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Meinung | Sondervermögen für die Bundeswehr: Eiskalt durchgepeitscht


Link [2022-05-30 20:05:55]



SPD, Grüne, FDP und Union missbrauchen das Grundgesetz, um die Bundeswehr ohne jede Debatte massiv aufzurüsten

Das Wort „Sondervermögen“ hat einen guten Klang. Ein wenig, als fiele etwas vom Himmel und würde in einer Schatztruhe verwahrt. Für schlechte Zeiten oder gar besonders schöne Dinge, die man sich leisten möchte. Soziale Gerechtigkeit zum Beispiel.

Am 27. Februar, drei Tage nach Russlands Überfall auf die Ukraine, verkündete Kanzler Olaf Scholz die „Zeitenwende“ und Annalena Baerbock die „180-Grad-Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“. Scholz unterlegte seine Wende mit der Ankündigung, noch in diesem Jahr 100 Milliarden Euro „zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit“, also für die Bundeswehr, gesetzlich zu verankern. Baerbock und ihren Mitstreiter*innen gelang und gelingt eine fast geräuschlose Neupositionierung ihrer Grünen, die einst auch aus der Friedensbewegung hervorgegangen sind und nun offenbar Abschreckung durch militärische Stärke für den richtigen Weg künftiger Weltpolitik halten.

Damit diese 100 Milliarden Euro nicht die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aushebeln, sollen sie ebenfalls ins Grundgesetz. Gesondert sozusagen. Aber schuldenfinanziert. Was sich eigentlich mit der Schuldenbremse beißt. Aber es ist alles eine Frage der Formulierung.

Keine gesellschaftliche Debatte

So zeigt das Grundgesetz – die zwar säkulare, aber doch recht heilige Schrift – mehr und mehr an, dass es dienlich sein und missbraucht werden kann, auch um politische Vorhaben der jeweiligen Regierungen durchzusetzen. Diesmal aber, ohne dass auch nur im Ansatz eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt würde.

Das war schon bei der Schuldenbremse so, dauerte da aber etwas länger und wurde doch immerhin auf parlamentarischer Ebene diskutiert. Nun wird es wieder passieren. Man darf gespannt sein, womit das Grundgesetz im Laufe der kommenden Jahre noch aufgefüllt wird, muss allerdings befürchten, dass die Schallmauer längst durchbrochen ist. Wenn es schnell gehen muss und Wirkmächtigkeit über den Tag hinaus demonstriert werden soll, ändert man halt die Verfassung. Das ist wirklich eine Zeitenwende, und sicher eine um 180 Grad.

Eine 180-Grad-Wende beschreibt, dass man von nun an in die Gegenrichtung läuft. Es ist keine Kosmetik, wenn eine Außenministerin das mal eben verkündet und eine Regierung es dann mit Grundgesetzänderungen unterlegt, unter Missachtung aller demokratischen Prozesse, die dem vorausgehen müssten.

Abkehr von der deutschen Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg

Die 100 Milliarden sind demzufolge nicht einfach nur Geld, sondern Ausdruck eines geradezu fundamentalen Wandels. Sie sind auch Abkehr von dem, was deutsche Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg wesentlich ausgemacht hat. Mit der gleichen Begründung übrigens, die jetzt angeführt wird, um die 180-Grad-Wende zu erklären. Diese 100 Milliarden haben keinen Einfluss auf die gegenwärtige Situation des Krieges und die Frage, wie der Ukraine geholfen werden kann gegen den russischen Angriff auf ihre Souveränität. Auch wenn die Erzählung so lautet. Sie beschreiben stattdessen eine Grundsatzentscheidung für die kommenden Jahre und möglicherweise Jahrzehnte.

Ob diese Grundsatzentscheidung eher geopolitischen Interessen folgt oder sich tatsächlich auf den Kampf einer „Wertegemeinschaft“ gegen den „barbarischen“ Rest der Welt beruft, ob sie der Vorstellung entspringt, auf der Seite der Guten sein zu wollen und deshalb den „verzweifelten Patriotismus und Nationalismus eines angegriffenen Landes zu übernehmen“, wie Katharina Döbler in Le Monde diplomatique schrieb, all das hätte, wenn man dafür das Grundgesetz anfasst, diskutiert werden müssen.

Am vergangenen Sonntag waren die Spitzenmeldungen der Nachrichten von der Frage geprägt, ob und wie sich die Spitzen von Koalition und Opposition hinter verschlossenen Türen bei der Ausformulierung der Grundgesetzänderung einigen würden. Eine Frage aber wurde nicht gestellt: Warum wird hinter verschlossenen Türen eine Entscheidung ausgehandelt, die eben kein reaktives Vorgehen beschreibt, das den sich überschlagenden Ereignissen geschuldet ist, und stattdessen die Absicht unterlegt, in Zukunft noch mehr aufzurüsten? Letzter Streitpunkt sei, wurde uns, die wir zu alldem nicht gefragt wurden und werden, erklärt, die genaue Verwendung des Geldes. Nur Bundeswehraufrüstung oder noch dazu Cyberabwehr, wie es die Grünen ursprünglich wollten?

Größtes Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte

Bleibt ihr mal schön auf euren Sofas sitzen und haltet die Klappe, wir regeln das schon. Weil ja Ausnahmezustand ist. Den die weise Koalition offensichtlich schon bei der Aushandlung des Koalitionsvertrages im November 2021 vorausgesehen hatte: als sie sich ins Papier schrieb, den Rüstungsetat auf mindestens 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, mit dem langfristigen Ziel jener zwei Prozent, zu denen sich schon die Vorgängerregierung bekannt hatte.

Es ist das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte, durchgepeitscht in einem Tempo, das es, selbst wenn der Wille überhaupt vorhanden gewesen wäre, nicht zugelassen hätte, dazu wirklich einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Der natürlich auch zugunsten von Hochrüstung ausgehen könnte. Das wäre zwar nicht gut, aber demokratisch ausgehandelt.

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