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Literatur | Zivil und pervers


Link [2022-01-25 08:21:28]



Posthum erscheint David Graebers „Neue Geschichte der Menschheit“. Es ist ein kühnes, geradezu größenwahnsinniges Buch

Wenn die Wünsche von Lesern und Autoren zusammenkommen, entstehen Bücher, auf die, wie es heißt, alle gewartet haben. Und wenn es sich bei einem der Beteiligten um einen Autor handelt, der über Bullshit Jobs schrieb oder der mit einem Buch über Schulden – die ersten 5000 Jahre (2012) Furore machte, kann man voraussehen, es mindestens mit einer grundstürzenden These zu tun zu bekommen. Wenn das Buch es allerdings für den „Anfang von allem“ mit Anmerkungen im englischen Original bei gerade etwas mehr als 700 Seiten belässt, ist man leicht versucht, Etikettenschwindel auszurufen. Vermutlich würde dieser Vorwurf aber danebentreffen, denn David Graeber gehörte zu den unnachgiebigsten Wirtschaftsethnologen und Co-Autor David Wengrow ist der vielleicht bedeutendste Archäologe frühgeschichtlicher Imagination (sein Standardwerk über Monster wartet noch auf eine deutsche Übersetzung). Ernsthafte Rezensionen dieses Buches wird man deshalb erst einmal in den Fachwissenschaften abwarten müssen, bevor ihr Ertrag in die Feuilletons wandert. Denken braucht Inseln der Ausführlichkeit.

Vom Kult zur Kultur

Weil dieser Text also keine echte Rezension ist, kann er anfangen mit der zehnjährigen Vorgeschichte des Buches, mit damals noch unschuldigen Pubbesuchen in London, wo die Autoren zusammenkamen und sich bisweilen der deutsche Medientheoretiker Erhard Schüttpelz dazugesellte. Anfänge,so der deutsche Titel, ist daher auch ein launiges und launenhaftes Buch, animiert vom radikaldemokratischen Geist der Wirtshäuser, der dann vertieft wurde anhand zahlreicher Einzelstudien.

Es ist Wissenschaft, wie sie sich gesprächsweise vollzieht, nicht in Zoomkonferenzen, sondern anhand körperlich erfahrbarer Dichte, auf die bewusste Rückzüge folgen, die auch örtliche Unterscheidung von Recherche und Diskussion, sämtlich Dinge, auf die die akademische Welt der letzten zwei Jahre verzichtet hat. The Dawn of Everything ist selbstredend auch ein größenwahnsinniges Buch. Aber damit karikiert es nur den Größenwahnsinn derer, die den „Anfang von allem“ anhand ihrer Vorurteile und Bedürfnisse anders beschrieben haben, seien es Viktorianer, Marxisten oder Neoliberale. „Everything“, das betrifft die menschliche Vergemeinschaftung, aus der wiederum der moderne Mensch hervorgegangen ist. „Everything“, das ist die Geschichte unserer Zivilisation und Zivilisiertheit.

Nach geläufiger Lesart war das Dasein früher beschwerlicher als heute, zudem unfreier, und wo nicht, sei der Preis dafür Unterentwicklung und Immobilität gewesen, ein Leben jedenfalls geringer Reichweite. Mit der „neolithischen Revolution“, wie der Australier Gorden Childe sie nannte, sei die Menschheit irreversibel vom nomadischen Wildbeuter zum sesshaften Ackerbauern geworden. Mit der Sesshaftwerdung hoben Arbeitsteilung, Versklavung und jede Form von Ungerechtigkeit an. Regulativ oder auch herrisch trat der Staat auf den Plan, mehr schlecht als recht, gleichsam als Preis, den man für ein halbwegs auskömmliches, friedliches und sinnerfülltes Dasein eben zu zahlen habe. Den Druck unfrei machender Institutionen kompensierte die Menschheit mit Kunst, die ihrerseits, im Schatten der „neolithischen Revolution“ sich vom Kult zur Kultur sublimierte. Und dergleichen mehr.

Gegen diese große Erzählung von der zivilisatorischen Alternativlosigkeit fahren Graeber und Wengrow mal gröbere, mal zielgenauere Geschütze auf. Die Autoren wissen: Auch sie stützen sich auf Indizien, in denen der Wunsch das Auge leitet, auch sie lesen ihre Zeugnisse halluzinatorisch. Die Interpretation von Stonehenge (3.000 v. Chr.) oder der frühzeitlichen Monumentalstätte Göbekli Tepe (9.000 v. Chr.) ist offen, aber immerhin gibt es genügend Gründe anzunehmen, dass diese Selbstdarstellungen früherer Gesellschaften und ihrer Kosmologien sich nicht in eine unumkehrbare Kette auf dem Weg vom Jäger und Sammler zum Staatsbürger einfügen. Es gibt Hinweise, dass diese Orte einen Exzess an sozialer Verdichtung markieren (der Soziologe Norbert Elias hätte von einer „höheren Integrationsstufe“ gesprochen), der rituell begangen wird, aber den man nachher wieder einkassierte. Oder einfacher: dass Insignien der Herrschaft über andere immer wieder zugunsten von Freiheit und Freizügigkeit abdanken mussten.

