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Pandemie | So wächst das Misstrauen


Link [2022-01-22 19:40:09]



In der Pandemie profitieren die Reichen und multinationale Konzerne. Denn Rücksicht gibt es für die Wirtschaft, nicht aber für die Menschen. Das hat fatale Folgen

Rund 30 Prozent der Bevölkerung haben noch Vertrauen in die Parteien Deutschlands, so gibt es der „Standard Eurobarometer“ der Europäischen Kommission 2021 an. 66 Prozent haben also keins. Vielleicht wurde deshalb ein Bundeswehr-General zum Leiter des Corona-Krisenstabs der Bundesregierung gemacht. Das funktioniert in Katastrophenfilmen ja auch immer. Tatsächlich stehen die Chancen gut, dass General Breuer es besser hinbekommt. Der Umkehrschluss dieser Vermutung legt Verzweiflung nahe.

2G plus für Gaststätten steht stellvertretend für diese Verzweiflung und ist nur ein Beispiel von vielen. Nach einem weiteren Sommer, in dem es zwar Wahlkampf gab, aber wieder nur kaum messbare Maßnahmen ergriffen wurden, die auf die nächste Pandemiewelle vorbereiten, werden erneut Beschlüsse gefasst, die auf wenig Erlerntes hinweisen. Die Gastronomiebranche soll als Druckmittel dafür herhalten, dass die Menschen sich eine dritte Impfung abholen. In der Pflegebranche wird an Ausgewählte eine Einmalprämie gezahlt. Statt fundamentaler Aufwertung ihrer lebenswichtigen Arbeit durch Entlastung der Arbeitenden, durch höhere Löhne, Maßnahmen zum Umbau des Gesundheits- und Pflegesystems, weg von profitgetriebenem Agieren und hin zur Daseinsvorsorge. Eine Einmalbestechung sozusagen.

Bleib in deiner Bruchbude!

Im November vergangenen Jahres nannte eine Studie Zahlen dazu, wie hoch die Milliardengewinne großer Konzerne sind, die an der Pandemie verdienen. Erstellt wurde sie von der Prager Karls-Universität im Auftrag der Linksfraktion im EU-Parlament: Außerordentliche Gewinne multinationaler Konzerne in Höhe von 360 Milliarden Euro, Pandemieprofite von rund 100 Milliarden Euro. 1.763 internationale Unternehmen konnten sich über die Auswirkungen der weltumspannenden Katastrophe freuen, so die Studie. Gleichzeitig kündigen hierzulande Kommunen an, ihre Finanznot nehme in der Pandemie so stark zu, dass sie die Kosten für Wasserversorgung und Müllabfuhr anheben, örtliche Schwimmbäder schließen, andere freiwillige kommunale Leistungen kürzen müssen. Die Politik (die neue Koalition hätte noch die Chance, unter Beweis zu stellen, dass sie es anders kann) hat nicht einmal im Ansatz einen fairen Lastenausgleich geschafft. Und zugleich ständig eingefordert, man möge ihr vertrauen.

Anfang dieses Jahres erbrachte eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass der Anteil der Geringverdienenden unter den Vollzeitbeschäftigten 2020 bei rund 18,7 Prozent gelegen habe. Geringverdienend ist, wer weniger als zwei Drittel des mittleren monatlichen Bruttolohns aller sozialversicherungspflichtig Vollbeschäftigten erhält. Seit zwei Jahren wird diesen Menschen und all jenen, die aufgrund von ALG-II-Armut und anderen prekären Lebensverhältnissen schlimme Mühen haben, in allen Tonlagen gepredigt, sie sollten sich verantwortlich verhalten, Distanz einhalten, um die Verbreitung des Virus zu vermeiden. Egal, wie klein die Bruchbude ist, in der sie leben. Wer gleichzeitig erwartet, dass diese Menschen tatsächlich Vertrauen in die Politik haben, ist mindestens ein sehr optimistischer Mensch.

Krankes System

Pflege bringt keinen Profit – auf den wurden Kliniken vor 20 Jahren aber ausgerichtet. Eine ungesunde Geschichte

2003/04: Einführung des Systems der Fallpauschalen

Während bisher Festbeträge pro Bett und Tag bezahlt wurden, werden Diagnosen und Behandlungsprozeduren nun in „Fallgruppen“ gruppiert und pauschal vergütet. Die Folge: Reduzierung der Verweildauer in den Betten, Erhöhung der Diagnose- und Fallzahlen, Anreize zum höheren Patienten-Umsatz. Ganzheitliche Pflege geht verloren zugunsten von Messbarmachung.

