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Kunst | Venedig Biennale setzt auf Teilhabe des Publikums: Wir sind drin


Link [2022-05-21 23:13:39]



Auf der 59. Venedig Biennale, der ältesten und wichtigsten Kunstschau der Welt, wird das Publikum in diesem Jahr mehr denn je als bewegter, mitfühlender und mitdenkender Akteur mit einbezogen

Der Knaller der diesjährigen Venedig-Biennale liegt weit außerhalb. Nicht in der Hauptausstellung, nicht in den Arsenale, nicht in den Giardini, sondern im abseitigen Stadtquartier Cannaregio, in der profanierten Kirche Chiesetta della Misericordia. Die Niederländer haben ihren Pavillon in den Giardini Estland überlassen und die Kirche angemietet, um der Künstlerin und LGBTQ+-Aktivistin Melanie Bonajo mit ihrer Installation When the body says Yes einen angemessenen Raum zu bieten.

Doch sehen wir uns zunächst an anderer Stelle um. Denn die Konkurrenz ist groß, der Besuch auf der Venedig-Biennale mehr denn je wert. Das liegt an einem Widerspruch. Dieser erwächst aus dem immer noch virulenten Gegensatz zwischen den, wenn man so will, klassischen bildenden und den perfomativen Künsten, also Aufführungsformaten, Live-Acts und begehbaren Bühnenräumen, in denen das Publikum als beobachtende Darsteller:in aufgerufen wird. Seit 2015 gehören diese Formate zum festen Bestandteil der Venedig-Biennale. Ihr damaliger Kurator Okwui Enwezor richtete in der Hauptausstellung eine große Bühne für Darbietungen aller Art ein. Die Grande Dame der Performancekunst Joan Jonas erhielt damals für ihren Auftritt im amerikanischen Pavillon eine Auszeichnung ebenso wie die Künstlerin und Aktivistin Adrien Piper für die partizipative Performance The Probable Trust Registry. Die Biennale 2017 feierte Anne Imhofs Dauerperformance Faust, zwei Jahre später erhielt das theatralische Tableau vivant The Sun and the Sea des litauischen Pavillons ebenfalls einen Goldenen Löwen. Das post-performative Zeitalter war angebrochen.

Doch so sehr sich die raum- und zeitbezogenen Künste, Bild und Bewegung, Atelier, Bühne, Galerie und Theater in den letzten Jahrzehnten aufeinander zubewegt haben, so sehr sind ihre Gegensätze und im besten Fall produktiven Spannungen weiter zu spüren – in Venedig 2022 allemal.

In der Hauptausstellung in den Giardini und den Arsenale The Milk of Dreams reibt man sich jedoch zunächst die Augen. Deren Kuratorin Cecilia Alemani streicht zwar in ihrem offiziellen Statement heraus, dass „die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen“ für sie von zentraler Bedeutung sei. Aber wo bleibt hier die Performance? Die Tänzerinnen Mary Wigman (1886 – 1973) und Josephine Baker (1906 – 1975) werden in Filmdokumenten mit exotischen Tänzen präsentiert. In den Arsenale sind die wunderbar grotesken Figurinen der Choreografin Lavinia Schulz (1896 – 1924) und ihres Kollegen Walter Holdt (1899 – 1924) zu sehen. Schulz beging in Hamburg Selbstmord, nachdem sie ihren Lebensgefährten Holdt erschossen hatte. Ihre Kostüme wurden erst 1988 durch Zufall wiedergefunden und zum ersten Mal einer internationalen Öffentlichkeit gezeigt. Atemberaubend und verlockend die Idee, sie in einer Aufführung zu sehen. Hier ausgestellt nehmen sich wie Feigenblätter aus. Aktuelle Aufführungsformate? Dazu muss man im Zentralen Pavillon ganz nach hinten gehen.

