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Nachruf | U-Boot-Literatur


Link [2022-01-22 19:40:11]



Die Schriftstellerin Birgit Vanderbeke ist Ende Dezember im Alter von 65 Jahren in Südfrankreich gestorben. Götz Eisenberg mit einer persönlichen Erinnerung an sie

Als ich im Oktober 2015 nach einem längerer Aufenthalt in den Niederlanden an meinen Arbeitsplatz im Gefängnis zurückkehrte und mein Fach ausräumte, stieß ich neben vielen Arbeitsaufträgen auch auf ein Päckchen. Als Absender standen der Name Birgit Vanderbeke und eine Adresse in Frankreich. Ungläubig starrte ich auf den Umschlag und dachte: Es kann doch nicht sein, dass die berühmte Frau Vanderbeke dir schreibt? Tatsächlich, das Päckchen stammte von ihr. Drinnen lag ein Brief. Sie habe sich schon länger mit dem Gedanken getragen, mir zu schreiben und es nun endlich auch getan. Sie habe mein neues Buch gelesen, und sich darin sofort wie zu Hause gefühlt. Es habe ihr zugesagt und sie an vieles aus ihrer Vergangenheit erinnert.

Sie habe während ihres Studiums in Frankfurt und noch eine Weile darüber hinaus am Institut für Sozialforschung als eine Art von Sekretärin gearbeitet. Sie habe Zugang zum Archiv der Frankfurter Schule im Keller der Senckenberganlage gehabt und sich für Jahre dort regelrecht eingenistet. Mein Buch war für sie eine Rückkehr in diese für sie wohl recht glückliche Zeit, die voller Euphorie gewesen sei, die sich bei Erkenntnis stets einstelle.

Ganz ungetrübt war das Lob meines Buches dann doch nicht. Es stammte ja schließlich aus der Feder oder dem Laptop eines Mannes, und das schränkt die Perspektive mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ein. Irgendwann sagte sie im Brief, mein Buch gehöre zu einer Sorte Literatur, die sie an U-Boot-Filme erinnere. „U-Boot-Film sage ich zu allem, wo gar keine Frauen oder Frauen nur als Statisten drin vorkommen. Ich mag das Genre, aber meistens sage ich nach einem U-Boot-Erlebnis: Wahrscheinlich wär’s noch netter gewesen, wenn’s nicht in einem U-Boot gespielt hätte.“

Ich antwortete ihr, dass ich mit diesem Bild etwas anfangen und diese Kritik akzeptieren könne und müsse. Aber ich wisse auch nicht, wie ich das ändern solle. Sie hatte mir eines ihrer Bücher mitgeschickt, in dem eine Frau im Zentrum steht: Die Frau mit dem Hund. Dazu eine Rede, die sie vor Jahren in Kassel gehalten hatte, als ihr dort 2007 die Brüder-Grimm-Professur verliehen war.

Stramme Feministin

Ich kannte Birgit Vanderbeke, seit ihr Buch Das Muschelessen erschienen war. Mit Passagen aus diesem Buch hatte sie 1990 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Das Buch war im Thomas-Bernhard-Sound geschrieben und gefiel mir gut. Ich muss gestehen, dass ich sie in der Folgezeit etwas aus den Augen verlor. Sie genoss der Ruf, eine stramme Feministin zu sein, und das animierte mich nicht zur Lektüre ihrer nachfolgenden Romane. Das war halt „Frauen-Literatur“.

