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Medienkritik | Warum Faktenchecker nicht einfach die Fakten checken


Link [2022-06-01 05:17:57]



Faktenchecks sind eine Mode im Journalismus geworden. Eine Kritik tut dringend Not

Fakten, so legt der allgemeine Sprachgebrauch es nahe, sind einfach da: sich selbst genug, unabhängig von Blick und Gedanken der Menschen, einmal vorhanden, ewig dieselben. Die „harten Fakten“ setzen Diskutanten ins Recht und rechtfertigen Entscheidungen, „alternative Fakten“ zu den „tatsächlichen“ Fakten gibt es nicht. – All diese Behauptungen klingen für die meisten wahr, und sie entsprechen auch einem unentbehrlichen Element aufklärerischen Nachdenkens: Was gilt, das soll bei uns „aus Gründen gelten“ (Hegel); bloße Spekulation oder interessegeleitetes Fabulieren müssen wir durch die Frage nach den empirischen oder logischen Grundlagen des Behaupteten entlarven können. Das ist die Intention der Frage nach „den Fakten“.

Die Eingangsbehauptungen von den ewig stabilen, kontextfrei verfügbaren Fakten sind aber bei näherer Betrachtung alle falsch. Wer diesem verkehrten Verständnis von Fakten anhängt, könnte glauben, „Faktenchecker“ seien schlicht Diener der Wahrheit gegen die Täuschung, die in der Verbreitung „erfundener“ oder „falscher“ Fakten bestehe. Es gibt zwar den einfachen Fall der Täuschung: Ein Autor, der sich „Faktenchecker“ nennen mag, deckt eine Lüge, eine einzelne und bewusst getätigte Falschaussage, auf. Das vermag auch jemand, der sich nicht „Faktenchecker“ nennt, deshalb ist dieser Fall für das Folgende nicht von Interesse.

Klären wir einmal grundsätzlich, was Fakten eigentlich sind und welche Rolle sie im Diskurs einer offenen Gesellschaft spielen, so wird dabei auch offenkundig, was die allgegenwärtige „Faktencheckerei“ in den Medien eigentlich ist: ein Instrument zur autoritären Einengung des Diskussionsraums zugunsten organisierter Interessen. Sie ist kein Beitrag zur Aufklärung, sondern der Versuch, sie zu sabotieren.

Was sind eigentlich Fakten?

Fakten (lateinisch facta, also Dinge, die getan oder hergestellt wurden, in diesem Sinne Tatsachen) werden keineswegs einfach vorgefunden. Sie sind das Produkt mehrerer Faktoren. Der erste Faktor des Faktums sind reale oder behauptete Umstände, Ge-genstände oder Geschehnisse. Diese sind für jeden Menschen, der sie nicht im betrachteten Fall unmittelbar erfährt, als solche erst mal gar nichts. Wer es nicht direkt miterlebt, für den sind auch das schlimmste Verbrechen und der schönste Fortschritt der Wissenschaft erst dann zugänglich, wenn jemand diese Geschehnisse als solche öffentlich anspricht, das heißt, wenn jemand sie unter die Begriffe „Verbrechen“ und „Fortschritt“ fasst und sie damit als genau dieses beurteilt.

Und das ist der zweite Faktor des Faktums: Fakten sind auf einen bestimmten Begriff gebrachte Realität – solche Umstände, Gegenstände oder Geschehnisse, über die man geurteilt hat, dass sie dies oder das sind. Diese Urteile sind es, mit denen Diskursteilnehmer aus (meist einer Kombination von) Umständen, Gegenständen und Geschehnissen bestimmte Fakten machen wollen; diese Urteile sind es, die wahr oder falsch, tendenziös oder um Objektivität bemüht, sorgfältig oder leichthin gefällt sein können. Einmal etabliert, beziehen wir uns fraglos auf Fakten und lassen sie als Fundament unserer Diskussionen gelten. Sie sind unser geistiges Standbein, die relativ stabile Grundlage, auf der das Spiel der Erkenntnis- oder Kompromiss-Suche gelingen kann.