Im Vordergrund steht nun der Abbau von Pflegestellen: Personal wird outgesourct, es werden (auch trägereigene) Leiharbeitsfirmen gegründet, das bürokratische Controlling-System wird etabliert, Pflegekräfte wandern in das Controlling oder zum Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen ab.

2007 Umsätze der Klinikkonzerne

Helios (Fresenius): 1,84 Mrd. EuroAsklepios: 1,86 Mrd. EuroSana: 0,95 Mrd. EuroRhön-Klinikum: 2,02 Mrd. Euro

2014: Klagen gegen den Pflegenotstand vor dem Bundesverfassungsgericht

Kläger sehen Grundrechte verletzt:„Es ist das System, das eine menschenwürdige Pflege erschwert oder gar verhindert.“ Die Klage scheitert 2016.

2014 Umsätze der Klinikkonzerne

Helios (Fresenius): 5,24 Mrd. EuroAsklepios: 3,02 Mrd. EuroSana: 2,16 Mrd. EuroRhön-Klinikum: 1,51 Mrd. Euro

2016 Krankenhausstrukturgesetz

Änderung des Finanzierungsrechts: Druck auf kleinere Kliniken, sich zu spezialisieren oder zugunsten größerer Kliniken zu schließen. Pflegestellen-Programm zur Förderung von Neueinstellungen in der Pflege.

2016 Fresenius Helios avanciert zum größten Klinikkonzern Europas

2013 kaufte Fresenius Helios 40 Kliniken und 13 Versorgungszentren von Rhön. 2016 schluckt der Konzern Spaniens größte Krankenhausgruppe Quirónsalud mit über 35.000 Mitarbeiter*innen für 5,76 Milliarden Euro und wird damit zum größten privaten Klinikkonzern in Europa.

2017 Bundeskabinett beschließt schrittweise Einführung von Personaluntergrenzen

Nur Stationen in bestimmten pflegesensitiven Bereichen sollen bei Unterschreitung der Untergrenze geschlossen werden. Das Gesetz gilt erst ab dem Jahr 2019.

2017 Streiks für Entlastung

Pflegende in sechs Bundesländern streiken für eine Entlastung des Klinikpersonals. Neben Tarifverhandlungen fordern die Gewerkschaften verbindliche Personalvorgaben per Gesetz.

2017 Umsätze der Klinikkonzerne

Helios (Fresenius): 8,67 Mrd. EuroAsklepios: 3,26 Mrd. EuroSana: 2,57 Mrd. EuroRhön-Klinikum: 1,21 Mrd. Euro

2019 Pflegepersonal-Stärkungsgesetz

Kosten für das Pflegepersonal werden aus dem System der Fallpauschalen ausgegliedert. Die Vertragsparteien sollen sich auf ein individuelles Pflegebudget für die Kosten des Personals einigen.

2019 – 2023 Konzertierte Aktion Pflege

Der Bund will Verbesserungen bei Arbeitsbedingungenund Entlohnung erreichen und Personal aus dem Ausland rekrutieren.

2020 Umsätze der Klinikkonzerne Helios

(Fresenius): 9,82 Mrd. EuroAsklepios: 4,84 Mrd. EuroSana: 2,93 Mrd. EuroRhön-Klinikum: 1,36 Mrd. Euro

2021 Krankenhausbewegung Berlin

Nach monatelangen Verhandlungen und Streiks gibt es in Berlin ein Novum: Pflegepersonal muss freie Ausgleichstage erhalten, das ist nun festgeschrieben. Dem Berliner Konzern Vivantes fehlen jetzt 1.500 Pflegekräfte.

2021 Seniorenresidenz Schliersee muss schließen

Staatsanwaltschaften ermitteln wegen 88-facher Körperverletzung. 17 Menschen sollen gestorben, meist verhungert sein. Betreiber ist der international tätige italienische Konzern Sereni Orizzonti.

2022 Ampelkoalition will Pflegebonus von 3.000 Euro für Pflegekräfte

Die Ampel plant ein System erlösunabhängiger Vorhaltepauschalen für die Krankenhausfinanzierung. Der Bund will sich zudem an der Investitionsförderung der Krankenhäuser beteiligen. Auf dem Land sollen Kliniken und Ärzte besser zusammenarbeiten. Außerdem soll die Finanzierung bislang vernachlässigter Bereiche, wie Geburtshilfe und Kindermedizin, angepasst werden.

