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#Linkemetoo | Julia Schramm verlässt Vertrauensgruppe der Linken: „Ganz ehrlich: Wir waren naiv“


Link [2022-04-27 09:01:37]



Die Politikerin Julia Schramm gesteht im Gespräch eklatante Fehler der Linken im Umgang mit Sexismus und Übergriffen ein. Jetzt zieht sie Konsequenzen

Die Linkspartei wird von Vorwürfen sexualisierter Gewalt erschüttert, über 60 Betroffene meldeten sich bislang. Zunächst wurden zwei Fälle öffentlich: 2018 soll ein 41-jähriger Mitarbeiter der hessischen Linksfraktion ein 17-jähriges Parteimitglied missbraucht haben – der Mann war Partner der damaligen hessischen Landesvorsitzenden und heutigen Bundesvorsitzenden Janine Wissler. 2017 soll ein Stadtrat in Nürnberg gegen Mitglieder übergriffig geworden sein. Julia Schramm arbeitete in der Vertrauensgruppe zur Aufarbeitung dieser Fälle – und zieht sich nun daraus zurück.

der Freitag: Frau Schramm, im November 2021 wurde Janine Wissler über Vorwürfe sexueller Übergriffe in Wiesbaden informiert. Der Kreisverband beschloss daraufhin, einen Verhaltenskodex zu erarbeiten. Vier Jahre nach #metoo gab es in der Linken keinen Plan zum Umgang mit sexuellen Übergriffen?

Julia Schramm: Die Debatte um #linkemetoo hat in der Tat große Leerstellen unserer Partei offengelegt. Das haben wir in der Vertrauensgruppe, die sich im Herbst 2021 formierte, schnell gemerkt.

Viele Organisationen haben seit Jahren Strukturen für solche Fälle. Wieso gründete die Linke erst 2021 eine Vertrauensgruppe?

Wir haben hier tatsächlich großen Nachholbedarf – ich glaube, das liegt auch daran, dass sich die Partei seit einigen Jahren nur noch an die Gurgel geht. Das ist uns bei der Bundestagswahl 2021 politisch auf die Füße gefallen. Und das fällt uns jetzt, im Umgang mit diesen furchtbaren Vorkommnissen von sexualisierten Übergriffen, strukturell auf die Füße.

Sie sind von der Piratenpartei zur Linken gewechselt. Welche Erfahrungen mit Sexismus machten Sie dort?

2012 haben wir uns bei einem internationalen Treffen der Piraten in Prag zum ersten Mal unter Frauen getroffen. Ich hatte damals meinen ersten Shitstorm hinter mir und langsam begriffen, wie Sexismus in voller Montur aussieht. Es kam ein wütender Parteigenosse in unser Frauentreffen und schrie herum – wir warfen ihn hinaus. Der Mann wurde wichtiger Politiker in Tschechien. Bei den Piraten war alleine schon die Gründung von Frauengruppen ein Skandal.

Gab es sexuelle Übergriffe?

Ja. Ein zentraler Grund, warum ich aus der Piratenpartei ausgetreten bin, war ein Fall sexualisierter Gewalt, den ich mitbekommen hatte. In der Linken bin ich dann auf ein wesentlich ausgeprägteres Verständnis von Sexismus und patriarchaler Gewalt gestoßen.

Inwiefern?

Bei der Linken gibt es ganz selbstverständlich quotierte Redner*innenlisten, Quotenregelungen, in der Bundessatzung ist ein Frauenplenum mit Interventionsmöglichkeiten verankert, es tagt regelmäßig bei Parteitagen.

Zur Person

Julia Schramm, 36, ist Mitglied im Vorstand der Linkspartei und arbeitet als Referentin für den Fraktionsvorstand im Bundestag. Seit 2021 ist sie Mitglied der Vertrauensgruppe zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Linken. Bis 2014 war Schramm in der Piratenpartei aktiv

In Bayern wurde im Oktober 2021 ein solches Frauenplenum für Männer geöffnet. Dadurch saß der Stadtrat aus Nürnberg, der mehrerer Übergriffe bezichtigt wird, als Zuhörer in jener Runde, die sich über den Schutz vor eben diesem Stadtrat austauschen wollte. Wie kann das passieren?

Das müssen Sie die Bayern fragen.

Schon auf dem Thüringer Landesparteitag 2020 wurde im Frauenplenum über Fälle sexualisierter Übergriffe in Bayern gesprochen. Eine junge Betroffene stand weinend am Mikrofon. Wie kann es sein, dass die Parteiführung erst Ende 2021 eine Vertrauensgruppe bildet?

Das ist furchtbar und ich höre gerade zum ersten Mal davon. Ich habe von dem ganzen Fall erst gehört, als die Betroffenen aus Nürnberg sich an den Parteivorstand gewandt haben – ich bin sofort tätig geworden. Aber offensichtlich läuft gerade in diesen Fällen eine Menge an Kommunikation in der Partei falsch.

Wie tief kann das feministische Verständnis der Linken denn sein, wenn es sich in Luft auflöst, sobald es um konkrete Fälle patriarchaler Gewalt geht?

Es ist menschlich, sexuelle Übergriffigkeit nicht wahrhaben zu wollen, wenn man einer Täterperson nahesteht. Davon kann sich niemand frei machen. Dazu kommt, dass man in einer Partei dazu neigt, verdienstvollen Genossen, die für die Partei viel geleistet haben, viel durchgehen zu lassen.

