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Meinung | Hexenjagd auf Gerhard Schröder muss aufhören


Link [2022-05-27 11:31:49]



Vom hochmoralischen Deutschen Fußball-Bund bis hin zu VW-Aufsichtsrat Stephan Weil: Der Umgang mit Altkanzler Gerhard Schröder wegen seiner Moskau-Kontakte zeigt, dass wir in die hysterischste Phase des Kalten Krieges zurückfallen

Er habe „immer deutsche Interessen vertreten“, sagte Gerhard Schröder kürzlich der New York Times. An anderer Stelle betonte er, sein Ziel sei gewesen, den wachsenden Energiehunger der deutschen und europäischen Wirtschaft zu stillen. Die Rohstoffe dafür lägen in Russland. Deshalb sollten wir seine Jobs in russischen Unternehmen gefälligst für so selbstverständlich halten wie Mandate anderer Ex-Politiker in amerikanischen Firmen. Ein souveränes Land dürfe sich nicht von außen aufnötigen lassen, was es zu tun oder zu lassen habe. Oder, wie Schröder es ausdrückte, als ihn eifernde Journalisten mal wieder auf Linie bringen wollten: „Das ist mein Leben, nicht eures!“ Schröder weicht nicht aus, er druckst nicht herum, sondern macht „klare Ansagen“. Wer das für stur oder unzeitgemäß hält, dem sagt er: „Dann bin ich eben aus der Zeit gefallen.“ Basta.

Ja, er ist aus der Zeit gefallen. Aber wir sind es leider auch. Denn die Hexenjagd, die gegen den „starrsinnigen“ Altkanzler läuft, weil er sich nicht leidenschaftlich genug vom „Reich des Bösen“ distanziert, ist ein untrügliches Zeichen für den Rückfall in die wohl hysterischste Phase des Kalten Krieges. Es wird nicht mehr lange dauern, dann gibt es in Deutschland – wie in den USA in den frühen 1950er Jahren – einen „Ausschuss zur Untersuchung prorussischer Umtriebe“, vor dessen Inquisition „russlandhörige“ Sozialdemokraten, friedensbewegte Unterzeichner offener Briefe und andere obskure Linke (Wagenknecht!) ihre Moskau-Kontakte beichten müssen, wenn sie nicht auf einer schwarzen Liste landen wollen. Eiferer vom Schlage eines Joseph McCarthy, die überall Einflussagenten Putins wittern, gibt es inzwischen zuhauf. Die Corona-Krise war die ideale Vorübung zur Ausgrenzung Andersdenkender. Es gilt seither als „normal“, Vertreter anderer Meinungen von hoher moralischer Warte aus mit Beleidigungen wie „Schwurbler“, „Putin-Versteher“, „nützlicher Idiot“ oder „Nazi“ zu überziehen und gedanklich an die Wand zu stellen.

Ich übertreibe!? Nicht wirklich. Wenn sogar einem Bundespräsidenten oder einem Altkanzler, der mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde, in sozialen wie unsozialen Medien unwidersprochen ein Talkshow-öffentlicher Schauprozess gemacht werden kann, ist etwas aus den Fugen geraten. Hier zeigt sich nicht nur ein Mangel an zivilisierten Umgangsformen, hier ist ein bösartiger, neidvoller Säuberungswille im Spiel. Auch die „Ausschüsse für unamerikanische Umtriebe“ unter Richard Nixon und Joseph McCarthy machten bei ihren Gesinnungsprüfungen nicht vor angesehenen Regierungsbeamten, Generälen oder Künstlern halt. Selbst Robert Oppenheimer, Charlie Chaplin und Thomas Mann erhielten Vorladungen. Arthur Miller widmete dem Furor sein Stück Hexenjagd.

Gerhard Schröder: „Wir haben noch immer eine historische Schuld gegenüber Russland abzutragen“

Bei Schröder treibt die Exkommunikation inzwischen kuriose Blüten. Der Kirchenvorstand der Marktkirche Hannover will das von Schröder finanzierte Reformationsfenster des Künstlers Markus Lüpertz nicht mehr einbauen, Schröders Polit-Podcast mit Ex-Regierungssprecher Béla Anda wurde gestoppt, die SPD führt den Genossen Schröder auf ihrer Homepage nicht mehr in der Liste „großer Sozialdemokraten“. Zehn Ortsvereine und vier Kreisverbände streben seinen Parteiausschluss an, und ausgerechnet Niedersachsens SPD-Chef Stephan Weil forderte, Schröder müsse auf alle Mandate in russischen Unternehmen verzichten. Derselbe Weil, der als Mitglied des VW-Aufsichtsrats nichts dabei findet, dass VW in China gute Geschäfte macht, auch in der Provinz Xinjiang, deren Straflager seit langem in der Kritik stehen. Schröders eigener Ortsverein Hannover Oststadt-Zoo fragt, ob sich der Gerd inzwischen „restlos an Putin verkauft“ habe, die Universität Göttingen, an der Schröder studierte, entzieht ihm die Ehrendoktorwürde, die Stadt Hannover die Ehrenbürgerschaft, das EU-Parlament will sein Vermögen einfrieren, der Bundestag streicht ihm das Altkanzler-Büro, Borussia Dortmund nimmt ihm die Ehrenmitgliedschaft, und der DFB, diese hochmoralische Anstalt, setzt sein Ehrenmitglied vor die Tür. All diese scheinheiligen Kritiker möchte man fragen: Habt ihr sie noch alle?

Als die Sowjetunion 1979 Afghanistan überfiel, wurden zwar die Olympischen Spiele in Moskau boykottiert, umfassende Sanktionen aber blieben aus. Der damalige Kanzler Helmut Schmidt versuchte sogar, die Wirtschaftsbeziehungen auszuweiten: Gemeinsam mit dem „Kriegsverbrecher“ Leonid Breschnew drängte er auf einen Weltenergiegipfel, um, wie später Schröder, den Aufbau eines gesamteuropäischen Energiewirtschaftssystems zu forcieren – zum Nutzen Deutschlands und der EU. Breschnew hatte 1978 bei den Schmidts auf dem Sofa gesessen. Es ist nicht bekannt, dass Schmidt deshalb zum Paria wurde.

Als ehemaliger Wehrmachtsoffizier wusste er zudem, welches Leid sein Land den Russen zugefügt hatte. Schröder, ein Bewunderer Schmidts, teilte diese Sicht. 2019 sagte er: „Ich gehöre zu denjenigen, die glauben, dass wir Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer eine historische Schuld gegenüber Russland abzutragen haben.“ Er sagte das in dem Bewusstsein, dass sein Vater im Oktober 1944 an der Ostfront gefallen war. Da war der kleine Gerd sechs Monate alt. Den Vater hat er nie kennengelernt.

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