Das änderte sich erst, als ich durch Zufall in einer Marburger Buchhandlung auf ihr Buch Das lässt sich ändern stieß. Schon der Titel eine Kampfansage an die vermeintliche Alternativlosigkeit des Bestehenden und eine Ermunterung zur Wiederaneignung unserer Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die unter die Kontrolle von Staat und Profit gebracht worden sind. Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ist ja auch eine der Enteignung, nicht nur von den Mitteln der Produktion. Diese Geschichte setzt sich fort bis in die Gegenwart. Heute erfasst sie Bereiche, die bisher ausgespart und dem Kapital noch nicht reell subsumiert worden sind: Kochen, Ernährung, Gesundheit, Fitness, die Anbahnung von Beziehungen durch Dating-Agenturen, Kommunikation per Facebook, Twitter, Whatsapp. Adam, eine der Hauptfiguren des Romans, vollzieht diese Rückeroberung und Selbstermächtigung praktisch. Er war „schon immer draußen“ und zieht ein Leben im Abseits einer Existenz mit Normalarbeitstag und geregeltem Einkommen vor. Er bereitet auf, was andere wegwerfen, und repariert, was kaputtgegangen ist. „Adam fand immer etwas Vernünftiges, das er der Vergänglichkeit entreißen und in eine Zukunft mitnehmen musste, die seiner festen Überzeugung nach dem heillosen Wahnsinn geweiht und ein Desaster würde, weil sie uns bis dahin so weit hätten, dass wir zu blöd zum Kartoffelschälen wären und nicht mal mehr einen Knopf würden annähen können.“

Treue Stammleser

Als dieses Buch irgendwann im Ramsch auftauchte, kaufte ich einen ganzen Stapel und verschenkte es in meinem Bekanntenkreis. Es ist bis heute mein Lieblingsbuch von Birgit. Sie lebte in ihrem Französischen Wohnort auch danach und versuchte, dort eine Form der Subsistenzwirtschaft einzuführen. Sie hatte Kontakte zu Schäferinnen, lernte das Spinnen und Fermentieren von Lebensmitteln. Selbstverständlich backte sie ihr Brot und stellte sich ihre Kleidung selber her. Einmal in der Woche traf sie sich mit anderen Frauen aus dem Ort zu einem selbstorganisierten Strickkurs. Dennoch schrieb sie weiter und versuchte dadurch das zum Leben notwendige Geld für sich und ihre Familie zu beschaffen. Sie verfügte über einen relativ großen Stamm treuer Leserinnen und Leser, die ihre Bücher zuverlässig kauften und in der Regel auch lasen.

Ab 2016 erschienen im Piper-Verlag ihre autobiographisch gefärbten Romane Ich freue mich, dass ich geboren bin, Wer dann noch lachen kann und als Abschluss der Trilogie Alle, die vor uns da waren“ Von den ersten beiden Bänden, in denen sie von ihrer Familie und ihrer von Gewalterfahrungen geprägten Kindheit erzählt, war ich sehr beeindruckt. Der dritte Band, der gar nicht recht zur Trilogie passte, erzählt von dem Aufenthalt eines Paares in Heinrich Bölls Cottage in Irland. Eines Tages dringt Qualm durch die Türritzen von Bölls Arbeitszimmer. Die Besucherin wagt sich hinein und sieht den Böll in Zigarettenqualm eingehüllt hinter seinem Schreibtisch sitzen.

„Sie sind alle bei dir“, sagt Böll und zieht an seiner Zigarette, dass die Glut richtig rot hochglimmt, „alle, die vor dir da waren“. Dieser Satz spendete nicht nur den beiden Besuchern in Bölls Haus Trost, sondern auch mir in Zeiten, wo man sich als Linker etwas allein fühlt. Die Vorstellung der Anwesenheit all unserer literarischen und politischen Vorfahren gefiel mir gut. Dennoch war „Alle, die vor uns da waren“ für mich eher eine Enttäuschung. Das Buch war eine Verlegenheitslösung, da sie nun mal eine Trilogie angekündigt hatte. So schrieb sie, um die Trilogie zu komplettieren und weil ihr nichts anderes einfiel, einen Bericht über ihren Irland-Aufenthalt ein paar Jahre zuvor, der nicht richtig zu den beiden ersten Bänden der Trilogie passte.

