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Meinung | Massaker in Butscha: Keine Straflosigkeit, niemals!


Link [2022-04-05 15:54:27]



Die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine müssen aufgeklärt werden. Wenn es einen Schutz vor künftigen Massakern gibt, dann nur die klare Botschaft: Wir kriegen euch alle.

Butscha ist Krieg. Vergewaltigung, Folter, Massaker – das ist das Wesen des Krieges und nicht seine Ausnahme. Dies ist keine Relativierung, dies ist das Gegenteil: Butscha ist normaler Krieg, und deshalb ist Krieg Butscha. Krieg ist die Hölle auf Erden.

Die Vorstellung eines abgegrenzten Schlachtfeldes, einer rein militärischen Konfrontation, Armee gegen Armee, Waffe gegen Waffe, ist und war immer schon eine Illusion, genährt durch die Kriegstreiber dieser Welt. Terror gegen die Zivilbevölkerung ist ein ganz und gar alltägliches Mittel des Krieges. Marzabotto, Katyn, My Lai, Halabja, Srebenica, Abu Ghraib... die Liste der Verbrechen ist unaushaltbar lang. Die Täter mal Diktatoren, mal Demagogen, mal Demokratien, die Gräueltaten ähnlich. Deshalb, genau deshalb, war und ist „Die Waffen nieder!“ immer richtig.

Die Täter aber dürfen nicht straflos davon kommen. Niemals. Und wenn es Jahre dauert: Sie müssen allesamt zur Verantwortung gezogen werden, vor ordentlichen Gerichten. Straflosigkeit ermuntert künftige Täter. Wenn es einen Schutz vor künftigen Massakern gibt, dann nur die klare Botschaft: Wir kriegen euch alle, niemand kann straflos Verbrechen gegen die Menschheit begehen. Deshalb ist es jetzt auch so zentral wichtig, die Gräueltaten in der Ukraine so gut wie möglich zu dokumentierten. Alle Indizien, alle Beweise müssen gesichert werden, damit die Gerichte später entscheiden können.

Das muss vor allem durch unabhängige Institutionen geschehen. Dabei darf sich die Welt nicht auf die Angaben staatlicher ukrainischer Ermittlungsbehörden verlassen. Ukraine ist Kriegspartei. Auch wenn sie die Opfer einer Aggression sind, haben sie aktuell natürlich kein neutrales Aufklärungsinteresse. Deshalb sollte die Ukraine jetzt unabhängige internationale Ermittler*innen einladen, im besten Fall unter dem Dach einer internationalen Organisation. Aber auch andere Quellen können später hilfreich sein, systematische Sammlungen von Augenzeugenberichten oder die Dokumentation von Fotos und Videos aus allen erdenklichen Quellen (für einen späteren Querabgleich).

Russische Kriegsverbrechen in der Ukraine

Wir können jetzt schon gesichert davon ausgehen, dass die russische Regierung in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen hat. Die gezielte Bombardierung von zivilen Wohnkomplexen gehört dazu, das steht außer Frage. Die dafür Verantwortlichen, in Moskau und im Befehlsapparat, werden zur Verantwortung gezogen werden.

Wer genau das Massaker von Butscha zu verantworten hat, wissen wir noch nicht. War es ein gezielter Terrorbefehl aus dem Kreml, ein selbständig agierender Befehlshaber in der russischen Armee? War es eine vagabundierende russische Einheit? Oder war es tatsächlich eine Racheaktion ukrainischer Milizen an vermuteten Kollaborateuren, so wie es gerade in Russland dargestellt wird?

Ich halte letzteres zwar für unwahrscheinlich, aber nach heutigem Wissenstand ist gar nichts ausgeschlossen. Sicherheit in dieser Frage können nur solide Ermittlungen bringen. Ermittlungen, die jetzt beginnen können und müssen, die aber sicherlich auch weit in eine Nachkriegsordnung hineinreichen werden, wenn Dokumente öffentlich werden und Betroffene anfangen zu reden.

Welche Gerichte am Ende über die verschiedenen Kriegsverbrechen zu urteilen haben, müssen wir heute gar nicht entscheiden. Viele denken sofort an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag, das ist nur eine von vielen Möglichkeiten. International besteht Einigkeit, dass nationale Gerichtsbarkeiten immer Vorrang haben sollten, so sie denn wirklich unabhängig und auch fähig zu einer Strafverfolgung sind. Theoretisch könnten in einer Nachkriegsordnung also auch ukrainische Gerichte die Rechtsprechung übernehmen – allerdings würde sich dann schon die Frage stellen, inwieweit sie dann wirklich unabhängig auch eine mögliche ukrainische Beteiligung an möglichen anderen Kriegsverbrechen aufklären könnten.

