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Paul Mason | Wer die Freiheit fürchtet


Link [2022-06-11 15:17:24]



Warum mein Buch „Faschismus. Und wie wir ihn stoppen“ aktueller denn je ist – und wo jetzt noch Handlungsspielraum bleibt

Das Wort „Putin“ taucht im Stichwortverzeichnis meines Buchs Faschismus. Und wie man ihn stoppt nicht auf. Als ich im Dezember 2019 meinem Verlag die Idee dafür unterbreitete, konzentrierte ich mich auf das Phänomen rechtsextremer Bewegungen in demokratischen Staaten, nicht auf bereits etablierte Diktatoren.

In den USA wuchs und radikalisierte sich damals die Massenbewegung um Trump. Als ich Anfang 2020 mit dem Schreiben begann, begingen Rechtsextreme von Brasilien bis Neu Delhi symbolische Gewalttaten, die sich zur neuen Erzählweise des Faschismus entwickelten. Ende November 2020 war das Buch so gut wie fertig. Nun musste ich nur noch Trumps finalen Schritt abwarten – einen Putsch am Wahltag oder einen Putsch danach.

Als die Proud Boys und die Oathkeepers-Miliz am 6. Januar das Kapitol stürmten, taten viele Linke das als bedeutungslosen Stunt ab. Ich aber wusste genug über den modernen Faschismus, um zu wissen, dass es ein realer Putschversuch war. Hier manifestierte sich Hannah Arendts „Bündnis zwischen Elite und Mob“.

Als mein Buch erschien, weigerten sich einige britische Zeitungen, es zu besprechen. „Was soll das noch, jetzt, wo Trump weg ist“, sagte ein renommierter Kritiker. Nun, das ist der Punkt: Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Wladimir Putins erklärtes Ziel ist es, die Ukraine als souveränen Staat von der Landkarte zu tilgen; ihre Sprache und Kultur zu vernichten. Ich habe den Zeitpunkt von Putins Überfall nicht vorhergesehen, trotzdem gebe ich Lesern meines Buchs eine Handreichung, um die Logik dahinter zu verstehen. Putin selbst erwähne ich nicht, aber ich widme viele Seiten den Ideen seines philosophischen Gurus, Alexander Dugin.

Dugin will einen globalen, ethnischen Bürgerkrieg, der das Ende der Moderne bedeutet. Damit meint er alles seit Galileo. Das Ergebnis sollen gigantische, ethnisch gesäuberte monokulturelle Staaten sein, die sich vom Kapitalismus zurück zu einer Art Feudalismus entwickeln, ja vielleicht sogar zu einer Jäger- und Sammlergesellschaft. Für Dugin sollte ganz Eurasien von Moskau aus regiert werden; für seine ideologischen Vettern, die Identitäre Bewegung in Österreich, wäre das Ideal ein weißes, christliches Europa mit der EU als Zentrum.

Spiel unter drei Großmächten

Trumps Anhänger verfolgen jetzt das Ziel, die Exekutive in den Bundesstaaten mit Politikern zu besetzen, die Bidens Wahlsieg leugnen und ihre Befugnisse bei der Präsidentschaftswahl 2024 nutzen werden, um Trump oder einem rechtsextremen Nachfolger den Wahlsieg zu sichern. Dem States United Democracy Center zufolge kandidieren solche Politiker derzeit in 24 Bundesstaaten für den Gouverneursposten; in 18 für Ministerposten und in 14 als Generalstaatsanwalt. Egal, ob Biden oder ein Nachfolger die Wahl 2024 gewinnt oder verliert: Sie werden versuchen, Trump zu ernennen. Und Trump wird der amerikanischen Demokratie und der Widerstandsfähigkeit der Ukraine zeitgleich ein Ende setzen.

Man muss kein Hellseher sein, um das kommen zu sehen. Es steht in jeder Handlung des Kremls und jeder Handlung der Trump-Kamarilla in der republikanischen Partei geschrieben.

Während des Überfalls auf die Ukraine sahen viele Parallelen zu 1939-1941 – die Landnahme, rassistische Kriegsführung, das Ausmaß der Lügen. Wenn wir Pech haben, könnte das, was droht, diese Katastrophe noch übertreffen.

Denn Putin geht es nicht nur darum, die Ukraine zu erobern. Er will die Einheit der Nato zerstören, die EU ins Abseits stellen, die UN auf den Status eines Zuschauers reduzieren und den Amtsinhaber im Weißen Haus dazu zwingen, in ein dreiseitiges Spiel unter Großmächten mit Moskau und Peking einzutreten.