Ich sagte, dass wir durch unser Urteil Fakten „machen wollen“; das heißt, dass wir daran manchmal auch scheitern. Die Fakten sind oft strittig. Es lässt sich, mal mit mehr und mal mit weniger Anfangsplausibilität, schlicht bestreiten, dass die Umstände, Gegenstände und Geschehnisse, aufgrund deren Beurteilung ein Autor dieses oder jenes Faktum in die Welt verkündet, überhaupt existieren oder existiert haben. Und das Urteil des Faktenproklamierers, also seine Anwendung gewisser Begriffe auf gerade diese Phänomene, kann auch kritisiert und mit Gründen abgelehnt werden.

Das bedeutet, dass Fakten nicht selbstevident sind, sie können prinzipiell immer bezweifelt oder im konkreten Einzelfall auch ganz bestritten werden, indem man einen oder beide ihrer Entstehungsfaktoren problematisiert: entweder ihre „Materialgrundlage“, also die beurteilten Umstände, Gegenstände oder Geschehnisse, oder das Urteil, das über sie zur Formierung eines Faktums von seinem Autor gefällt wird.

Ein Geschehnis, das der eine Journalist als Völkermord beschreibt, kann der andere als Befreiung eines Landes vom Terrorismus beurteilen. Des einen „Todeskommandos“ sind dann des anderen „Koalitionstruppen der Operation Nachhaltige Freiheit“. Diese unterschiedlichen Urteile machen aus demselben Geschehnis zwei unterschiedliche Fakten (Völkermord oder Befreiungsakt), die dann um die diskursive Vorherrschaft konkurrieren: Denn beide können in der weiteren Schilderung des Geschehens oder in der Argumentation für bestimmte Handlungsempfehlungen ihren Beitrag leisten (zum Beispiel indem sie „Todeskommandos“ oder „Koalitionstruppen“ identifizierbar machen).

In diesem Sinne sind alle Journalisten, die nicht bloß moralische Urteile aussprechen und ihren Beruf somit als Predigtamt ausüben, Faktenmacher: Sie wenden ihre Urteilskraft auf Umstände, Gegenstände und Geschehnisse an und erklären sie zu diesem oder jenem; darauf aufbauend sagen sie uns, was demnach der Fall ist, und möglicherweise auch noch, was wir deshalb tun sollten.

Journalisten und andere Autoren zeigen uns nicht einfach „die Welt“, sie entwerfen uns ein Bild dessen, was sie interessiert. Die realen Umstände, Gegenstände und Geschehnisse der Welt – Naturgesetze, Bäume, Kriege und so weiter – sind dabei nur eine Zutat; zum Faktum werden sie erst in Verbindung mit dem Urteil des Autors und, nicht zu vergessen, durch die bewusste oder passive Akzeptanz dieses Urteils durch eine Mehrheit der Gesellschaft.

Aus Begebenheiten durch Beurteilung Fakten zu machen, ist immer zugleich Beanspruchung und Ausübung von Definitionsmacht. Deswegen ist der Journalismus ein Schlachtfeld der Machtpolitik: Journalisten und die Medien, in denen sie arbeiten, definieren durch ihre Themensetzung, welche Umstände, Gegenstände und Geschehnisse uns zur Betrachtung vorgelegt werden – und indem sie diese beurteilen, sagen sie uns auch noch, was die Fakten sein, das heißt, was die Umstände, Gegenstände und Geschehnisse uns bedeuten sollen.

Hört die Zweifrontenkritik am Material- und Urteilsanteil vorgetragener Fakten in einer Gesellschaft auf, so sind ihre Mitglieder den Urhebern einer Version der Wirklichkeit hilflos ausgeliefert. Denn wer es schafft, nicht bloß wie andere auch gewissenhaft erarbeitete Fakten zur Diskussion zu stellen, sondern „die Fakten“ festzulegen und ihre Befragung einzuschränken oder auszuschließen, der ist damit in seinem Land zumindest Oligarch, vielleicht gar Autokrat: Er hat die Definitionsmacht über die Wirklichkeit inne, die in einer offenen Gesellschaft auf viele Akteure verteilt und in einer geschlossenen Gesellschaft auf wenige Akteure konzentriert ist.

Was tun „Faktenchecker“?