Kriegsverbrechen müssen aufgeklärt werden

Neben dem ICC käme auch ein internationales ad-hoc-Tribunal in Frage, wie es zum ehemaligen Jugoslawien oder zu Ruanda einberufen wurde. Diese Tribunale beruhten auf Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates. Einen solchen wird es jetzt wegen der russischen Vetomacht nicht geben, allerdings gehen Völkerrechtler*innen davon aus, dass auch eine größere Staatengruppe – im optimalen Fall mit einer großen Mehrheit der UN Generalversammlung – einen ad-hoc Strafgerichtshof in der Ukraine oder in einem Drittstaat installieren könnte.

Um Genozid jedoch wird es, vor welchem Gericht auch immer, vermutlich nicht gehen. International ist der Begriff des Völkermordes klar definiert: Als Versuch, eine bestimmte – auch: nationale – Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Eine wichtiges Element dabei ist eine systematische Planung der Ermordung oder Vertreibung der gesamten Gruppe.

Bei allen Völkerrechtsverletzungen, die die russische Armee in der Ukraine begangen haben mag: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die russische Führung auf eine Vernichtung der Ukrainer*innen als nationale Gruppe abzielt, sie systematisch geplant hat. Die Negierung der Souveränität der Ukraine und selbst die mögliche Absicht, die Ukraine unter russische Kontrolle zu bringen, und auch das Massaker von Butscha erfüllen nicht den Tatbestand eines Genozids – auch wenn Terror gegen die Zivilbevölkerung stattfindet.

Mit dem Vorwurf des Völkermordes versucht die ukrainische Regierung Wolodymyr Selenskyj aktuell, noch mehr Unterstützung und Waffenlieferungen in der westlichen Welt zu mobilisieren. Der Versuch ist verständlich, falsch ist der Vorwurf trotzdem. Dass er nun gerade jetzt erhoben wird, liegt sicherlich auch daran, dass Butscha im Amerikanischen klingt wie butcher, Schlächter. So brutal es klingt: Die Abschlachtung von Menschen ist noch kein Genozid. Es ist ein Kriegsverbrechen.

Stopp der russischen Gaslieferungen

Und noch immer gilt: Kriege werden praktisch immer durch Verhandlungen beendet. Zu denen kommt es erst dann, wenn beide Seiten gleichzeitig zu ernsthaften Verhandlungen bereit sind. Unser Ziel muss also sein, alles dafür zu tun, dass Russland möglichst schnell zu echten Verhandlungen bereit ist. Die Vereinten Nationen haben viele Jahrzehnte Erfahrungen gesammelt in der Mediation von militärischen Konflikten, und eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Aus rein militärischer Sicht wird ein Friedensschluss erst möglich, wenn beide Seiten kriegsmüde sind. Und Kriegsmüdigkeit stellt sich nicht in Wochen oder Monaten ein, sondern erst nach Jahren. Wenn die Geschichte uns eines lehrt, dann das: Gesellschaften, die in langen Kriegen zermürbt wurden, sind dauerhaft zerstört. Deshalb müssen wir unseren Blick auf nicht-militärische Mittel weiten, die den Kreml eher zu ernsthaften Verhandlungen bewegen könnten. Der enge Blick auf Waffenlieferungen verharrt in der rein militärischen Logik, mit der grauenhaften Perspektive eines langjährigen Krieges.

Die aktuellen Wirtschaftssanktionen gegen Russland gelten als die härtesten, die je verhängt wurden. Vielleicht sind sie es, aber noch sind sie nicht besonders weitgehend. Immer noch, auch in den Tagen nach Butscha, überweist der Westen täglich (jeden einzelnen Tag!) mehrere hundert Millionen Dollar für Öl, Gas und Kohle nach Russland. So viele Waffen können gar nicht in die Ukraine geliefert werden, wie wir die Kriegsmaschine des Kreml täglich mit unseren fossilen Dollars schmieren.

Natürlich ist der Ausweg aus der russischen Gasversorgung nicht einfach, es wird uns hier in Deutschland auch weh tun. Aber angesichts des Grauen des Krieges reicht es nicht mehr, sich aus der warmen Stube heraus mit ein paar Waffenlieferungen aus der Verantwortung zu stehlen. Wer die Solidarität mit der Ukraine ernst meint, muss auch dahin gehen, wo es weh tut.

Auch andere Sanktionen könnten ergriffen werden, zum Beispiel mit Blick auf die russische Kapitalfraktion, die wichtigste Stütze der Putin-Regierung. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat kürzlich sehr präzise herausgearbeitet: Um die russischen Multimillionäre wirklich zu treffen, bräuchte es ein internationales Finanzregister. Und das gibt es nicht, weil die Reichen im Westen es nicht wollen.

Die Erschütterung über die Kriegsverbrechen von Butscha lehrt uns das Wesen des Krieges. Er ist entsetzlich. Krieg ist geprägt von enthemmter Brutalität. Umso mehr brauchen wir jetzt eine Perspektive für eine schnellere Beendigung des Krieges. Es ist grausam, erst durch diese Bilder daran erinnert zu werden: Die Waffen nieder!

Jan van Aken arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Sicherheits- und Friedenspolitik. Er war von 2009 bis 2017 Außenpolitiker der Linksfraktion im Bundestag und von 2004 bis 2006 Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen

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