt im Pflegealltag aber öfter, dass Auszubildende mit weniger guten Deutschkenntnissen diskriminiert werden.

Schon Mirans Tanten und Onkel haben in der Pflege gearbeitet und zu Hause viel über ihre Tätigkeit erzählt. Mütterlicherseits hat der junge Mann, der zu unserem Treffen farbenfreudig in Rot und Lila erscheint, einen migrantischen Hintergrund, sein Vater ist Deutscher. Im Unterschied zu Lisa ist er während der Pandemie und in die generalistische Ausbildung eingestiegen, das heißt, er durchläuft alle drei Pflegebereiche. Miran ist davon nicht so begeistert. „Niemand hat so richtig eine Ahnung, was wir lernen sollen und was am Ende im Examen kommt. Wir gehen mit Angst und Bange auf das Staatsexamen zu. ‚Ihr seid jetzt eben die Versuchskaninchen‘, wurde uns am Anfang gesagt.“ Der Begriff „Versuchskaninchen“ fällt häufiger in unserem Gespräch. Ausbilderin Christine Vogler dagegen ist eine entschiedene Verfechterin der Generalistik, die auch in anderen Ländern die Pflegeausbildung prägt: Die Auszubildenden könnten auf diese Weise in der Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege Erfahrungen sammeln.

Wenn Miran zum Dienst erscheint, muss er sich umkleiden. Seine Dienstkleidung ist blau, wie die der Pflegehelfer:innen. Die Examinierten tragen Rot und die Ärzte selbstverständlich Weiß. „Die verschiedenen Berufsgruppen sind hier schon äußerlich voneinander abgegrenzt“, sagt er. Bei Lisa in der Charité dagegen tragen alle Pflegekräfte blaue Kittel, was allerdings auch nicht unbedingt zu weniger Hierarchiedenken führt.

Fotos: Patricia Kühfuss

Lisa und Miran berichten beide ausführlich über den „Praxisschock“, den Auszubildende erleben, wenn sie auf die Station kommen. „Oft sitzt man als 19-Jährige am Bett einer Patientin, die die eigene Mutter sein könnte. Ihr wurde gerade die Brust amputiert, und man soll beraten. Oder bei einem Sterbenden, und man ist hilflos, weil man nichts von ihm weiß. Mit dem Tod konfrontiert zu sein oder mit Menschen mit Demenz ist herausfordernd. Man fühlt sich total alleine.“

Miran bricht fast zusammen

Auch Miran erzählt von der Angst, die ihn auf der Station begleitet. „Ich wurde von Anfang an fest ins Team eingebunden und hatte nicht, wie beim FSJ, Zeit, mir das einfach mal anzuschauen. Man übernimmt morgens Patienten, wäscht sie, misst die Vitalzeichen, ist Teil des Stationsalltags – wie eine volle Kraft.“

Er erinnert sich an einen Tag, wo er einer Pflegekraft zugeteilt war, die länger nicht im Krankenhaus gearbeitet hatte. Sie waren für 15 Patient:innen verantwortlich. Ihm fiel auf, dass sie nicht richtig wusste, was sie tun sollte: „Ich hatte das Gefühl, ich sei derjenige, der hier am meisten Ahnung hat. Irgendwann stand ich auf der Station, mir war ganz schwindlig, weil ich bis 13 Uhr nichts gegessen hatte. So was kommt öfters vor, dass man denkt, ich fange gleich an zu weinen oder breche einfach zusammen.“ Selten gibt es in der Hektik und bei der Arbeitsüberlastung die Möglichkeit, mit erfahreneren Kolleg:innen darüber zu sprechen. Vom Gefühl, überall nur als „Lückenfüller“ zu fungieren und gleichzeitig völlig überfordert zu sein, sprechen beide Auszubildenden. „Man verheizt die Leute“, so drastisch sieht es Lisa.

