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Marktanalyse | Postpubertäre Fans


Link [2022-04-16 14:13:31]



Warum wimmelt es nur so von Retro-Krimis und Neuauflagen von Klassikern? Unser Autor hat da einen Verdacht

„Simply wonderful: Der gute alte englische Krimi ist zurück!“ So bewirbt der Verlag Kiepenheuer & Witsch die Mrs Potts’ Mordclub-Reihe des britischen Autors Robert Thorogood. Und liegt damit voll im Trend. Die Schlüsselwörter dabei sind „gut“, „alt“ und „zurück“. Auch die extrem erfolgreichen Romane von Robert Osman (Der Donnerstagsmordclub und Der Mann, der zweimal starb, bei List) lassen sich mit diesen drei Prädikatoren gut beschreiben. Auch wenn beide Verfasser Autoren aus dem Hier und Heute sind, funktionieren ihre Romane auf so ziemlich allen Ebenen nach den Mustern der 1930er, 1940er Jahre. Sie feiern die idyllische englische Provinz mit ihren Konflikten, mit ihrem schrulligen Personal (das lediglich in eine Art Zeitmaschine gesetzt wurde), den entsprechenden ideologischen Implikationen und Werten, und vor allem mit den entsprechenden ästhetischen Strategien. So, als ob die Moderne, geschweige denn die Post- und Postpostmoderne nicht stattgefunden hätten. Man kann das „Retro“ nennen.

„Retro“ im engeren Sinn findet schon seit etlichen Jahren statt. Auch wenn sich die Schlagzahl der einschlägigen Veröffentlichungen anscheinend erhöht. Blättert man durch die Programme der mehr oder weniger kriminalliteraturaffinen Verlage, findet man Neuauflagen und neue übersetzte Bücher bekannter Namen zuhauf: Die große Simenon-Edition bei Kampa, Raymond Chandler kehrt wieder, Agatha Christie, Dorothy Sayers, Eric Ambler, Colin Dexter, Edgar Wallace, Léo Malet, Jörg Fauser und Amanda Cross. Über die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit solcher Wiedergänger-Projekte kann ich nicht urteilen, es wird sich vermutlich rechnen, oder auch nicht. Was man aber sagen kann: Solche Aktionen belegen Programmplätze. Und es ist ja nicht so, dass frischer Stoff fehlt. Die Welt wimmelt von guter Kriminalliteratur von heute.

Ein gemütlicher Konsens

Und ich möchte auch gerne glauben, dass ein breites Publikum Exkursionen in die Geschichte des Genres begeistert unternimmt, um die zeitgenössische Produktion besser einschätzen zu können, um Vergleiche zu haben, und Namen, die man vielleicht nur aus literaturgeschichtlichen Werken kennt, mit den Originaltexten konkretisieren zu können. Aber ach, wie man sieht, handelt es sich in den meisten Fällen nur um Autor:innen, die schon lange weltweit durchgesetzt waren (es ist schon kühn, etwa Eric Ambler als „weitgehend unbekannt“ zu bezeichnen, wie hin und wieder zu lesen ist) und deren alte Ausgaben online für ein paar Cent plus Versandkosten zu bekommen sind.

Wobei auch der Erkenntniswert von Neuübersetzungen oft überschaubar ist – man kann, um bei dem gerade genannten Ambler zu bleiben, ruhig davon ausgehen, dass sich daraus kein neues Ambler-Bild ergeben wird. Nuancenverschiebungen wären dann eher ein Fall für Philologen. Um gerecht zu bleiben: Es gibt Ausnahmen – tatsächlich reparaturbedürftig waren grob gekürzte Titel von beispielsweise Ross Thomas (Neuedition beim Alexander Verlag) oder die erfreuliche (Wieder-)Entdeckung von Dorothy B. Hughes (bei Atrium). Die Konzentration auf „große“ Namen schreibt also eher eine Art „Kanon“ fort, den es sowieso nie gegeben hat. Abgesehen davon, dass das heutige, ganz breite Lesepublikum, das begeistert Sebastian Fitzek oder Klüpfel/Kobr verschlingt, sich keinen Deut um solche „Klassiker“ schert und seine Kriterien vermutlich eher nicht an ästhetischen Maßstäben bildet, die an alten Genre-Ikonen abzulesen wären.

Was an der Unbehaglichkeit bei solchen Kanonisierungsaktivitäten nichts ändert. Denn die Wiederauflage des ausgewählt Altbewährten hat ja eine Stoßrichtung. Wenn man zum x-ten Male Agatha Christie oder Raymond Chandler in den Markt drückt, aber für die Entwicklung und die ästhetischen Möglichkeiten des Genres wichtige Autor:innen wie Pierre Siniac oder Helen Zahavi wiederum außen vor lässt (entweder weil man sie nicht kennt oder weil ihre Ästhetik nicht ins Wellness-Muster passt), dann entsteht in der Tat ein gemütlicher Konsens über die Geschichte des „Krimis“, der die heutige Produktion ex post absichert.