Recherche: Melanie Klimmer

Vielleicht ist das Ende der Sackgasse erreicht. Denn den Worten fehlt die Glaubwürdigkeit. Vor allem fehlt dem, was gesagt und verkündet wird, eine nachvollziehbare Kontinuität, stellt man sich Politik einmal als Aneinanderreihung von Handlungen und Entscheidungen auf einem Zeitstrahl vor. Zwei Jahre Pandemie könnte der umfassen. Oder: die vergangenen 20 Jahre bundesdeutscher Gesundheitspolitik.

Das Wissen um Realitäten mache zum Realisten, schrieb der Soziologe Pierre Bourdieu, als er sich mit dem Wortmonopol befasste: „Das Bewußtsein der Willkür dieses mit dem Erteilen des Worts gegebenen Zwangsverhältnisses ist heute nötiger denn je, beim Inhaber des Wortmonopols so gut wie bei denjenigen, die ihm unterliegen.“ Wer gewählt ist, hat vier Jahre lang das Wort. Damit wird allzu viel Schindluder getrieben. Selbst die kühnsten Kehrtwenden bedürfen kaum einer Erklärung und schon gar nicht einer Entschuldigung.

Wenn jene, die in den vergangenen Jahren das Zepter in der Hand hatten, heute daherreden, was die nun Regierenden anstelle dessen, was gerade getan wird, tun müssten, wird nur selten nachgefragt, warum sie das, was sie jetzt vorschlagen, nicht getan haben, als sie es hätten tun können.

Aus ökonomischer Sicht war es nachvollziehbar, dass vor Weihnachten trotz steigender Zahlen sowie einer neuen Virusvariante kein Lockdown verfügt wurde. Ein Sieg der Warengesellschaft über die soziale Gesellschaft. So wie sich nun mit ökonomischen Argumenten erklären lässt, dass die Quarantänezeit verkürzt wird. Die schöne Begründung, dass es vor allem darum gehe, die sogenannte kritische Infrastruktur nicht durch erhebliche Personalausfälle zu gefährden, ließe die Frage genehm sein, warum diese kritische Infrastruktur denn in weiten Teilen so anfällig ist. Kann es sein, dass man sich um sie zu wenig gekümmert hat? Ist es möglich, dass spätestens die Pandemie genügend Argumente dafür liefert, eine Versorgung der Bevölkerungen mit notwendigen Impfstoffen und ausreichender medizinischer Versorgung nicht in den Händen privat organisierter Unternehmen zu belassen?

Auf der anderen Seite steht die Frage: Auf welcher Grundlage hätte die Politik das denn tun sollen? Dafür müsste sie sich doch erst einmal, soweit es im Rahmen des Bestehenden möglich ist, vom Diktat des Kapitals emanzipieren.

Ein wenig kühn ließe sich die These aufstellen, dass gegenwärtig diejenigen, die dem Wortmonopol der Entscheider*innen ausgesetzt sind, sich der in einer repräsentativen Demokratie damit notwendigerweise einhergehenden Ent-Mündigung weitaus mehr bewusst sind als jene, denen die Macht und die gewählte Verantwortung zukommen, jeden Tag zu entscheiden und dann zu erklären, wie es weitergeht.

Gleichzeitig ist niemand aus der Verantwortung und Kritik zu nehmen, zieht er oder sie aus alldem den Schluss, dass es an der Zeit sei, den allergrößten Unsinn, die gruseligsten Verschwörungstheorien mit roher Gewalt und gewaltiger Rücksichtslosigkeit zu demonstrieren.

Es stellt sich jedoch schon die Frage, welche Armutsrentnerin und welche Bedarfsgemeinschaft nun zu dem Ergebnis kommt, dass Boostern eine gute Idee ist, weil man sonst ja den Restaurantbesuch wird ausfallen lassen müssen. Und ob eine Impfpflicht, von der niemand sagen kann, ob die überhaupt durchzusetzen und organisatorisch zu bewältigen wäre, nicht ein gewaltiger Misstrauensantrag seitens der Politik an die Bevölkerung ist, nachdem es ihr wegen Unterlassungen, Fehlentscheidungen, mangelnder Transparenz, verwirrender Kleinstaaterei und hektisch-übertünchender Betriebsamkeit nicht gelungen ist, ausreichend Vertrauen aufzubauen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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