Auch die Ausbildungsleiterin Vogler ist sich bewusst, welche Herausforderungen der Stationsalltag für die Pflegeschüler:innen bereithält: „Die Macht der Praxis ist viel stärker als in anderen Berufen. Alleine schon die Situation, dass die jungen Leute sehr eng und körpernah mit alten Menschen in Kontakt kommen, birgt Probleme und muss verarbeitet werden. Oder es stirbt ein Patient, blutet und ringt um Luft. Solche Momente sind intensiv und prägen die kommenden Wochen, das muss man irgendwie loswerden.“ Vogler fordert deshalb seit Jahren eine Sozialbegleitung, wie sie in anderen Ländern üblich ist. „Es ist erstaunlich, dass die Gesellschaft glaubt, solche Erfahrungen ließen sich einfach wegstecken.“

An der Begleitung und Anleitung der Auszubildenden hakt es ohnehin. Zwar gilt seit 1. Januar 2020, dass zehn Prozent mehr für die Praxisanleitung bezahlt werden, aber wenn Stationen chronisch unterbesetzt sind, nützt das nicht viel. Besonders Miran kann sich erregen, wenn er auf das Thema zu sprechen kommt: „Es werden dann stationsexterne Seminare angeboten, bei denen man uns etwas über ein bestimmtes Thema beibringt. Auf den Stationen bleibt es be einem zwanzigminütigen Einführungsgespräch und man wird, wenn man Glück hat, einem Praxisanleiter zugeteilt, der speziell dafür ausgebildet ist. Sonst rennt man denen hinterher, weil auch wir die zehn Prozent dokumentieren müssen.“ Die Auszubildenden sind sich einig, dass die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten nur Sinn ergibt, wenn mehr Praxisanleiter:innen zur Verfügung stehen.

Corona dramatisiert die Situation auch für die Azubis

Das sieht Christine Vogler, die auch Präsidentin des Deutschen Pflegerats ist, ähnlich. Der größte Fehler der vergangenen Jahre sei gewesen, die „Massenausbildung“ anzuschieben und nicht dafür zu sorgen, dass die jungen Leute geschützt in den Beruf gehen.

Mit Corona hat sich die Situation auch für die Pflegeschüler:innen dramatisiert. Lisa erzählt von einem Erlebnis zwei Wochen nach Ausbruch der Pandemie. Das Team hätte heulend auf dem Gang gesessen. Auf einem Nicht-Covid-Zimmer sei ein Patient mehr oder weniger unbemerkt verstorben, weil die Kolleg:innen gar nicht aus dem Infektionszimmer rauskonnten. „Ich war die Einzige, die da war, und ich stand alleine bei dem Sterbenden, wie alle anderen völlig überarbeitet. Da macht man alles nur noch intuitiv und denkt, das kann doch nicht sein. Wir haben uns in Europas größter Uni-Klinik gefühlt wie an der Front.“

Fotos: Patricia Kühfuss

Dass in dieser angespannten Situation zwischendurch auch Patient:innen ausflippen und gewalttätig werden, kann sie verstehen: „Wenn man zehn Stunden mit Schmerzen unbeobachtet auf der Rettungsstelle liegt, kommen Aggressionen auf, und die werden vor allem an Frauen weitergegeben.“ Da wird schon einmal geschlagen oder es fliegt eine Flasche durch die Rettungsstelle. Lisa engagiert sich deshalb stark dafür, dass die Gewalt gegen die Pflegenden nicht mehr heruntergespielt wird.