Und in diesem Spiel wird Putin dank der extremen Radikalisierung der konservativen Basis in Amerika die Möglichkeit haben, alle vier Jahre seinen eigenen Stellvertreter ins Weiße Haus zu bringen.

Ich schrieb mein Buch auch aus Frustration darüber, wie theoriearm viele aktive Antifaschisten sind und wie naiv viele Liberale. Eines Nachts verfolgte ich, wie britische und amerikanische Antifa-Aktivisten auf Twitter einen langen Thread rivalisierender Faschismus-„Definitionen“ erstellten. Mich irritierte ihre Unterwürfigkeit gegenüber längst verstorbenen Akademikern und der Weberschen Tradition des „Idealtypus“. Ich wollte ihnen sagen: Definitionen sind keine Erklärungen. Die meisten Definitionen des Faschismus, die von Historikern, Soziologen und Politikwissenschaftlern in den vergangenen 30 Jahren vorgelegt wurden, waren Forschungshypothesen, keine Leitlinien für politisches Handeln.

Ich ließ mich stattdessen von Theodor Geigers Artikel Panik im Mittelstand inspirieren. Obwohl Geiger irrte, was die Entwicklung der Mittelschicht in der Weimarer Republik betraf, und später seine eigenen Fehler korrigierte, ist der Titel der Zeitschrift wichtig, für die er schrieb: Die Arbeit. Es war das theoretische Organ einer Gewerkschaft – ein Konzept, das heute bizarr erscheint. Doch für die Arbeiterbewegung wie auch für die antifaschistischen Bewegungen ist entscheidend, dass sie sich die Theorie zu eigen machen und sich dabei nicht von längst widerlegten Akademikern leiten lassen.

Wie Antonio Gramsci 1921 sehe ich den Faschismus nicht einfach als Resultat einer Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit oder des „Versagens der Linken“. Er ist das Resultat „elementarer Kräfte“ – eines Prozesses der gesellschaftlichen und moralischen Zersetzung. Ein Damm, der über Gesellschaften bricht, die unter Stress stehen. Diesen Zerfallsprozess müssen wir studieren – und nicht nur die faschistischen Bewegungen. Indem wir ihn umkehren, können wir den Vorstoß rechtsextremen Denkens umkehren.

Der Faschismus ist aufgrund von fünf Problemen zurück: Die Finanzkrise von 2008; der Verfall demokratischer Werte – und ihre Nichtexistenz in vielen Gesellschaften, die jüngst einen Wirtschaftsboom erlebten; das Machtgefälle zwischen den Eigentümern und Nutzern der IT-Plattformen; der Klimawandel und schließlich Covid. Zwischen diesen Krisen besteht ein Synergie-Effekt. Wir sahen es während der Pandemie. In Großbritannien kamen die Lockdown-, Masken- und Impfgegner aus den entlegensten Winkeln der Gesellschaft: nicht unbedingt arme, aber sehr gewöhnliche Leute. Während sie sich in der einen Ecke des Trafalgar Square versammelten, formierten sich in der anderen die hartgesottenen Kader der britischen Faschisten. In einer dritten standen diejenigen, die an Q-Anon glauben, und die Anhänger von David Icke, der predigt, dass die globale Elite Echsen aus dem All sind. Auf den ersten Blick schien diese Zusammenkunft Comedy-Stoff zu bieten. Aber tatsächlich schlossen sie sich zu einer Bewegung zusammen, die zeitweise bereit war, die Gebäude wichtiger Rundfunkanstalten zu stürmen und gewählte Politiker durch Westminster zu jagen. Dass sie wieder verschwunden ist, heißt nicht, dass diese Gedanken aus den Köpfen der Menschen verschwunden sind.

Was Arendt beobachtete

Wir erleben eine moderne Variante dessen, was Arendt in der späten Weimarer Republik beobachtete. Ihre Beschreibung der rechten Massenpsychologie passt perfekt auf die Denkweise jener, die heute mobilisiert werden: „Sie glauben an nichts Sichtbares, nicht an die Realität ihrer eigenen Erfahrung, sie trauen nicht ihren Augen und Ohren, sondern allein ihren Phantasien, die von allem beflügelt werden können, was zugleich universell und in sich stimmig ist.“

Arendt selbst lehnte es ab, dieses Phänomen auf eine soziale Ursache zurückzuführen. Wenn ich mich mit linken Aktivisten unterhalte, haben sie eine einfache Erklärung für den Faschismus, die aus der Komintern-Ära stammt: Er ist der Kampfhund der Finanzbourgeoisie gegen eine drohende proletarische Revolution. Er speist sich aus der Vereinzelung der Mittelklasse. Er kann aufgehalten werden durch eine Kombination aus Protest und Gegenpolitik – das Angebot einer ähnlich radikalen Lösung, die auf sozialer Gerechtigkeit, Enteignung und antirassistischer Solidarität basiert. Nur ist das längst nicht die ganze Geschichte. Was Wilhelm Reich und Erich Fromm der linken Theorie des Faschismus am Ende der Weimarer Republik hinzufügten und was Gramsci in seiner Gefängniszelle verstand: Die Wurzeln des Faschismus liegen tiefer als der Kapitalismus.