Die oben erwähnten Autoren Robert Thorogood und Robert Osman bedienen den Cozy-Markt, der mit Agatha Christie oder Dorothy Sayers als Garantinnen einer moderne-skeptischen Kriminalliteratur gerade in heller Blüte steht. „Krimi“, so gedacht, bleibt so auf „seinem Platz“ im literarischen Feld, und man hat alles Interesse daran, dass dies auch so bleibt. „Krimi“ soll nette Unterhaltung bieten, das Publikum mit Leichenteilen bespaßen und sonst nicht weiter stören. Wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Special-Interest-Onlineportal Krimi Couch einmütig eine dezidiert misogyne, handwerklich schlecht gemachte Schote wie Josephine Teys Nur der Mond war Zeuge (von 1948, bei Kampa) als Meisterwerk behandeln, dann kann man schlecht eine Tendenz übersehen.

In der Miss-Marple-Welt

Deswegen plädiere ich dafür, den Begriff „Retro“ ein wenig auszuweiten. Ich habe oben Chandler genannt, und Jörg Fauser, die auf den ersten Blick so gar nichts mit „cozy“ zu tun haben – na ja, mit Misogynie vielleicht schon eher. Aber ganz bestimmt nichts mit flauschiger Bespaßung. Aber sie stehen eben auch für eine überkommene Tradition. Was damals neu und innovativ war, wobei sich durchaus eine Linie von Chandler zu Fauser ziehen lässt, ist heute in gewisser Weise auch „retro“, was sich etwa an der Unzahl der sogenannten Country Noirs aus USA, Irland oder Schottland ablesen lässt, die das Prinzip „hardboiled“ stur weiterverfolgen, als habe sich seit Jim Thompsons (des Urvaters des Chandler-induzierten Country Noir) Zeiten wenig geändert. „Retro“ könnte man auch bei Sara Paretskys Romanen um ihre Privatdetektivin V. I. Warshawski (das feministische Counter-Casting zum hartgesottenen männlichen Privatdetektiv) beobachten – ihr jüngst bei uns erschienener Roman Landnahme (Ariadne) unterscheidet sich in seiner Ästhetik um nichts von ihrem Erstling Indemnity Only von 1982, also satte vierzig Jahre zuvor. Tatsächlich war Sara Paretsky vor ihrem Relaunch bei Ariadne für lange Jahre vom deutschen Markt verschwunden. Ihre Wiederkehr kann man also durchaus auch im Kontext der Retro-Welle sehen.

Diese Beispiele zeigen, dass „Retro“ sich nicht auf ideologischen Positionen begrenzen lässt. Zwischen den unendlich vielen Retro-Simulationen, die von Thorogood über Neuauflagen von „Klassikern“, von „Urlaubskrimis“, „Regio-„ und „Blödelkrimis“ bis hin zu linken und feministischen Positionen reichen, gibt es bei aller, gar krasser Unterschiedlichkeit, gemeinsame Nenner. Sie basieren alle auf dem Prinzip der „identifikatorischen“ Lesbarkeit. Wer möchte nicht gerne im problemfreien Miss-Marple-Land leben, wer möchte – chacun à son goût – als postpubertärer Fan nicht einsam und heroisch durch die „mean streets“ streifen? Das Prinzip des realistischen Erzählens nach dem Muster des 19. Jahrhunderts (hier nur als Schlagwort, es ist komplizierter) bleibt dominant. Literarische Widerständigkeit oder Eigensinn werden gerne als Konsumerschwernis gesehen. Die Grenze zwischen kriminalliterarischem Mainstream und Arthouse verläuft eher hier, auf der Ebene der Ästhetik, weniger auf der der Erzählinhalte, obwohl in dieser Konstellation Belanglosigkeit eher die Nase vor gesellschaftskritischer Schärfe hat. Wenn man aber konzediert, dass Literatur ihre Bedeutung eben nicht nur aus Themen und Inhalten und Figuren bezieht, sondern auch und gerade, um Literatur zu sein, aus der ästhetischen Inszenierung, dann wird plausibel, dass auch angebliche Freunde des Genres („Krimis les’ ich gern mal“) mit Retro-Konzepten besser klarkommen als mit Textstrukturen, die die „Literatur“ im klassischen Sinn herausfordern. Der ästhetische Katzentisch stellt sich auf vielen Wegen her, ein so definiertes Genre bleibt zu Recht marginal

Und noch ein Aspekt scheint mir auf der Hand zu liegen. Man hat der Kriminalliteratur immerhin und völlig zu Recht bescheinigt, eine seismografische Sensibilität für gesellschaftliche Verwerfungen zu haben. Insofern kann man auch die kriminalliterarische Retro-Welle in einem größeren Zusammenhang sehen. Wenn man den „Markt“ definiert als Vertriebsmacht plus vermuteter Publikumspräferenz, dann fallen gesamtgesellschaftliche Analogien auf. In Zeiten realer gesellschaftlicher Umbrüche (Diversität, Klima etc.) – durch Pandemie und Krieg gerade noch verschärft – steigt das Verlangen nach Althergebrachtem, dem „Guten, Alten“, zumindest im „Überbau“. Es ist kein Zufall, dass es auch auf anderen Gebieten zu schweren Retro-Anfällen kommt (Wetten, dass und andere Phänome aus der medialen Gruselkiste). Natürlich bedient die Kulturindustrie solche Trends. Aber generiert sie sie auch?

Thomas Wörtche beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Kunst und Kriminalität. Er ist Co-Herausgeber des Portals CulturMag/CrimeMag und Herausgeber eines Programms für Kriminalliteratur bei Suhrkamp

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