Checks and Balances gegen Unfreiheit

An solchen Stellen zeigt sich auch der Gewinn, der aus der Verschränkung archäologischer mit ethnologischen Perspektiven resultiert. Zwar ist dieses Verfahren riskant, einfach weil die Gleichsetzung zu manchem Kurzschluss führt, allerdings kann man diese Gefahr ein wenig abmildern, indem man zugibt, dass frühere Kollektive keineswegs schlichtere Gemüter hervorgebracht haben als heutige. Ethnologische Beobachtungen im Amazonasbecken, an der nordamerikanischen Westküste, unter den Inuit oder auch in Zentralafrika haben ausreichend Belege gesammelt dafür, dass jahreszeitliche Rhythmen mit ebensolchen der selbst auferlegten Unterwerfung einhergehen, beispielsweise indem man einem Clan eine Art Polizeimacht zugestand, die er im nächsten Jahr wieder abzugeben hatte. Es bestand quasi ein System aus Check und Balances, das die dauerhafte Etablierung von Unfreiheit verhinderte. Ein Echo davon steckt auch in den uns in Europa überlieferten Inszenierungen, in den Travestien der Karnevalsriten beispielsweise.

Aber Wengrow und Graeber gehen noch einen Schritt weiter: Formelhaftigkeit und Gestus seien Ritualen eigentümlich und die Formelhaftigkeit der ersten Königtümer ist womöglich ein Indiz, dass Könige dem Ursprung nach Ritualkönige waren.

Überhaupt stürzen sich die Autoren erfreulich auf die liminalen Bereiche der herangezogenen Gesellschaften, sprich die Weise, wie sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung befreiten. Der Soziologe Michael Mann in seinem berühmten Werk Geschichte der Macht, aber auch der bereits angeführte Erhard Schüttpelz haben „Liminalität“ als eigenständige Machtquelle aufgezeigt, aber auch als Möglichkeit zur Begrenzung totaler Herrschaft mithilfe von Übergangsriten. Rituale der Geburt, der Taufe, der Initiation schützten vor der politischen Macht und Einflussnahme. Die politische Macht selbst bedurfte der Legitimation durch „Wächter“ der Liminalität – Priester, Dichter oder Personen, die sich selbstlos opfern. Herrschaft blieb somit begrenzt und reversibel, ohne dass die Gesellschaft deshalb zerfallen wäre.

Edle Primitive, nur erfunden?

Die Reflexivität von Gesellschaften, die keine (dauerhafte) Herrschaft akzeptieren, soll keine pure Unterstellung zugunsten „edler Wilder“ sein, wie sie Rousseau und seine Nachfolger gezeichnet haben. Gerade auf den ersten hundert Seiten dreht das Buch eine beliebte Perspektive um: Es sind nicht die Europäer, die seit Montesquieus berühmten Persischen Briefen (1721) sich den Blick kulturell Fremder erfinden und ihre geheimen Wünsche in Indianerspiele projizieren, sondern es sind tatsächlich kluge und skeptische Indigene, die ihre europäischen Besucher beobachten, um alsbald zu beschließen, dass deren Zivilisiertheit eine Perversion ist. Den fremden Blick der Anderen, die Staatlichkeit ablehnen, ernst zu nehmen, obgleich er zuerst durch den Blick uns historisch fremder Eigener – jesuitischer Missionare im späten 17. Jahrhundert – vermittelt wurde, das allein würde den großspurigen Titel rechtfertigen. Es ist eine Provokation für Rassisten wie auch für jene linken Antikolonialisten, die ihren vermeintlichen Schützlingen weder Eigeninteressen noch Handlungsmacht zugestehen wollen.

Graeber und Wengrow bekennen, dass sie die Vergangenheit öffnen wollen, um die Zukunft zu dekolonialisieren. Ethnologische Aufklärung heißt: Wenn es keine Einbahnstraße von der Sesshaftigkeit zur Staatsbildung gibt, gibt es keine edlen Primitiven, keine verlorenen Paradiese, aber unendlich viel Grund für Vertrauen in kollektives Handeln.

Als David Graeber 2019 in Venedig starb, empfing nicht eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tod. Wie wenige hat Graeber Wissenschaft und soziale Aktion zusammengeführt. Dieses Gemeinschaftswerk legt davon nicht bloß Zeugnis ab – es legt dazu den Grundstein.

Info

Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit David Graeber, David Wengrow Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen (Übers.), Klett-Cotta 2022, 672 S., 28 €. Das Buch erscheint am 29. Januar

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