Man muss kein Freudianer sein noch der Theorie des „autoritär-rebellischen“ Charakters zustimmen, um Reichs Grundidee zu akzeptieren: Die Menschheit, die sich auf dem Weg zur Freiheit befindet, ist auch darauf programmiert, die Freiheit zu fürchten. Und am meisten fürchtet sie, wer am meisten zu verlieren hat: Wer an der Spitze einer etablierten rassistischen Hierarchie steht; Männer, die männliche Dominanz schätzen und Frauen hassen und so weiter.

Beim Aufstieg der neuen rechtsextremen Bewegung in den USA sah ich Reichs „Angst vor der Freiheit“ in Aktion. Aus meiner Sicht ist Faschismus die Angst vor der Freiheit, die durch einen Vorgeschmack auf die Freiheit ausgelöst wurde: Er mobilisiert Menschen, die nicht frei sein wollen, für das Projekt der Zerstörung der Freiheit. Er ist, wie der italienische Philosoph Enzo Traverso sagt, „eine Revolution gegen die Revolution“.

Wie wir dieses neue Phänomen bekämpfen können, ist leicht zu sagen und schwer umzusetzen. Wir brauchen eine Allianz der Mitte und der Linken, die die Antagonismen der 2010er-Jahre hinter sich lässt, um nicht nur die Demokratie, sondern die Moderne und die Aufklärung zu verteidigen. Wir müssen den Staat dafür nutzen – so riskant das ist, wenn der Staatsapparat auch rechtsextreme Individuen und Netzwerke beherbergt –, um das zu verwirklichen, was der Jurist Karl Loewenstein eine „wehrhafte Demokratie“ nennt. Leider ist das in der fragilsten Demokratie der Welt – den USA – verfassungsrechtlich unmöglich. Schließlich benötigen wir ein stolzes antifaschistisches Ethos: einen kulturellen Geist, der unsere Gesellschaft zu aktiver Selbstverteidigung anspornt.

Ist das möglich in einer Welt, in der auf jeden jungen Klimaaktivisten drei Luftikusse kommen, die auf Instagram ihre Muskeln oder Make-up vorführen?

Ich denke, ja. Denn es ist die am besten ausgebildete Generation, die es je gab. Und auch wenn die im 20. Jahrhundert gepflegte Kultur des Kollektivs und der Solidarität im 21. im Sterben liegt, will selbst das atomisierteste Individuum nicht in einem Konzentrationslager enden.

Sowohl Putin als auch Trump haben sich im Amt von 2018 an radikalisiert. Ihre Fantasien haben sich zu Plänen verdichtet. Ich zweifle nicht, dass eine ähnliche Radikalisierung hinter verschlossenen Türen in Peking stattgefunden hat, wie die Beispiele aus Xinjiang und Hongkong zeigen.

Ich glaube, mein Buch Faschismus. Und wie man ihn stoppt enthält die Grundlage für eine aktivistische Theorie und einen Aktionsplan, um Angriffe auf die westliche Demokratie durch rechte Bewegungen zu stoppen. Für meine ukrainischen Kameraden ist das leider nicht mehr das größte Problem. Meine linken Freunde, mit denen ich zwei Abende vor dem russischen Überfall Pizza und Seven-Up in einem heruntergekommenen „Sozialen Zentrum“ in Kiew teilte, sind jetzt im Krieg. Einer schickte mir ein Foto der schwersten Waffe seiner Einheit: Ein Maxim-Maschinengewehr von 1944. Sie brauchen Waffen, keine Theorien.

Putin, Trump und Xi sind isolierte, narzisstische alte Männer mit einer Todessehnsucht für die ganze Welt. Zum Glück sehnen sich Millionen von uns nach dem Leben. Und keiner fragt jetzt mehr, was ein Buch soll, in dem es ums Überleben geht.

Paul Masons Buch Faschismus. Und wie man ihn stoppt erschien im April im Suhrkamp Verlag

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