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Mobilität | 9-Euro-Ticket ist da: Wie kann es dauerhaft bleiben?


Link [2022-06-01 21:06:30]



Im brandenburgischen Templin sind die Fahrgastzahlen seit Jahren zehnmal so hoch wie in anderen deutschen Städten vergleichbarer Größe. Das 9-Euro-Ticket dürfte das nun ändern. Was ist nötig, damit Menschen dauerhaft auf den ÖPNV umsteigen?

Bei aller Kritik: Ist die Vorstellung nicht grandios, für nur neun Euro im Monat überall in Deutschland einfach in Bus und Bahn steigen zu können? Ohne darüber nachdenken zu müssen, Kleingeld parat zu haben, sich auf den Monat gerechnet in Unkosten zu stürzen oder ohne Fahrschein „erwischt“ zu werden. Wie schön wäre es, wenn das so bliebe und zusätzlich auch noch das Angebot verbessert würde: mehr Busse und Bahnen, gerade auf dem Land, bessere Anschlüsse und mehr Komfort.

Jürgen Follmann, Professor für Verkehrswesen an der Hochschule Darmstadt, wertet das Ticket schon vor dem 1. Juni als Erfolg: „Die Menschen möchten und kaufen das, das macht einem Mut als Verkehrsplaner“, erklärt er. „Wir hätten das nie hinbekommen ohne den traurigen Anlass Ukraine-Krieg.“ Follmann interessieren dabei besonders die Verdichtungsräume um die Großstädte herum, wie im Rhein-Main-Gebiet. Diese hätten meist gute Verbindungen, würden jedoch nur wenig genutzt. „Vielleicht entdecken die Menschen dort den Nahverkehr“, meint er. Einfacher geht das in jungen Jahren. So betont der Senior Researcher vom Ökoinstitut e.V., Moritz Mottschall, wie wichtig das Schüler*innenticket für das Erlernen von nachhaltigem Mobilitätsverhalten junger Menschen ist. Das Gleiche gilt für das Azubi- oder das Semesterticket.

Angst vorm Strohfeuer

Die Bremer Verkehrssenatorin und Vorsitzende der Landesverkehrsministerinnenkonferenz, Maike Schaefer, ist dagegen besorgt, das Neun-Euro-Ticket könne sich als Strohfeuer erweisen. Sie und ihre Kolleg*innen kritisieren, dass der Bundesverkehrsminister nicht die Regionalisierungsmittel in den Haushalt eingestellt hat: Das sind jene Mittel, die für den Ausbau von Schienengebundenem Nahverkehr (SPNV) und ÖPNV benötigt werden oder um die Tarife möglichst stabil zu halten. „Wir befürchten, dass die Verkehrsunternehmen nach diesen drei Monaten wieder gucken müssen, wie sie mit ihrem Geld klarkommen, bei steigenden Energiepreisen“, so Schaefer. Einige Betriebe hätten bereits angekündigt, im Herbst die Tarife zu erhöhen. Das sei klimapolitisch kontraproduktiv, meint die Grünen-Politikerin.

Die Landesverkehrsminister*innen fordern dauerhaft mehr Geld vom Bund, gerade wenn nicht nur der Status quo erhalten, sondern die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppelt werden sollen, wie es die Klimaschutzpläne der Bundesregierung vorsehen. Pro Jahr seien dafür 1,5 Milliarden Euro zusätzlich notwendig, darüber sei man sich über Fraktionsgrenzen hinweg einig, heißt es seitens des Verkehrsministeriums in Baden-Württemberg. Dem kam der Bund aber nicht nach.

Die Verkehrsbetriebe rechnen ihrerseits bis 2030 mit zusätzlichen 48 Milliarden Euro zur Einhaltung der Klimaziele. Vor allem die Infrastruktur außerhalb der Ballungsgebiete müsse weiter ausgebaut werden. „Bei dieser Summe erscheint es sinnvoller, statt den Ticketpreis extrem gering zu halten, das Angebot und die Qualität des ÖPNV flächendeckend so gut zu gestalten, dass mehr Menschen zu einigermaßen wirtschaftlichen Ticketpreisen häufiger Bus und Bahn fahren als heute“, argumentiert der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (VDV), dem mehr als 630 Unternehmen des öffentlichen Personenverkehrs (ÖPV) und des Schienengüterverkehrs (SGV) angehören.

