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Literatur | Zwischen findigen Spitzen und Spitzfindigem


Link [2022-02-26 11:38:41]



Prof. Erhard Schütz bettet sein Haupt auf Igel und sieht nicht nur Umschläge von Wissenschaftspublikationen mit anderen Augen

Die Stärke des feinen und ebenso illustrierten Reiseberichts Tage in Tokio macht es aus, dass Christoph Peters, der zuvor zwar viel über Japan geschrieben hat, aber noch nie dort war, seinen „inneren Dechiffriermodus“ auf Hochtouren laufen und permanent sein „inneres Japan“ aus Romanen, Bildbänden, Filmen und Expad-Berichten mit dem Erlebten abgleichen lässt. So entsteht vor uns ein Japan, das weder auf seinen Traditionalismus noch auf seinen forcierten Modernismus hin exotisiert wird, sondern im Changieren von Befürchtungen und Erwartungen, aus Deutschland Vertrautem, Medienmythen und nun kleinen, unspektakulären, aber höchst sensiblen Alltagserfahrungen sich so plastisch konturiert, als ob man selbst dort gewesen sei. Dabei auch schöne anekdotische Elemente, etwa das ultramoderne Klo im antiken Traditionsgasthof, dem Ryokan.Rembert Hüser ist eine nicht gerade allfällige Erscheinung unter Kulturwissenschaftlern, gab es doch bislang nicht einmal seine Dissertation gedruckt. Hier ist ein Gutteil seiner Vorträge und Beiträge versammelt. (Standesgemäß, indem es andere aus dem Merkur-Trupp für ihn getan haben.) Es lohnt für alle, die Interesse an Riten, Totems und Tabus der Kulturwissenschaften haben. Popkulturalisiert, ist er ein Virtuose des Samplens. Weniger Disco (Zu Disco und Germanistik s. S. 80) als Cool Jazz. Oder rückverkürzt: ein Karl Kraus fürs Wissenschaftliche. Er nähert sich dem vom Offensichtlichen und daher meist Übersehenen. Etwa über Umschläge von Wissenschaftspublikationen und deren Veränderungen. Mit einem fulminanten Einstieg zum Transfer von Lévi-Strauss’ La Pensée Sauvage ins Suhrkampsche Das Wilde Denken Anfang der 70er. Eine seiner Beobachtungen zu Anfang des neuen Jahrtausends: „Vor lauter Autorenbaum ist der Titelwald der Buchstaben schon fast unsichtbar.“ (H. U. Gumbrecht blickt uns umschlagfüllend an.) Und dann, was er – Mutter aller Turns – den Curatorial Turn nennt, Eventabhängigkeit, Sehnsucht „nach dem Museum für zeitgenössische Kunst“. Ob über filmische Nicht-Interviews oder Briefmarken aus DDR und BRD, stets rechercheintensiv im vermeintlich Abwegigen unterwegs, liefert er überraschende Beobachtungen zwischen findigen Spitzen und Spitzfindigem.

Isaiah Berlins Igel und Fuchs sind gesunkenes Kulturgut. Noch ungeklärt aber, ob der Igel in seiner Beharrlichkeit nicht doch vielerlei nachsinnt und der Fuchs obsessiv nur einer Sache hinterherrennt. Verena Auffermann wäre jedenfalls eine Igelin, die beharrlich einer scheinbar kleinen „großen Sache“ nachgeht, bis diese sich in einer faszinierenden Vielfalt an Wissen und Erfahrungen darstellt, eben dem Igel, der weltweit (außer Australien) in erstaunlichen Varianten auftritt und Jahrmillionen alt ist. In der Reihe „Naturkunden“ geht es naturgemäß um die Natur des Igels, seine Nahrungs- und Fortpflanzungsgewohnheiten, seinen Winterschlaf und seinen Puls, dazu aber auch, was die Kultur aus ihm machte, von steinzeitlichen Schnitzereien bis zu Märchen, die Literatur nicht zu vergessen, von Dostojewski bis Peter Kurzeck, der dem Tod auf den Straßen und der Vergiftung durch Agrarchemie ein rührendes Epitaph lieferte. Was kann man für Igel tun? Nun, entweder sein Haupt auf ein weiches Kissen mit dessen stachligem Konterfei betten, oder ihm ein von Wildlife-World zertifiziertes „Igloo“ als Refugium hinstellen. Beides gibt es bei einem Anbieter von Prä-Brexit-Nostalgica.

Wenn David Baddiel in seiner Kritik am Verhältnis linker Identitätspolitik zu den Juden sich einerseits beschwert, dass es in englischen Buchhandlungen zwar eine eigene Abteilung für jüdische, nicht aber für asiatische oder schwarze Themen gebe, andererseits Beispiele aus dem Kulturbereich anführt, in denen geradezu demonstrativ ignoriert wird, dass ein Autor oder eine Figur jüdisch ist, erscheint das widersprüchlich. Doch sind das zwei Seiten derselben, nicht sehr ehrenden Medaille. „Das Problem ist“, schreibt er, „dass die Juden in einem soziokulturellen Graubereich existieren. Juden sind zwar marginal, gelten aber nicht als marginalisiert.“ Einer der stereotypen Verweise aus dem Paradies der Marginalitätsprivilegien ist, dass Juden ja reich seien. Indischstämmige seien in den USA weitaus reicher, aber das werde ihnen nicht vorgeworfen. Man muss ihm nicht in allem folgen, doch ist bestürzend, wie sehr es zum angeblich linken Komment gehört, Juden ignorant bis abschätzig auszugrenzen, vor allem durch demonstrative Missachtung und dröhnendes Beschweigen. Seine Beispiele stammen aus dem angloamerikanischen Raum, aber die deutschen Ängstlichkeitsparalysen sind ähnlich problematisch: Wir dürfen ja nicht, wie wir wollen, es handelt sich ja um Juden … Bei alledem geht es Baddiel darum, für grundsätzliche blinde Flecken in den Diversitäts-, Repräsentations- und Appropriationsdiskursen zu sensibilisieren. Wenn man denn unbedingt Weißsein definitorisch abgrenzen wolle, meint er, dann nicht durch Hautfarbe und Finanzen, sondern durch Sicherheit vor Diskriminierung.

Info

Tage in Tokio Christoph Peters Luchterhand 2021, 255 S., 16 €

Rembert Hüser: Geht doch Hanna Engelmeier und Ekkehard Knörer (Hrsg.) Verbrecher 2021, 381 S., 22 €

Igel. Ein Portrait Verena Auffermann Matthes & Seitz Naturkunden 128 S., 20 €

Und die Juden? David Baddiel Stephan Kleiner (Übers.), Hanser 2021, 135 S., 18 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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