Bis hierher haben wir Selbstverständlichkeiten rekapituliert, die im Begriff des Faktums selbst beschlossen liegen. Dennoch scheint dieses Wissen aktuell verschollen oder verdrängt zu sein, weil man auf den Gedanken kam, „Faktenchecker“ zu institutionalisieren. „Faktenchecker“ arbeiten mit dem eingangs dargestellten falschen Verständnis des Faktums, das sie philosophisch naiv oder in der Absicht, das Wesen ihrer Tätigkeit zu verschleiern, als „einfache und eindeutige Gegebenheit“ bestimmen. Nur so können sie die Teilnehmer der öffentlichen Diskussion in Gute (hält sich an „die Fakten“) und Schlechte (hält sich nicht an „die Fakten“) einteilen und die einen loben, die anderen aber an den Pranger stellen.

Mir scheint klar: „Die Fakten“, auf die sich „Faktenchecker“ als Maßstab der Wahrheit beziehen, wenn sie die Texte anderer kritisieren, sind nicht alternativlos. Sie reflektieren immer bestimmte Beurteilungen von Umständen, Gegenständen und Geschehnissen, deren Gestaltung – wie alle freiwilligen Handlungen – nur von ihren leitenden Interessen her ganz verstanden werden kann. Und diese leitenden Interessen sind bei „Faktencheckern“ auf der bewussten Ebene selbstverständlich die Interessen ihrer Auftraggeber; unbewusst spielen auch Sozialisation und Habitus eine Rolle.

„Faktenchecker“ prüfen Texte daraufhin, ob sie die bevorzugte Weltinterpretation ihrer Sponsoren stützen. Ihre Frage lautet: Ist der Gegenstand der Betrachtung vom Autor so konstituiert worden, wie meine Auftraggeber es sich wünschen? Genauer formuliert: Zieht der Autor die richtigen Umstände, Gegenstände und Geschehnisse in Betracht (und lässt er die richtigen außer Betracht)? Und beurteilt er diese dann auch richtig, in Übereinstimmung mit den Interessen meiner Auftraggeber? Wo ein Autor diese Kriterien nicht erfüllt, wird seine handwerkliche Sorgfalt und journalistische Seriosität angegriffen, was in regelrechte Rufmordkampagnen ausarten kann.

Die Institutionalisierung von hauptberuflichen "Faktencheckern" führt zur Verengung des Meinungs- und Faktenkorridors in einem Diskursraum, und dies – mal deutlicher und mal undeutlicher – nach Maßgabe der die Faktenchecker finanzierenden Gruppen. Sie schließen so den Diskurs und schotten das damit errichtete Biotop des rechten Glaubens und der Rechtgläubigen gegen Kritik ab. Mit anderen Worten: Ein pluralistischer Diskurs wird durch strukturelle Einschüchterung sabotiert und so weit möglich unterdrückt. Die Aufklärung soll suspendiert werden, damit die Profiteure des Status quo ihre Ruhe haben.

Und was sollten wir tun?

Wer sich „Faktenchecks“ zu eigen macht, anstatt sich selbst ein Urteil über die von ihnen angegriffenen Texte zu bilden, macht einen Fehler: Er stützt die zunehmend offen repressive Diskursarchitektur einer Republik, in deren jüngstem Erkeranbau nun sogar Verfassungsschützer sitzen und nach Autoren Ausschau halten, die mit ihren Äußerungen „den Staat delegitimieren“ – die also, wie es in einem anderen deutschen Staat einmal hieß, nach Auffassung offizieller Stellen „staatsfeindliche Hetze“ betreiben.

Legen Sie deshalb Zeitungen beiseite, die „Faktenchecker“ als respektable Quellen zitieren, so als seien sie unabhängig, oder die selbst eine solche Gesinnungsprüftruppe unterhalten; suchen Sie sich andere Webseiten und Radiosender als diejenigen, die sich „Faktenchecker“ als Manipulatoren des öffentlichen Diskurses halten – und erklären Sie bitte ihren Freunden, was ein „Faktenchecker“ eigentlich ist.

Denn so wenig, wie der Regenschauer den Regen schaut und der Weihnachtsmann die Nacht weiht, checkt ein „Faktenchecker“ einfach „die Fakten“. Er betreibt tatsächlich Gesinnungsprüfung und Meinungsrepression.

Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Sein Buch Erfolgsleere (Herder 2020) ist eine Gegenwartsdiagnose der Industriegesellschaft, die eine Erklärung für kritiklosen Konformismus bietet und über Wege zu seiner Vermeidung reflektiert

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