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Moskau/Kiew | Ukraine-Krieg: Früher oder später wird es Friedensverhandlungen geben


Link [2022-06-17 22:31:23]



Diktatfrieden oder Kriegsdiktat: Noch nie in der Geschichte gab es bei Verhandlungen von Kriegsparteien ein paritätisches Verhältnis. Was heißt das für Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Zwei Ansagen beherrschen in Deutschland die politische Debatte über den Krieg im Osten. Sie lauten, die Ukraine dürfe nicht verlieren, sondern müsse (und werde) gewinnen. Da es augenscheinlich Zweifel gibt, ob und wie das gelingen soll, wird sicherheitshalber die Botschaft nachgeschoben, es dürfe keinen „Diktatfrieden“ geben, sprich: keine Verhandlungslösung, bei der Russland im Vorteil ist. Daran verwundert, dass Politiker allen Ernstes festlegen wollen, wie – wenn überhaupt – Diplomatie diesen Krieg zu beenden hat. Deren Ergebnisse von vornherein als „Diktatfrieden“ zu denunzieren, ist so realitätsfremd wie geschichtsvergessen.

Regime change inklusive

Seit jeher sind Friedensschlüsse auch als „Friedensdiktate“ auslegbar, wie das die jüngste Vergangenheit oder weiter zurückliegendes Geschehen offenbart. Schließlich spiegeln solche Übereinkommen Kräfteverhältnisse zwischen Kriegsparteien. Wer muss aufgeben? Wer kann weiterkämpfen, wer glaubt zu siegen? Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, lassen sich Feuerpausen bis hin zu einer dauerhaften Waffenruhe vereinbaren, Verhandlungen aufnehmen und Friedensverträge unterschreiben.

Ein klassisches Beispiel liefert der am 11. November 1918 geschlossene Waffenstillstand zwischen den Mächten der Entente und Deutschland an der Westfront des Ersten Weltkrieges. Ende September 1918 hatte die Oberste Heeresleitung von der kaiserlichen Regierung ultimativ verlangt, sie müsse ein Waffenstillstandsgesuch stellen, andernfalls würden die feindlichen Armeen durchbrechen und auf deutsches Staatsgebiet vordringen. Die Kriegsgegner freilich wollten die Waffen erst schweigen lassen, wenn Bedingungen erfüllt waren, die auf einen „regime change“ hinausliefen. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verlangte den Verzicht auf die Monarchie und eine Demokratisierung Deutschlands. Es dauerte Wochen, bis man sich arrangierte und zustande kam, was durchaus das Prädikat „Diktatfrieden“ verdiente – der Versailler Vertrag beseitigte dann letzte Zweifel.

Dass sich Krieg führende Staaten darauf einlassen, über Frieden zu verhandeln, hängt in der Regel davon ab, ob sie auf dem Schlachtfeld mehr zu verlieren drohen, als sich am Verhandlungstisch gewinnen oder retten lässt – vorausgesetzt, die Parlamentäre werden rechtzeitig in Marsch gesetzt. Anders formuliert, es muss die Erkenntnis reifen, dass kriegerische Mittel schlechter geeignet sind, den eigenen Zielen gerecht zu werden als politische bzw. diplomatische. Für die USA war diese Einsicht ausschlaggebend, als sie Anfang der 1970er Jahre in Paris Friedensgespräche mit Nordvietnam aufnahmen. Die Lage in Südvietnam „diktierte“, was unausweichlich war, da die US-Armee den Indochina-Krieg nur unter noch größeren Opfern als den schon gebrachten gewinnen konnte. Und selbst das schien nicht gewiss, folglich waren es eine latente Verunsicherung und der schwindende Rückhalt im eigenen Land, die „diktierten“, mit dem Kriegsgegner auf Friedenssuche zu gehen.

Bricht man das auf die Schlacht um die Ukraine herunter, heißt das: Früher oder später dürfte eine der Kriegsparteien ein „Friedensdiktat“ hinnehmen müssen. Es wird davon bestimmt sein, wie groß der strategische, materielle und symbolische Wert verlorener Regionen ist, wie verkraftbar die Zahl gefallener Soldaten und ziviler Opfer, der Verlust an Militärtechnik, die Zerstörung von Infrastruktur und ökonomischen Ressourcen. Von Bedeutung sind gleichsam militärische Reserven, der Ersatz von Equipment, die Aufrüstung durch Verbündete. Nicht zu vergessen – die Kampfmoral. Auf beiden Seiten deckt sich das Verhalten der jeweiligen Regierungen nur bedingt mit den Bedürfnissen der Bevölkerung.