Treffen in Marburg

Diese kleine Enttäuschung änderte nichts an meiner Wertschätzung. Und so fuhr ich im Februar 2019 selbstverständlich nach Marburg, als Birgit dort aus diesem Buch las. Es ging mir, gebe ich zu, dabei weniger um ihr neues Buch als darum, ihr endlich einmal leibhaftig zu begegnen und sie kennenzulernen. Wir trafen uns vorher in einer Kaffeerösterei in der Oberstadt und redeten stundenlang miteinander. Sie erzählte von den Gelbwesten-Demonstrationen in der Provinz erzählt. Sie besuchte die Demonstrierenden so oft sie konnte auf der nächsten Kreisverkehrsinsel, wo sie sich niedergelassen hatten, weil man dort den meisten Leuten begegnet. Sie sah Frankreich damals in einer vorrevolutionären Situation, die der vor der Großen Revolution ähnele. Ab und zu ging sie vor die Tür, um zu rauchen.

Am Nachmittag wechselten wir zum Veranstaltungsort in einem städtischen Technologiezentrum. Der Raum füllte sich schnell mit einem älteren Publikum, im Schnitt waren die Besucher im Alter von Birgit selbst, manche älter, ein paar auch jünger. Birgit las sehr engagiert, beantwortete im Anschluss geduldig die üblichen Fragen und signierte Bücher. Gegen Mitternacht fuhr ich sie zum Hotel in der Nähe der Elisabethkirche. Das war das einzige und zugleich letzte Mal, dass ich ihr begegnet bin. Wir blieben auch in der Folgezeit per E-Mail in Kontakt, wie in den Jahren zuvor. Sie war fast all meinen literarischen Göttern oder Halbgöttern schon einmal begegnet und konnte mir zu Lars Gustafsson, Wilhelm Genazino und John Berger spannende Geschichten erzählen.

Eine, die vor uns da war

Die Frequenz der zwischen uns ausgetauschten Nachrichten wurde im Laufe der Zeit geringer, oft hatte ich das Gefühl, Birgit hatte Wichtigeres zu tun. Sie bewegte sich vom Schreiben weg, auf praktische Lebensvollzüge und die sie umgebenden Menschen zu. Sie bekam Schwierigkeiten mit ihrem Verlag und dachte daran, ihre weiteren Bücher im Selbstverlag herauszubringen. Bevor es dazu kommen konnte, ist sie nun am 24. Dezember im Alter von 65 Jahren in Südfrankreich gestorben. Ich hatte ihr am Morgen noch einen elektronischen Gruß geschickt. Gegen Mittag traf eine Antwort ihres Mannes ein: „Vielen Dank für den Weihnachtsgruß, leider erreicht er Birgit nicht mehr. Sie ist heute Nacht verstorben.“

Ich ging in der anbrechenden Dämmerung eine Runde über den Alten Friedhof und hing meinen Gedanken nach. Sie kreisten natürlich um Birgit und all das Ungesagte, all das Versäumte. Jeder Veränderungsprozess ist dadurch versperrt, dass er zu spät kommt. Mitten auf dem Friedhof spürte ich die Gewalt des Todes, der alles zum Verstummen bringt und jede weitere Verständigungsmöglichkeit abschneidet. Man kann sich allenfalls mit den Worten Heinrich Bölls aus Birgits letztem Roman trösten und sich vorstellen, dass nun auch Birgit Vanderbeke zu jenen gehört, „die vor uns da waren“, aber hoffentlich trotzdem noch bei uns sind. Zwischendurch habe ich mich mal gefragt, ob ich als „alter weißer Mann“ über Birgit als Frau überhaupt schreiben darf? Doch da hörte ich Birgits vom Rauchen etwas raues Lachen: „Du spinnst doch!“

Götz Eisenberg ist Publizist und Sozialwissenchaftler. Von 1985 bis 2016 arbeitete er in der JVA Butzbach als Gefängnispsychologe

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