„Das sind Alphatiere, die viel Arbeit wegschaffen“, sagte ein Mitglied aus Hessen.

Und das ist ein unhaltbares Problem. Als Parteivorstand und Partei müssen wir jetzt, neben lückenloser Aufklärung, für bessere Regeln im Umgang mit Vorfällen von sexualisierter Gewalt sorgen. Dafür brauchen wir einen Kulturwandel. Der Parteivorstand hat unter anderem entschieden, dass Männer beim kommenden Parteitag nicht einfach Freizeit haben, wenn die Frauen, Trans- und Interpersonen ihre Plena durchführen, sondern dass es einen Workshop zu kritischer Männlichkeit geben wird. In Niedersachsen etwa gibt es schon länger ein Männerplenum.

Wie kommt die Arbeit Ihrer Vertrauensgruppe voran?

Wir arbeiten seit Herbst 2021, und ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir waren absolut überfordert. Wir hatten den naiven Glauben, Aufklärung betreiben zu können, und sprachen mit allen Betroffenen. Das war falsch und das tut mir rückblickend auch leid. Wir haben das selbst schon zu Beginn des Jahres erkannt und entsprechende Anträge bearbeitet, die jetzt auch beschlossen worden sind. Die Ereignisse haben uns dann aber überrollt.

Das war unprofessionell.

Wir hätten von Anfang an Expert*innen hinzuziehen müssen, eine neutrale Stelle. Am Wochenende haben wir im Parteivorstand auch beschlossen, dass die Vertrauensgruppe nur noch Brückenfunktion hat zur externen Aufarbeitungsstelle und den Aufbau professioneller Strukturen begleitet. Ich selbst bin ab jetzt daher nicht mehr Teil der Vertrauensgruppe – weil ich die öffentliche Debatte für zwingend halte.

Treten Sie aus der Vertrauensgruppe auch zurück, weil Sie im Parteivorstand sind und es hier Interessenskonflikte gibt? Der Vorstand hat schließlich die Aufgabe, die Partei zu schützen.

Der Vorstand muss in erster Linie die Partei leiten, aber das heißt auch: unsere Mitglieder schützen! Damit das auch funktioniert, braucht es externe Expert*innen. Die ziehen wir jetzt hinzu.

Sie stehen ja vor einem Problem, vor dem jede Organisation steht: Wird ein Vorwurf sexualisierter Übergriffe erhoben, dauert es lange, bis strafrechtliche Ermittlungen greifen. Wartet man ein Urteil ab und zieht sich der Täter zurück, wird die Betroffene faktisch von der Teilnahme in der Partei ausgeschlossen. Gleichzeitig gilt die Unschuldsvermutung. Wie gehen Sie damit um?

Es ist eine politische Entscheidung, zu sagen: Äußern Betroffene Vorwürfe sexualisierter Übergriffe, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie sich das nicht ausdenken – und es werden Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen: Freistellung des Beschuldigten, Rückzug aus Sitzungen, Entzug der Möglichkeit einer Kandidatur, also des passiven Wahlrechts, sind Möglichkeiten. Die Hürden für solche Maßnahmen müssen aber hoch sein, damit sie nicht instrumentalisiert werden. Auf dem Parteitag im Juni werden wir darüber verhandeln.

Sie sprachen von Kulturwandel.

Ich bin der Linksjugend sehr dankbar, dass sie dafür sorgt, im Umgang mit Sexismus und sexualisierten Übergriffen neue Standards zu setzen. Ich bin ja auch in der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ in Berlin aktiv. Auch dort gab es einen sexualisierten Übergriff. Die Betroffene erstattete Strafanzeige, der Aktivist wurde als Sprecher abgesetzt. In der jüngeren politischen Generation gibt es eine Null-Toleranz-Haltung gegenüber sexistischem Verhalten, für die ich dankbar bin.

Wo bleibt die Null-Toleranz-Haltung in der Linken-Führung? Janine Wissler wusste, dass ihr Partner und Mitarbeiter mit einer Minderjährigen Sex hat und über ihren Balkon steigt. Sie trennte sich, aber er blieb Mitarbeiter. Ich erinnere daran, dass 2017 eine politische Größe wie der britische Verteidigungsminister Michael Fallon zurück trat, weil er seine Hand auf das Knie einer Journalistin legte. Wieso ist Wissler noch im Amt?

Der Fall in Hessen zeigt, wie problematisch die Verflechtung von privaten Beziehungen und Parteistrukturen ist. Es darf nicht erlaubt sein, dass eine Fraktionsvorsitzende mit einem Fraktionsmitarbeiter zusammen ist. Entsteht eine solche Beziehung, muss eine*r der Beteiligten seinen Job wechseln. Ich finde es aber richtig, dass wir als Parteivorstand gemeinsam den Parteitag vorbereiten. Was dort dann passiert, wird sich zeigen.

Wie soll ich als Feministin eine Partei wählen, deren Vorsitzende es nicht schafft, sexuellen Missbrauch zu erkennen, der vor ihren Augen stattfindet?

It’s always darkest before the dawn. Die Vorkommnisse sind so schwerwiegend, dass wir beschlossen haben, dass der gesamte Parteivorstand im Juni neu gewählt werden muss. Wir müssen uns alle fragen, wie wir in dieser Partei weitermachen können. Es muss jetzt echte Veränderungen geben. Wir haben viele sehr engagierte junge Mitglieder, denen ich viel zutraue. Und ich bin überzeugt, dass es eine linke Partei braucht.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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