All diese Faktoren summieren sich zur Basis von Verhandlungen, doch ergibt sich daraus kein Zwang zur Verständigung, solange der politische Wille fehlt – bis die Kriegslage und das Kräfteverhältnis einen Sinneswandel „diktieren“. Dies nüchtern zu analysieren, beugt Wunschdenken vor. Momentan ist davon auszugehen, dass Russland aus dem eroberten Terrain in der Ostukraine nur unter massivem militärischen Druck weichen wird. Die Landbrücke zur Krim ist noch nicht sicher, aber schon begehbar, die Wasserversorgung der Halbinsel gewährleistet, eine Chance zur Beherrschung des gesamten Donbass in Sicht. Vom patriotischen Überbau her wird die Intention von einer Heimkehr der historischen Sphinx „Neurussland“ bedient.

Davon ausgehend zeichnen sich zwei Szenarien ab: Die ukrainische Armee regeneriert sich in einem Maße, dass sie verlorene Gebiete zurückerobern oder einen Zermürbungskrieg gegen die Besatzungsmacht beginnen kann. Dazu müsste angesichts von etwa 20.000 Gefallenen die zu Beginn des Krieges gegebene Kampfstärke von 200.000 Mann (Russland: 800.000) wiederhergestellt werden, immerhin würde man aus der Rolle des Verteidigers in die eines Angreifers wechseln. Zudem bleibt abzuwarten, wie lange in der Ukraine der innere Burgfrieden angesichts militärischer Niederlagen hält. Offen ist weiterhin, ob strategische Nachteile ausgeglichen werden, sollte die von den USA und Deutschland gelieferte Rohr- und Raketenartillerie zum Einsatz kommen. Besonders der US-Raketenwerfer M142 Himars würde bei Reichweiten von bis zu 70 Kilometern das Feuer in die Tiefe des gegnerischen Raumes erlauben.

Noch scheint die Führung um Präsident Selenskyj in dem Glauben zu handeln, auf dem Schlachtfeld mehr gewinnen zu können, als am Verhandlungstisch preisgeben zu müssen. Käme es irgendwann anders, wäre mit drei Verhandlungssträngen zu rechnen. Absolute Priorität hätte der künftige Status der Ukraine, wofür eine international gesicherte Neutralität in Betracht käme. Sie sollte aus ukrainischer Sicht bewaffnet und von befreundeten Staaten geschützt sein, während für Russland das Axiom gilt, kein Engagement der NATO. Bei einem zweiten Verhandlungsfeld dürfte es um die Garantien einer möglichen politischen Lösung gehen. Es bietet sich an, auf einen Mechanismus zurückzukommen, wie er 2015 nach dem Atomabkommen mit dem Iran verankert wurde.

Muster, keine Modelle

Seinerzeit sah ein auf die fünf UN-Vetomächte und Deutschland zurückgehender „Aktionsplan“ des UN-Sicherheitsrates (Resolution 2231) vor, dass bei Vertragsverstößen durch Teheran die ökonomischen Strafmaßnahmen umgehend wieder in Kraft treten. Es wäre also neben militärischen Garantien für eine ukrainische Neutralität eine ähnliche Regelung denkbar, indem ein Automatismus vereinbart wird, der Russland erneut mit Sanktionen belegt, sobald es die Neutralität der Ukraine gefährdet.

Ein dritter Verhandlungskorb wäre dem Umgang mit von Russland besetzten Territorien vorbehalten, deren schnelle Rückkehr in den ukrainischen Staat vorerst kaum in Aussicht steht. Die Kunst wird darin bestehen, sich über einen Sonderstatus zu verständigen, der eine finale Integration in die Russische Föderation aufhält, aber zugleich den permanenten bewaffneten Konflikt um diese Regionen eindämmt. Umstrittene, von mehreren Staaten beanspruchte, das internationale Klima belastende Entitäten hat es in Europa immer wieder geben. Gefundene Lösungen waren auf Kompromisse angewiesen und so häufig über einen längeren Zeitraum hinweg konfliktresistent. Natürlich resultierten sie auch aus Kräfteverhältnissen, denen sich Diplomatie schwerlich entziehen kann, will sie zum Zug kommen. Man denke an Grönland, Westberlin von 1971 bis 1989, Andorra seit Jahrhunderten, Transnistrien als postsowjetischen oder den Kosovo als postpolaren Konfliktfall in Europa (s. Glossare).

Diese Muster sind für die Ukraine keine Modelle, aber es wert, als Anregung geprüft und nicht etwa als „Diktate“ verworfen zu werden, weil sie einem Interesse am Krieg zuwiderlaufen.

