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Meinung | Krieg und Frieden in der Ukraine: Tapferkeit vor dem Freund


Link [2022-06-11 14:42:41]



Die Ukraine solle den Krieg gewinnen, so tönt es in Deutschland. Was aber, wenn dieses Ziel völlig unrealistisch ist?

Es gab mal eine Zeit, in der Wehrkraftzersetzung als schwere Straftat galt, die mit dem Tod bestraft wurde. Das liegt schon lange zurück. Aber, immerhin, wer heute die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine infrage stellt und am Sieg der ruhmreichen ukrainischen Truppen zweifelt, der wird zwar nicht erschossen, dafür aber mit Nazivergleichen nicht unter 1938 bestraft.

So erging es beispielsweise Henry Kissinger, der auf dem westlichen Eliten-Treffen in Davos für Friedensverhandlungen warb und gleichzeitig andeutete, dass die Ukraine gut beraten wäre, endgültig auf die Krim und Gebiete im Osten zu verzichten. Dazu fiel dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dieser Vergleich ein: „Man hat den Eindruck, dass Herr Kissinger nicht das Jahr 2022 auf seinem Kalender stehen hat, sondern das Jahr 1938, und dass er glaubt, er spreche nicht in Davos, sondern in München.“ Appeasement gegenüber einem neuen Hitler, drunter geht es nicht. Das war auch für die Verhältnisse der ukrainischen Kriegsrhetorik sehr grobschlächtig, weil die Familie Kissinger genau im Jahr 1938 vor ihren Mitbürgern von Bayern in die USA geflohen war, um nicht im Konzentrationslager ermordet zu werden.

Aber es zeigt, mit welcher Vehemenz eine Frage verleugnet werden soll, die sich nach 100 Tagen Krieg in der Ukraine nur noch schwer unterdrücken lässt: Was ist der Sinn dieses Krieges, oder: wie lange und zu welchem Zweck soll er noch gekämpft werden? In Deutschland bricht dieser Streit an dem Gezerre um den ukrainischen „Sieg“ auf. In ihrer Rolle als Zentralorgan bedrohter Völker fragte die Bild-Zeitung vor ein paar Tagen gleich das gesamte Kabinett ab („Soll die Ukraine den Krieg gewinnen – ja oder nein?“). Und wehe denen, die da zaudern!

Im globalen Süden ist der Blick auf diesen Krieg ein anderer als in Europa

Dabei ist die Frage erkennbar unsinnig: Was bedeutet „gewinnen“? Alle Russen verlassen das Land, die Krim wird wieder ukrainisch, der abtrünnige Osten überlegt es sich anders, Wladimir Putin und die Oligarchen kommen persönlich zum Aufräumen vorbei? Die jüngsten Äußerungen des ukrainischen Präsidenten gehen ein bisschen in diese Richtung: „Wir müssen eine vollkommene Befreiung unseres ganzen Territoriums erreichen“, sagte Selenskyj. Was, wenn das wirklich das Ziel der Ukraine ist und der Westen es für unrealistisch hält – wie lange wollen wir die Ukraine dann noch in ihrem Kampf unterstützen?

Die westlichen Sachwalter der ukrainischen Sache haben vor allem den Deutschen vorgeworfen, immer wieder wie Retrokolonisatoren über die Köpfe der Ukrainer hinwegzureden – und gleichzeitig die Bedeutung des ukrainischen Abwehrkampfes damit begründet, dass hier mehr auf dem Spiel stehe als das Schicksal der mittleren Macht an der osteuropäischen Peripherie. Nämlich die Freiheit, die Demokratie, die europäische, ja die weltweite Nachkriegsordnung. Der Widerspruch bleibt leicht unbemerkt: denn gerade, weil es nicht nur um die Ukraine geht, hat der Westen Recht und Pflicht, in diesem Krieg selber Interessen und Ziele zu formulieren.

Es gibt Folgen dieses Krieges, die greifen weiter als die Frage, wann Finnland und Schweden der NATO beitreten, und die sind unmittelbarer als die nicht abwegige Furcht vor der nuklearen Eskalation. Wenn die Europäer, denen es angeblich um universelle Werte geht, sich nur bequemen würden, den Blick über ihren Tellerrand zu heben, wären sie erstaunt – und beschämt. An – deutschen – öffentlichen Gebäuden in Berlin wehen inzwischen ukrainische Fahnen. Aber im globalen Süden ist die Haltung der Menschen zum Ukraine-Krieg alles andere als eindeutig. Dort haben sie das Gefühl, dass ihr Schicksal schon wieder weniger wert ist als das der Weißen im Norden. Denn in afrikanischen Ländern führt dieser Krieg zu Hungersnot und Treibstoffknappheit – den Menschen, die dort verhungern, den Gesellschaften, die von sozialen Unruhen erschüttert werden, ist mit dem Hinweis „Putin ist schuld“ nicht geholfen – mit einem Ende des Krieges schon.

In der Ukraine sterben und in Afrika hungern

Die Frage ist nur, haben die Akteure selber eigentlich ein Interesse an einem raschen Ende? Die Ukrainer glauben fest an den ruhmreichen Sieg über das mächtige Russland. Ihnen benebeln offenbar Schmerz und Patriotismus das Hirn. Und auf die USA sollte man sich nicht verlassen. Sie benutzen die Ukraine schon seit vielen Jahren als Hebel gegen Russland – und hören damit jetzt nicht auf. Ende April verkündete US-Verteidigungsminister Lloyd Austin: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“

Sollen die Menschen wirklich für die amerikanische Machtpolitik in der Ukraine sterben und in Afrika hungern? Das passt schlecht zur achtsamen Außenpolitik der Grünen Annalena Baerbock. Die Deutschen sollten von Verantwortung nicht nur reden, sondern sie tatsächlich übernehmen und jetzt eine Friedensinitiative starten. Die Voraussetzungen dafür sind schlicht, aber weitreichend: Die Waffen müssen sofort schweigen und Zugeständnisse beider Seiten dürfen kein Tabu sein. Die Widerstände dagegen werden heftig sein. Aber es war schon immer mutiger, sich für den Frieden einzusetzen, als Krieg zu führen. Wir werden sehen, ob wir das Zeug haben, Tapferkeit vor dem Freund zu beweisen.

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