Kroatien macht es vor

In dem großzügigen Oberlichtsaal ist die 1947 geborene US-amerikanische Meisterin der Appropriation Art Louise Lawler mit ihrer großformatigen Fotoserie No Exit zu sehen. Sie bereitet die Bühne für die Aufführung Encyclopedia of Relations der rumänischen Choreografin und Performance-Künstlerin Alexandra Pirici, Jahrgang 1982. Ihre Performer fallen den Besucher:innen zunächst kaum auf. Man sieht sie müßig schlendernd oder interessiert vor Lawlers Bildern stehen, angenehme junge Zeitgenossen unter vielen. Nach einigen Minuten lösen sich die vier Performerinnen und die zwei Performer aus dem Besucherstrom und formieren sich vor der weißen Eingangswand. Wer weder Katalog noch Saalzettel konsultiert hatte, wird jetzt irritiert sein. Die sechs gruppieren sich zu einer triumphalen Pyramide. Die beiden Männer schultern eine junge Frau, eine zweite kniet daneben, die dritte robbt am Boden, die vierte vollführt ihr Artistenkompliment, während die ganze Truppe, Skulptur in Bewegung, langsam und anmutig nach vorne schreitet. Darauf verteilen sie sich im Raum und nehmen den Ruf und den verhaltenen Tanz einer Mitspielerin in kurzen, abstrusen Bewegungen und Lauten im Echo auf. Als Abschusstableau verharren sie in der Mitte des Saals. Wer hier an Rodins Figurengruppe Die Bürger von Calais (1885) denkt, liegt nicht falsch.

Louise Lawler und Alexandra Pirici, eine geglückte, ja beglückende Begegnung. Denn Lawler bereitet der Jüngeren nicht nur eine Bühne, sondern liefert auch eine konzeptuelle Vorlage. Seit ihren Anfängen setzt sich Lawler fotografisch mit dem Status des Kunstwerks als kontextgebundenem mithin fetischisiertem Objekt auseinander. Hier in Venedig ist sie mit dunklen Fotos aus einer Werkschau des Künstlers Donald Judd im MoMA vertreten. Alexandra Pirici setzt mit ihrer Aufführung die Institutionskritik und Anfragen an künstlerische Machtsetzungen im Performativen fort. Bereits 2013 vertrat sie mit ihrem Kollegen Manuel Pelmuș ihr Heimatland auf der 55. Venedig-Biennale. Die Arbeit An Immaterial Retrospective stellte im ansonsten leeren Pavillon berühmte Skulpturen der Venedig-Vergangenheit mit großem Unterhaltungswert performativ nach, Joseph Beuys’ Straßenbahnhaltestelle (1976) zum Beispiel. 2019 lud Pirici das Art-Basel-Publikum zum Entspannungstraining in einen aufblasbaren Pavillon auf dem Messeplatz. Formierung einer kritischen Masse oder soziale Skulptur? Die Antwort darauf bleibt unausgemacht. Sie dürfen als unaufgeregt diskrete Gesten gelten, Einladungen, Beziehungsmuster zu erleben und neu zu gestalten, mehr durch Körper, Bewegung und Begegnung als kopfgesteuert. Damals wie heute ging es darum, groß gedachte Kunst vom Sockel zu holen, gestanzte Körper-Bilder neu zu formatieren.

Wie sich dieses Prinzip auf die oft als koloniale Überbleibsel kritisierten Länderpavillons anwenden lässt, macht Kroatien vor. Es verzichtet auf einen Pavillon und setzt radikal auf einen KI-gesteuerten situationistischen Akionismus. Der in den Niederlanden lebende kroatische Künstler Tomo Savić-Gecan hat für Untitled (Croatian Pavilion) eine kleine Truppe Performer:innen zusammengestellt, die täglich, gesteuert durch ein Computerprogram, in vier bis fünf Länderpavillons auftauchen, in denen sie diskret eine Aufführung geben. Ein Algorithmus, bestimmt durch 250-Online-Newsticker, gibt Zeit, Ort und Choreografie vor. Top news become top moves. Das ist klug inszeniert. Denn nicht nur, dass die nationale Präsenz unterlaufen wird. Zugleich stellt sich die Frage nach Autonomie, Selbst- und Fremdbestimmtheit, nicht nur in der Kunst.

