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Neutralität | Schweizer Ladehemmung: Keine Munition für die Ukraine


Link [2022-05-21 22:33:12]



Seit dem Wiener Kongress soll sich die Schweiz in keinem Konflikt auf eine Seite schlagen. Das sorgt aktuell für Spannungen. Wie kam es dazu?

Im Gegensatz zu Österreich, dem die Neutralität im Staatsvertrag von 1955 auf Druck der Sowjetunion förmlich aufgedrängt werden musste (der Freitag 18/2022), verdankt die Schweiz ihre Neutralität langwierigem Feilschen: beim Wiener Kongress 1814/15 ging es auch darum, dass sich keine der Großmächte einseitig – wie Frankreich von 1798 bis 1813 – mit dem Land verbündet. Das Resultat der Verhandlungen war das Versprechen der Großmächte und Signatarstaaten, die Neutralität der Schweiz „auf ewig anzuerkennen und zu garantieren“. Im Gegenzug verpflichtete sich die Schweiz, in künftigen Konflikten neutral zu bleiben.

Nicht einmischen – eine Mär

Die Legende, die Eidgenossenschaft habe sich bereits im Spätmittelalter nach der Niederlage in der Schlacht von Marignano 1515 zwischen Söldnern aus der Eidgenossenschaft zum einen auf der Seite Kaiser Maximilians und zum anderen auf der des französischen Königs Franz I. , für „neutral“ erklärt, also sich fortan nicht mehr in „fremde Händel einzumischen“, fand sich zwar bis weit ins 20. Jahrhundert in den Schulbüchern, war aber eine Erfindung des Zürcher Historikers Paul Schweizer aus dem 19. Jahrhundert. Dem Nimbus der Schweizer Neutralität konnte das nichts anhaben. Bis heute halten zwei Drittel bis drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer an Neutralität und Demokratie als Fundamenten des Landes fest. Zwar ist das Land faktisch ähnlich in die Nato-Welt eingebunden wie Österreich, aber ein Beitritt ist wie jener in die EU für einen überwiegenden Teil der Bevölkerung außerhalb jeder vorstellbaren Zukunft.

In der Realität ist das Bild der Schweizer Neutralität weniger rosig als in den Köpfen der meisten Eidgenossen: Bereits im Ersten Weltkrieg galt die politisch und moralisch zwiespältige Devise „Waffenexport und humanitäre Tradition“. Letztere hatte schon im 19. Jahrhundert Risse bekommen. Nach der Staatsgründung von 1848 begann eine landesweite Jagd auf „Radikale“ und betraf Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten und dezidierte Demokraten. Auf Export setzte die Schweiz bald im Ersten Weltkrieg – da der Munitionsbedarf rund um die Schweiz stieg, wollte die dortige Industrie nicht abseits stehen und lieferte allein 1917 für 300 Millionen Franken Munition und Munitionskomponenten in Nachbarländer – nach heutigem Wert wären das rund drei Milliarden Franken oder 13 Prozent des Gesamtexports. Gleichzeitig erfuhr die Aktivität des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) für Kriegsgefangene und Kriegsverletzte internationale Anerkennung. Eine Satirezeitschrift brachte die „neutrale“ Doppelmoral auf den Punkt, „einerseits tötet man sie, andererseits pflegt man sie“. Mit Hinweis auf die Arbeitsplätze rechtfertigte und tolerierte die Regierung die große Heuchelei. Der Genfer Autofabrikant Guillaume Pictet – Mitglied im IKRK – stellte die Produktion in seiner Fabrik 1917 entsprechend der Nachfrage um und produzierte pro Woche 200.000 Granatzünder für die englische Armee.

Lehren aus den Weltkriegen

Was die gegenwärtige eidgenössische Weigerung betrifft, Munition für deutsche Panzer in die Ukraine zu liefern, so steht die Schweiz auf rechtlich, politisch und moralisch sicherem Boden. 2008 wurde zwar die Volksinitiative „für ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten“ in einer Volksabstimmung abgelehnt. 2018 aber legte die Regierung ein verschärftes Kriegsmaterialgesetz vor, das eine Mehrheit des Parlaments annahm. Das revidierte Kriegsmaterialexportgesetz trat am 2. Mai 2022 in Kraft. Eine 1992 geschaffene Behörde, das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, ist für die Kontrolle wie Unterbindung des Transports von Kriegsmaterial wie für die Sanktionierung bei Zuwiderhandlung zuständig. Sie konnte gegen das Ersuchen der deutschen Bundesregierung, in der Schweiz gekaufte Munition in die Ukraine weiterzugeben, nur ihr Veto einlegen. Die heimische Waffenindustrie wurde für die rigorosen Exportbeschränkungen mit der Garantie von auf zehn Jahre befristeten Kompensationszahlungen entschädigt.

Die strikte Haltung der Schweiz ist eine historische Lehre aus ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg. In dessen Verlauf brachte sich das Land durch Waffen-, Gold- und Kunstgeschäfte mit Nazi-Deutschland nachhaltig in Misskredit. Vielen galt das „neutrale“ Land als skrupelloser Profiteur. Die 1996 von der Berner Regierung eingesetzte Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) hat in ihrem mehr als 500-seitigen Schlussbericht die zentralen Defizite der Schweizer Politik im Zweiten Weltkrieg exakt festgehalten: „Die Berufung auf die ‚Staatsraison‘, in deren Namen viele Maßnahmen gerechtfertigt wurden, war schon damals nicht angemessen.“ Die Anerkennung staatlicher moralischer Standards dürfe gerade in bedrohlichen und krisenhaften Phasen nicht aufgegeben werden. „Dazu gehört der J-Stempel 1938, die Ausweisung von Flüchtlingen in Todesgefahr, die Verweigerung eines diplomatischen Schutzes für eigene Bürger und Bürgerinnen, die großzügigen Kredite, die der Bund der ‚Achse‘ im Rahmen der Clearingabkommen gewährte, die zu lange dauernde Toleranz eines enormen Warentransfers durch die Alpen zugunsten Deutschlands, die Waffenlieferungen an den NS-Staat, die finanziellen Privilegien, die Deutschen wie Italienern geboten wurden, der anrüchige Handel mit Gold und gestohlenen Waren.“ Weiter ist von 11.000 Zwangsarbeitern in Filialen schweizerischer Gesellschaften im Dritten Reich und vom fehlenden Willen in Restitutionsverfahren die Rede. „All dies verstieß nicht nur oft genug gegen das formelle Recht, sondern auch gegen den ordre public, auf den man sich so häufig bezog.“

Die Gesetzesänderung zum Waffenexport ist ein Resultat dieser Vergangenheitsbewältigung. Es trifft jetzt die um ihre Existenz ringende und in Bedrängnis geratene Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angriffskrieg.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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