Dossier der Diplomatie

Lösungsansätze Autonomie, Souveränität, Sonderstatus – es fehlt nicht an Beispielen, die für Gebiete in der Ukraine hilfreich sein können

Grönlands SelbstverwaltungZwar gehört Grönland zu Dänemark, steht aber seit 2009 unter Selbstverwaltung, verfügt über eine eigene Regierung und eine auf sein Gebiet bezogene Gesetzgebung. Allein über Außen- und Sicherheitspolitik wird in Kopenhagen entschieden, auch wenn es einen grönländischen Außenminister gibt. Es gilt eine NATO-, aber sehr abgeschwächte EU-Mitgliedschaft, seit Grönland 1985 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verlassen hat.

Dem Muster in der Ostukraine Geltung verschaffen, hieße, dortige Entitäten erhalten eine weitgehende Autonomie und werden durch Russland (oder die Ukraine) nur international vertreten. Über den Status entscheiden von den UN evaluierte Referenden, die im Abstand von zehn Jahren wiederholt werden.

Westberlins SonderstatusDas Viermächteabkommen der UdSSR, der USA, Frankreichs und Großbritanniens über Westberlin legte 1971 fest, dass die drei Westsektoren der geteilten Stadt kein Hoheitsgebiet der BRD waren und nicht von ihr regiert werden durften. Doch konnten „Bindungen“ bestehen und entwickelt werden – durch den Transitverkehr, in ökonomischer wie humanitärer Hinsicht. Zu ändern war das durch alle vier Mächte oder gar nicht.

Für die Ostukraine hieße das, von Russland besetzte Gebiete erhalten einen Sonderstatus, der keine Zugehörigkeit zu Russland bedeutet, aber „Bindungen“ zulässt. Die einst bei Westberlin geltende Viermächte-Hoheit fiele in diesem Fall an neutrale Garantiemächte: Indien, die Schweiz, Ägypten oder andere.

Andorras ZweistaatlichkeitDas Land hat als unabhängiger Staat zwei (symbolische) Staatsoberhäupter: den Präsidenten Frankreichs und das geistliche Oberhaupt des römisch-katholischen Bistums Urgell in Nordspanien. Ein Status, der seit Napoleon Bonapartes Bestätigung 1806 als gesichert gilt und außenpolitische Neutralität verheißt. Die exekutive Macht liegt indes bei einem andorranischen Premier, dessen Rechte eine seit 1993 geltende Verfassung garantiert.

Auf die Ostukraine bezogen wirkt das Muster zwar wie eine surreale Utopie, doch sollten trotz aller Feindseligkeiten die binationale Identität und religiöse Prägung des Gebiets genutzt werden. Insofern kämen die orthodoxen Kirchen der Ukraine und Russlands als Schirmherren einer Selbstverwaltung in Betracht.

Transnistriens FaststaatlichkeitTransnistrien hat es mit der 1992 erklärten Trennung von der Republik Moldau bis an die Grenze zum souveränen Staat gebracht. Nur wird der bisher von niemandem, auch nicht vom Verbündeten Russland anerkannt. Einen 2014 erwogenen Beitritt zur Russischen Föderation lehnte Moskau ab. So wurde die völkerrechtlich verbürgte Zugehörigkeit zu Moldau respektiert und ein Modus Vivendi geschaffen, wie er für eingefrorene Konflikte typisch ist.

Das Muster Transnistriens in der Ostukraine hieße: De-facto-Unabhängigkeit des Donbass, ohne dass die Zugehörigkeit zur Ukraine infrage gestellt wäre. Der gegenwärtig ruhende UN-Treuhandrat könnte das Verhältnis zwischen Kiew und dem Donbass moderieren und als dessen höchste Verwaltungsautorität fungieren.

Kosovos StaatlichkeitDer NATO-Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien führte 1999 zur Sezession der bis dahin autonomen Region Kosovo von Serbien. Es folgte ein knappes Jahrzehnt unter UN-Verwaltung, bis Anfang 2008 das Parlament in Pristina die Republik Kosovo proklamierte. Damit gelang nach einem bewaffneten Konflikt der Durchmarsch zum eigenen Staat, der durch das Eingreifen der NATO und die Protektion der EU ermöglicht wurde.

Für die Ostukraine wäre der Präzedenzfall Kosovo die Vorlage, um vorhandene (Volksrepubliken Donezk/Lugansk) oder neu entstehende Entitäten mit Souveränität auszustatten, die sich auf Russlands stützt. Wie zwischen Kosovo und Serbien bliebe das Verhältnis zwischen dem Donbass und der Ukraine gespannt.

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