Steuerfinanzierter ÖPNV zum Nulltarif in Tallinn und Luxemburg

Dabei sind niedrige Tarife durchaus auch dauerhaft umsetzbar: Im nordbrandenburgischen Templin fahren Inhaber*innen der Kurkarte mit 44 Euro im Jahr unschlagbar günstig Bus – von 1998 bis 2003 galt gar der Nulltarif, ließ sich aber nicht weiter halten. Die Fahrgastzahlen liegen in der 16.000-Einwohner-Stadt immer noch zehnmal so hoch wie in anderen Städten vergleichbarer Größe. Neben Verkehrsberuhigung und Klimaschutz hebt der Bürgermeister Detlef Tabbert (Linke) auch die soziale Komponente der Maßnahme hervor: „Niedrige Einkommensgruppen sind damit nicht ausgeschlossen, gerade Senioren. Die fahren dann zum Kaffeetrinken auf den Markt“, erzählt er.

Einen über die Steuer finanzierten Nulltarif gibt es seit einigen Jahren in der estländischen Hauptstadt Tallinn und seit 2020 auch in Luxemburg. Wien bietet ein Jahresticket von 365 Euro an, wie es in Hessen für Schüler*innen, Azubis und Rentner*innen existiert. Das ist ein Euro pro Tag. Die seit 2017 bestehende Bremer Initiative „Einfach Einsteigen“ propagiert ein Umlagemodell: Die Hälfte der laufenden Kosten soll die Wirtschaft tragen, indem alle Betriebe 3,2 Prozent ihres Gewinns abgeben, die andere die Bürger*innen mit knapp 20 Euro im Monat pro Erwachsenen. Wer weniger als 1.250 Euro pro Monat verdient, muss nach dem Konzept nur zehn Euro monatlich zahlen, Kinder und Jugendliche fahren frei. Dabei sind die Einnahmen so kalkuliert, dass genug Geld für eine engere Taktung, mehr Personal und eine bessere Wartung der Fahrzeuge bleibt. Heute beziehen die Bremer Verkehrsbetriebe etwa 100 Millionen Euro jährlich aus dem Ticketverkauf, 80 Millionen Euro schießt der Bremer Senat zu. Letztere wären damit frei, um in neue Linien und Fahrzeuge zu investieren.

SPD, Grüne und Linke in Bremen denken aber auch über eine Finanzierung eines günstigeren Tickets über die Grundsteuer nach und darüber, mehr Parkgebühren zu erheben und auf ÖPNV und SPNV umzulegen. Follmann sieht seinerseits in erster Linie den Bund in der Pflicht: Dieser könne CO₂-Abgaben in den Ausbau des Nahverkehrs und des Schienennetzes umleiten oder Subventionen für Autoverkehr und Straßenbau dorthin verschieben.

Verkehrsminister Volker Wissing will nicht

„Wir sehen das Neun-Euro-Ticket eher kritisch, weil es zunächst keine verkehrspolitische, sondern eine sozialpolitische Maßnahme ist, die aber vor allem verkehrspolitisch diskutiert wird“, gibt hingegen Wolfgang Geißler, der Sprecher von „Einfach Einsteigen“, zu Bedenken. Natürlich ist es positiv zu bewerten, dass die kommenden drei Monate nicht nur die Autofahrer*innen beim Tanken entlastet werden, sondern auch alle, die sich kein Auto leisten können oder sich umweltfreundlich fortbewegen wollen. Um jedoch eine Verkehrswende einzuleiten, braucht es mehr. Moritz Mottschall vom Ökoinstitut verweist auf eine Studie zu dem Wiener Modell: Ein niedriger Preis allein schaffe es nicht, die Leute zum Umsteigen zu bewegen. Dafür brauche es auch ein besseres Angebot bezüglich Taktung, Sauberkeit, Sicherheit und Pünktlichkeit. Auch müsse der motorisierte Individualverkehr umgekehrt an Attraktivität verlieren, etwa durch Geschwindigkeitsbegrenzungen und höhere Parkgebühren.

Deutlich mehr Investitionen seitens des Bundes in ÖPNV und Bahnverkehr sind möglich, wenn es denn politisch gewollt ist. Für Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) rangiert Klimaschutz aber offensichtlich nicht oben in der Prioritätenliste. Und auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) steckt lieber 100 Milliarden Euro in den deutschen Rüstungsetat (und weitere 30 Jahre nukleare Teilhabe) als in Klimaschutz. Dabei weisen wissenschaftliche Studien darauf hin, dass Klimaschutz und -anpassung umso teurer werden, je länger wir damit warten. Vielleicht setzt das Neun-Euro-Ticket dennoch einen Impuls.

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