Auch Miran berichtet vom zusätzlichen physischen und psychischen Druck durch die Corona-Pandemie, dass es anfangs zu wenig Schutzkleidung gab, von seiner Angst vor Ansteckung, die auch die Beziehungen im privaten Umfeld belastete, das zeitfressende Wechseln der Kleidung. Manche Patient:innen hätten sich auch einfach nicht an die Schutzmaßnahmen gehalten. Wenn Kolleg:innenen kündigten, kamen neue – wie die erwähnte, nicht eingearbeitete Pflegekraft aus dem Altenheim – dazu, was die Arbeit nicht einfacher machte. „Wir hatten einmal einen postoperativen Patienten, bei dem alle zwei Tage ein Verbandwechsel fällig gewesen wäre. Wir sind den ganzen Morgen rumgerannt und rumgerannt und haben bei Schichtwechsel gemerkt, dass wir ihn vergessen haben. Wir sind nach der Übergabe noch schnell rein, um das zu machen. Aber das geht doch nicht.“ Ich kann mir den nicht sehr großen quirligen jungen Mann gut vorstellen, wie er durch die Station saust und, wo es nottut, Feuer löscht.

Sein „Das geht doch nicht“ ist häufiger Begleiter, wenn die Auszubildenden auf die Diskrepanz, die zwischen dem, was sie in der Schule lernen, und dem, was sie im Stationsalltag vorfinden, zu sprechen kommen. Miran frustriert es, dass er vom Praxisstandard nur einen Bruchteil realisieren kann. „Man kann Patienten beispielsweise mit Basaltechniken, Massagen oder Ölen, beruhigen oder ihre Körperwahrnehmung stärken. Es gibt auch stimulierende Verfahren, wenn etwa die Wassertemperatur etwas abgesenkt wird oder man mit dem Waschlappen gegen die Haarwuchsrichtung wäscht. Prophylaktisch kann man auch Eukalyptusöl nutzen, um die Atmung zu erleichtern.“

Die Krankenhausbewegung

Im Altersheim hat Miran erlebt, dass völlig veraltete Pflegemaßnahmen – etwa Eiswürfel auf den Rücken der Bewohner:innen zu geben und sie dann zu föhnen, um die Haut dicker zu machen – angewandt wurden. Überhaupt hat er die Einsätze im Heim aufgrund von Personalmangel und Stress als besonders belastend erlebt. Für Miran ist die Arbeit dort keine Perspektive.

Auch Lisa hat die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit kennengelernt: „Bei uns allen herrscht das Gefühl vor, dass man sich und andere gefährdet und keinen Tag mit einem guten Gefühl nach Hause geht. Es bleibt immer die Frage, habe ich genug getan, konnte ich mir selber, konnte ich anderen gerecht werden.“

Ebendieses Gefühl des Nichtgenügens lässt viele Pflegekräfte verzweifeln. Sie wissen sich nur zu helfen, indem sie den Beruf verlassen oder Stunden reduzieren. Für eine gerade vor Kurzem von der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte Studie wurden Aussteiger:innen und Teilzeitbeschäftigte danach gefragt, ob und unter welchen Bedingungen sie in den Beruf zurückkehren oder, wenn sie Teilzeit arbeiten, ihre Stunden aufstocken würden. Mehr als 88 Prozent der Berufsflüchtenden schließen eine Rückkehr nicht aus, ein Fünftel hält das sogar für wahrscheinlich. 70 Prozent der Teilzeitkräfte könnten sich eine Erhöhung der Stundenzahl vorstellen, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern, das heißt, mehr Zeit für die Pflege, eine wertschätzende Führungsstruktur, bedarfsorientierte Personalbemessung und bessere Bezahlung gegeben wären.

Die Studienleiter:innen haben errechnet, dass bei einer Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit um zehn Stunden für die Krankenhäuser zwischen 20.000 und 43.000 Vollzeitstellen ausgeschöpft werden könnten. In der Langzeitpflege wären es bis zu 35.000 Vollzeitstellen. Durch eine Rückkehr ausgestiegener Pflegekräfte könnten rechnerisch zwischen 262.000 bis zu 583.000 Vollzeitkräfte gewonnen werden. Diese Zahlen belegen, dass selbst Berufsflüchtende eigentlich gerne in ihrem Beruf arbeiten würden – wenn sich die Arbeitsbedingungen ändern.

