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Meinung | Emotionalien des Krieges


Link [2022-04-20 17:54:15]



Angriff? Verteidigung? Deutschland guckt den Ukraine-Krieg im Fernsehen und weiß nicht, was es fühlen soll.

„Vielleicht ist in Zeiten wie diesen ein unsicheres Wort ab und zu etwas Notwendiges.“ Olga Martynova in der „Zeit“, 14. April 2022

Der Deutschlandfunk berichtet über die Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“. Im Singular. „Emotionalien“, wispert es im Ohrstöpsel, während ich nach Berlin-Mitte radle. Ich freue mich über das neue Wort, aber ich habe falsch gehört, richtig sind „Devotionalien“. Ich habe keine Ahnung von Richard Wagner und keine Lust auf das deutsche Gefühl, das ich ihm unterstelle. Gefühle habe ich selbst genug.

Beim Handball neulich zum Beispiel, als ich mich eigentlich ablenken wollte, bekommt der Sohn eins auf die Nase. Das geht noch. Aber kurz darauf schreit nach einem geblockten Wurf einer von der gegnerischen Mannschaft, als würde ihm ein Arm abgeschnitten; er hört gar nicht mehr auf, krümmt sich am Boden. Ich kann nicht hinsehen. Die Schulter sei ausgekugelt, heißt es. Man warte auf den Krankenwagen. Mir wird schlecht.

Zum Glück bin ich keine Soldatin geworden, überlege ich notdürftig ironisch - ich wäre keine Hilfe. Viel lieber als ich selbst wäre ich kühl wie der Kanzler, der mit ruhiger Hand und hartem Blick den fernen Krieg managt. Denn der lauert überall, man kommt keine drei Meter ohne ihn durch die Stadt, und denkt man eine Sekunde nicht dran, schlägt er sofort wieder zu, wamm!, wie ein eifersüchtiger Gott. Undefinierbare Bündel auf der Straße, aus der Ferne erspäht, lassen an die verbrannten Leiber denken, die ich nicht sehen wollte, auf dem Bildschirm, weil sie dann in den Augen stecken bleiben und sich an jeder Ecke materialisieren. Der Krieg drängt sich auf – und entzieht sich doch. Bei schlechtem Wetter hoffe ich, dass sie dann mit ihren Bomben nicht so genau zielen können – aber ist das gut oder schlecht?

Der Krieg mischt sich in jedes Gespräch

Im Abendlicht weht Blau-Gelb in Dauerschleife mit EU-Sternen am Europa-Laden wie ein Werbespot. In dem unnötigen Restaurant oben im unnötigen Humboldt-Forum gibt es ein kinderhandkleines Fischstück mit drei Kartoffelschnitzen und vier Spargelköpfen, versenkt in fetter, fader Sauce für 18 Euro, dazu einen Schluck Chardonnay adeliger Herkunft für acht Euro. Man zahlt für die Aussicht. Die mich hierhin eingeladen haben, erwarten, dass ich „Ah!“ und „Oh!“ rufe, aber auf angeberischen Dachterrassen bin ich gehemmt. Von den Kuppeln der kulturhistorisch wertvollen Gebäude ringsherum flattern blau-gelbe Flaggen. Wie ein vernachlässigtes Kind mischt sich der Krieg in jedes Gespräch.

Gestylte Gäste stehen in absichtlich kaputten Jeans und halten ihre Telefone in den Wind. Man soll ja nicht immer das Gute am Schlimmen sehen, aber es wäre ein Kollateralnutzen, würden wenigstens die modisch-zerrissenen Hosen Geschichte. Realer Mangel macht schicke Kaputtness unattraktiv. Haushalten und Sparen, auch mit den Gefühlen, lautet die Parole. Mit beiden Beinen am Boden bleiben und zaghaft in den Himmel gucken – wird’s Regen geben? Auch das dürfte ziemlich deutsch sein, aber was soll’s? Deutsch, Russisch, Französisch, Ukrainisch – warum ist das plötzlich so wichtig? Sind wir nicht alle Euro-Menschen, die Büchse der Pandora griffbereit, gleich neben dem Schirm?

Deutschland hat sein Angriffskriegstum vollständig aus der Selbstwahrnehmung gekillt, sublimiert in eine Geschichtsmoral, die in jede Hosentasche passt und zu Gedenktagen unaufwändig hervorgeholt werden kann. Nun guckt es diesen Krieg im Fernsehen und weiß nicht, was es fühlen soll. Angriff? Verteidigung? Entsetzen reicht irgendwie nicht bei Opfern, die sich wehren. Die Rhetorik vom gerechten Krieg ergreift auch die Bischöfe. Sie machen den Eindruck, als würden sie am liebsten selbst zur Waffe greifen und damit selig Frieden stiften. Aber was ist gerecht? „Schwere“ oder „leichte“ Waffen zum Abwehr-Töten zu senden und hoffen, dass der Dritte Weltkrieg in Pandoras Büchse bleibt? Menschen mit russischen Pässen aus der deutschen Multikultur verbannen? Gibt es überhaupt gerechtes Leid? Welcher „Sieg“ wäre jemals unanfechtbar? Welche „Niederlage“ zweifellos?

Nicht „Ah!“, sondern „Oweh!“

Unter den Linden grüßt Friedrich der sogenannte Große vom Pferd. Protzig und kühn. Nie habe ich auf ihn geachtet, jetzt stört er mich. Warum steht der da eigentlich, mitten auf der Straße? Was will er mir damit sagen? Krieg! Und ich kriege aus dem Kopf die Bilder nicht los mit all seinen emotionalen Devotionalien, die mich ratlos machen, und befangen. Jemand wird ihm einen blau-gelben Anstrich verpassen müssen, denke ich mürbe.

An der Siegessäule, wo die Friedenskundgebung war, riecht es nach brennendem Öl. Auch hier ist er ganz nah, präsent und zugleich unwirklich. Wie ein Gedankenspiel, ein Test, ein Film, eine Gelegenheit, sich auf die richtige Seite zu schlagen, ein Depressivum, oder ein unlösbares Rätsel. Der Geruch kommt nicht von zerschossenen Reifen, sondern von einem Fackelbettler (oder -künstler, je nach Perspektive). Er jongliert mit dem Feuer zwischen den Autos und will Geld dafür.

Im Fernsehen beklagt eine Frau mit Kopftuch, zerarbeiteten Fingern, grauem Gesicht und grauen Haaren ihren getöteten Sohn. Die Kamera hält voll drauf. Man sieht die Zerstörung, drinnen und draußen. Natürlich denke ich an die eigenen Söhne, und natürlich kommen mir die Tränen, aber ich darf sie nicht weinen, ich darf nicht „natürlich“ empfinden, es wäre Betrug. Ähnlich wie auf der Dachterrasse, nur soll ich diesmal nicht „Ah!“, sondern „Oweh!“ rufen. Alles, was ich denke oder fühle, scheint falsch. Nichts wird dem Krieg gerecht als der Krieg.

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