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Literatur | Wahrheit ist ein Begriff, mit dem die Menschen einander geißeln


Link [2022-02-27 09:13:33]



Prof. Erhard Schütz kann jetzt Hyperinflation und Klimawandel erklären und erfreut sich an einer urbanen Naturkunde

Vor 40 Jahren starb der deutsche Wald, jedenfalls in den Medien. Schuld waren angeblich die industriellen Emissionen. Zeitgleich starb auch der Wald auf Hawaii, wo es keine schwefligen Beelzebuben der Industrie gab. Hier wie dort erholten sich die Wälder wieder und rein quantitativ gibt es heute mehr davon als zuvor. Als tiefere Ursache für beide – vorübergehenden – Schadensfälle erkannte man später Klimaveränderungen, starke Schwankungen, verstärkt durch Probleme von Monokulturen und, ja, auch Industrie-Abgase. Die Wirkungen solcher „Klimaveränderungen“ wurden bereits in den 1950ern analysiert und sind in den „Klimawandel“ übergegangen.

Der Biogeograf Hans Jürgen Böhmer hat das sehr anschaulich dargestellt. Nicht zuletzt erinnert er an die Vergesslichkeit auch der Wissenschaften, die in relativ kurzer Zeit das ökologische Klima-Rad mehrfach erfinden mussten, um nun allmählich durchzudringen zu komplexeren Zusammenhängen sowohl der Wälder als auch des Klimas. Zusammenhänge, die kurzfristige oder vermeintlich wohlfeile Lösungen wie Ersatz der einen durch die andere Baumart, die Bewaldung von Steppen oder Grünflächen eher als zu kurzgriffig, gar kontraproduktiv erscheinen lassen. Aus diesem sehr klar geschriebenen Buch lernt man daher nicht nur viel zu Wald, Klimawandel und Ökosystem, sondern zugleich, angesichts komplexer Verhältnisse nicht voreilig reduktionistisch zu reagieren.

Der durchschnittlich gut über seine Stadt Informierte dürfte in wesentlichen Zügen das kennen, was Kirsty Bell über Berlins Geschichte erzählt, doch die 2001 zugezogene New Yorkerin tut es auf eine so originelle Weise, dass man es geradezu als Nature Writing durchgehen lassen kann, nämlich Beobachtungen zur Naturgeschichte der Stadt. Sie beobachtet, recherchiert, gräbt und breitet aus, in ständigem Verweben von Jetzt und Damals, Persönlichem und Aktenkundigem. So geht es etwa mit Fontanes Irrungen, Wirrungen durch den Westen, vom Landwehrkanal zu Rosa Luxemburg, mit Joseph Roth zum Gleisdreieck, mit Gabriele Tergit als Zeitzeugin durch die Überbleibsel der 1920er – und so fort.

Es gibt manchmal Mystifikatorisches, als hätte Forrest Gump Walter Benjamin gelesen, allermeist aber handfestere Weisheiten, wie: „Die Berliner können sich zwar leidenschaftlich mit bürokratischen Details beschäftigen, sind und waren aber weniger aufmerksam bezüglich anderer Bereiche des täglichen Lebens, die das allgemeine Wohlbefinden steigern (…) können.“ Nun, dieses Buch kann es!

Eine Frau geht mit einem Korb voller Geld zum Einkaufen, stellt ihn kurz ab. Der Korb wird gestohlen, das Geld ist noch da – berichtete 1923 der Guardian von der deutschen Hyperinflation. Georg von Wallwitz, studierter Mathematiker und beruflich Fondsmanager, hat bemerkenswerte Bücher zu historischen Wirtschaftsfragen geschrieben. Doch dies ragt heraus. Bis heute, schreibt er, gebe es keine vollständig befriedigende Theorie zur Inflation, aber eine Reihe von Faktoren, die immer wieder in und zu ihr auftauchen, „wie die Täter am Ort des Verbrechens“. Locker verknüpft die Darstellung ihre Erkenntnisse zur damaligen Situation und zu derzeitigen Entwicklungen mit treibenden deutschen Akteuren, die teils durch Mord, wie Erzberger und Rathenau, teils im Bett, wie Reichsbankpräsident Havenstein oder der Industrielle Hugo Stinnes, oder durch Unfall, wie der Wirtschaftswissenschaftler, Bankier und Politiker Karl Helfferich, während oder zum Ende der Inflationsjahre starben.

Hinter jeder Inflation stehe „ein Staat auf tönernen Füßen“. Über weite Strecken erscheint die Inflation damals als ein Strafgericht gegen die Sünden der Ignoranz und der allgemeinen Korrumpiertheit, der Arbeiter ebenso wie der Kriegsgewinnler, Schieber und Bankiers. Hier kann nicht annähernd referiert werden, wie von Wallwitz die Situation aus der des Kriegs und der internationalen Verflechtungen ebenso entwickelt wie aus den heimischen Entwicklungen zwischen Fatalismus und Lösungsvorschlägen, etwa dem, die Währung an die Roggenernte (und damit an die Witterung) zu koppeln. Eins noch. Sein Rat an unsereins heute steht in Fußnote 158 versteckt.

Vorurteilshaft nicht sehr motiviert von seinem Zauselbart, habe ich Clemens J. Setz lange ignoriert, bis mich die wunderbare Dankrede zum Büchner-Preis eines Besseren belehrte. Die Wahrheit ist: Der Mann ist schlichtweg einzig! Wer das testen will und nicht an die Büchner-Rede kommt, dem sei dies Büchlein mit Gedankenspielen über die Wahrheit anempfohlen. Es geht darin um ein „eigentümliches Zweitrecht auf Wahrheit“, um „überstark als ‚wahr‘ empfundene Beobachtungen“, etwa vermeintlich erinnerungsverbriefte Zitate, Anekdoten, wie sie Setz bei Roger Willemsen, Werner Herzog oder sich selbst fand, oder auch um Poesie: „Das, was wir Poesie nennen, ist der von der Menschheit ‚hergestellte Speicher‘ von ‚kleinen Wahrheiten‘, denn (...) Wahrheit ist ein Begriff, mit dem die Menschen seit Jahrhunderten einander geißeln.“

Info

Beim nächsten Wald wird alles anders. Das Ökosystem verstehen Hans Jürgen Böhmer Hirzel 2022, 208 S., 24 €

Gezeiten der Stadt. Eine Geschichte Berlins Kirsty Bell Laura Su Bischoff, Michael Bischoff (Übers.), Kanon 2021, 320 S., 28 €

Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war Georg von Wallwitz Berenberg 2021, 320 S., 25 €

Gedankenspiele über die Wahrheit Clemens J. Setz Droschl 2022, 48 S., 10 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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