Fotos: Patricia Kühfuss

Auch Lisa und Miran kommen immer wieder auf die positiven Seiten ihres Berufs zurück, der ihnen viel Befriedigung gibt. Die Pandemie, erzählt Lisa, habe das Personal sehr zusammengeschweißt, das sei eine gute Erfahrung gewesen. „Wenn man es schafft“, sagt Lisa, „mit beängstigenden Situationen fertigzuwerden oder mal ein Fußbad oder Ähnliches anzubieten, das sind schöne Momente. Auf der Intensivstation habe ich gesehen, wie selbstständig und hierarchiefrei man dort arbeiten kann.“ Dort sieht sich Lisa auch, wenn sie demnächst als Examinierte in den Beruf einsteigen wird.

„Es sind oft die kleinen Gesten der Patienten“, meint Miran, „die den Beruf schön machen.“ Aber beide sind davon überzeugt, dass es eben nicht nur „das Lächeln am Ende des Tages“ sein kann, für das man diesen Beruf ausübt.

Viel Kraft und Hoffnung ziehen Lisa und Miran aus der Krankenhausbewegung. „Wenn man sieht, dass die Leute aus der Reinigungs- und Wäscheabteilung sich plötzlich trauen, für sich einzustehen, das macht Mut“, erzählt Lisa. Miran hat sich als Delegierter aufstellen lassen und die Themen, die in seinem Kurs brennen, in den Forderungskatalog eingebracht. Viele Auszubildende trauen sich nicht, sich zu engagieren, denn der Druck ist groß. Ihnen wurde mit zu hohen Fehlzeiten gedroht, wenn sie mitstreiken, und Auszubildenden generell das Streikrecht abgesprochen. Dazu kam bei vielen der Examensstress.

Einstiegsgehalt 4.000, bitte

Auf meine Frage, wo sie sich in 20 Jahren sehen, sagen beide, dass sie gerne an ihrem Beruf festhalten würden: „Ich bleib so lange im Beruf, wie es eben geht“, sagt Miran. „Vielleicht nicht im Krankenhaus, sondern doch lieber im ambulanten Dienst, wo ich selbstverantwortlicher arbeiten kann.“

Lisa hofft auf Veränderung und bessere Arbeitsbedingungen, dazu gehört auch, dass Beruf und Familie leichter zu vereinbaren sind. „Wenn man im Freundeskreis beobachtet, dass man als junge Person am wenigsten Freizeit hat, am wenigsten Geld und dann noch die Stunden reduzieren muss, wenn wir langfristig im Beruf sein wollen, das macht keinen Spaß.“ Deshalb fordert der Deutsche Pfegerat 4.000 Euro monatlich als Einstiegsgehalt.

„Es macht mich betroffen“, sagt Lisa, „dass uns ständig gesagt wird, es sei kein Geld da, selbst um die Corona-Prämien mussten wir kämpfen. Aber für das Sondervermögen der Bundeswehr wird es plötzlich lockergemacht.“

Auf die offizielle Politik geben Lisa und Miran wenig. Es sei auch in Berlin nie darum gegangen, wirklich mit den Streikenden darüber zu diskutieren, was notwendig wäre, und zusammen zu entscheiden. „Die Pflegekräfte brauchen viel mehr Gehör“, sagt der politisch sehr engagierte Miran, der nach wie vor in der Krankanhausbewegung aktiv ist. Und endlich eine Vertretung in den Selbstverwaltungsorganen, ergänzt Vogler, die es erregt, dass während der Pandemie die Expertise von 1,4 Millionen Pflegekräften einfach ignoriert worden ist. Dabei setzt sie ihre Hoffnungen gerade auf die jungen Leute, die noch nicht so in den Hierarchien eingebundenen sind. Und die wie Lisa beim Kickboxen gelernt haben, dass es gesünder ist, zusammen zu fighten.

Lisa hat ihr Examen mittlerweile absolviert und eine Zeit lang die Streikenden in Nordrhein-Westfalen unterstützt. Jetzt freut sie sich darauf, endlich richtig in den Beruf, den sie liebt, einzusteigen.

* Name geändert

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