Ein Monsterrattenschwanz

Warum gibt es in Venedig nicht mehr solcher Veranstaltungen? Sicher ist das auch Corona geschuldet. Es muss vorab geprobt werden und die Entwicklung der Pandemie war schwer vorherzusagen. Zum anderen ist es eine Geldfrage. Darsteller:innen müssen bezahlt werden. Ein Objekt dagegen rechnet sich für die Aussteller. Die oft horrenden Herstellungskosten werden von den Galerist:innen getragen. Will ein Kurator Performatives, haben daher immersive Räume Konjunktur, in denen die aktive Teilhabe des Publikums gefragt ist.

Die formale Spannweite ist groß. Sie reicht in der Hauptausstellung von Barbara Krugers Untitled (Beginning/Middle/End), ein gewaltiger konzeptueller Appell-Raum, in dem ein schwarz-weißes, von Signalrot unterbrochenes All-over von zivilisatorischen Botschaften und post-feministischen Statements auf den Betrachtenden hereinbricht, bis hin zu Marianna Simnetts verstörender Drei-Kanal-Videoinstallation The Severed Tail. Die 1986 in London geborene und in Berlin beheimatete Videoinstallationskünstlerin konfrontiert mit einem Sadomaso-Club, in dem es den Agierenden in Tierkostümen vor allem um die Exposition und Extraktion von Tierschwänzen geht. Das geht für viele so lange gut, bis realisiert wird, dass es sich bei der durch die Blackbox gewundenen flauschigen Sitzgelegenheit um einen abgeschnittenen Monsterrattenschwanz handelt. Auch wenn uns jetzt Ekel ergreift, wir sind nicht mehr teilnahmslos, draußen, sondern, selbst wenn wir die Flucht ergreifen, drin und Teil vom Ganzen.

Das Publikum soll als bewegter, mitfühlender, mitdenkender Akteur herangeholt werden. Damit sind wir wieder in der Chiesetta della Misericordia. Jenseits der lauten Aufmerksamkeitsökonomien gelingt dort der 1978 geborenen queeren Künstlerin Melanie Bonajo eine berührende und überzeugende Plattform, monumental und diskret zugleich.

Der Ort ist mit Bedacht ausgewählt. Hier hatte 2015 Christoph Büchel für Island mit The Mosque für wenige Wochen bis zur behördlichen Schließung eine Moschee für die venezianische Islamgemeinschaft etabliert. Bonajos Installation kann so auch als zaubergleiche, über Bande gespielte Kampfansage gelten: statt Gebetsteppichen nun Kuschelkissen, statt Lüstern Schummerdunkel, lange Spinnwebfäden hängen aus der Decke und die Mihrab, die Nische, nach der sich die Gemeinde zum Gebet ausrichtet, ist einer gewaltigen Bildleinwand gewichen, auf der nackte Akteurinnen der LGBTQ+-Community um die Mitte dreißig sich gegenseitig ihre geölten Körper reiben. Das hatte nichts Aufdringliches, nichts Pornografisches. Dafür sorgten schon die trockenen Erfahrungsberichte zu Körperlichkeit und Sexualität der Teilnehmer:innen unterschiedlicher Kulturkreise aus dem Off. Sie sprechen von Aufmerksamkeit, Geschlechtlichkeit, Begegnung und Berührung jenseits trainierter Sexualität. Die Künstlerin ist so klug, Distanz als Kraft der Kunst zu wahren. Warf man sich bei Büchel zum Gebet gen Mekka, erspart uns Bonajo den letzten partizipativen Schritt zur Mitmachaktion und entlässt uns als potenzielle Evangelisten ihrer frohen Botschaft: „Feeling is a form of intelligence, thinking through touch.“ Das ist Kunst, die berührt.

Info

Die 59. Biennale in Venedig läuft noch bis 27. November

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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