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Kriegsspielerei | Globale Demenz im Anmarsch


Link [2022-06-17 22:31:23]



Der Bulgare Georgi Gospodinov ist einer der eigenwilligsten Schriftsteller der europäischen Gegenwartsliteratur. Sein satirischer Roman „Zeitzuflucht“ ist fantastisch und hochpolitisch

Es hilft Alzheimer-Kranken, wenn man sie mit lieb gewordenen Erinnerungen umgibt. Im Schweizer Sanatorium des Psychiaters und Künstlers Gaustín sind das nicht nur Möbel oder Bilder, für die Patienten werden sogar Zeitungen von einst nachgedruckt. Jede Etage ist aufwendig einem anderen Jahrzehnt gewidmet. Welche Filme oder Jeansmarken waren in Mode, welche Musik, wie rochen die Seifen? Da soll der Ich-Erzähler den Freund beraten. Denn er hat ein Faible für solche Einzelheiten, wie auch der Bulgare Georgi Gospodinov, einer der eigenwilligsten europäischen Schriftsteller dieser Zeit. Vor ein paar Jahren soll der Autor sich mit dem Gedanken getragen haben, in Sofia ein Museum über die sozialistische Zeit zu eröffnen, liest man in der NZZ, realisiert hat er ein Oral-History-Projekt, bei dem Menschen ihre Biografien erzählten. Nicht aus Nostalgie, im Gegenteil. Gegenüber der Zeit sagte Gospodinov: „Ich öffnete die Menschen für sich selbst.“ Mit seinem Roman Zeitzuflucht ist Gospodinov nun eine unheimlich aktuelle, manche sagen, fast hellseherische Allegorie auf unsere Gegenwart gelungen.

Doppelbödig ist vieles, was wir in der „Klinik für Vergangenheit“ erleben, Traumata scheinen nur auf. Herr N. trifft Herrn A. vom Geheimdienst. Wie makaber: Er ist dem Spitzel dankbar, dass er ihn an seine Geliebte erinnert. Herr A. plaudert schamlos drauflos, wie er die Frau erpresste, verlässt sich darauf, dass N. vergessen hat, was er im Gefängnis erlitt. „Muss man die Angst erwecken, das Gedächtnis für Angst?“, überlegt der Ich-Erzähler. Ein anderer Patient versteckt sich gern hinter dem Vorhang. Eine Alte will keinesfalls unter die Dusche ...

„Es ist eine globale Demenz im Anmarsch“, so Gaustín. Ins Sanatorium kommen zunehmend auch Jüngere, die sich im Heute verloren fühlen, zurückwollen, Trost suchen. So steckt im Titel des Romans etwas Umfassendes: Die Überforderung in der Gegenwart, die Angst vor der Zukunft scheinen einen Sog in die Vergangenheit zu erzeugen, eine Sehnsucht.

Der Roman ist ein Gedankenspiel. Mal heiter, mal bissig, mal bitterernst, birgt er eine melancholische Unterströmung: Der Autor teilt mit uns seine Gedanken über das Älterwerden, das Vergessen, die Sorgen darum, was kommt. Das Fremdheitsgefühl – grau und trist, wie es in Wirklichkeit ist, wird in diesem Roman mit erzählerischer Fantasie umhüllt. „Die Vergangenheit ist nicht nur das, was dir passiert ist. Manchmal ist sie jenes, das du nur erfunden hast.“

2029 wird 1939 nachgespielt

Versuchungen der Nostalgie: Irgendwann würden solche Kliniken vielerorts stehen, meint Gaustín, eines Tages könnte es gar „einen ganzen Staat der Vergangenheit“ geben. Was wäre, wenn sich Bürger per Referendum ihre Wunschzeit aussuchen könnten, wenn die Spanier die 1980er, die Dänen die 70er, die Italiener die 60er, die Polen 1989 wählten? Wenn die Westdeutschen sich für ihre 80er entschieden, müssten sie sich mit der deutschen Teilung abfinden.

Und Bulgarien? Mit verzweifelter Ironie zeichnet der Autor ein zerrissenes Land. Die „Sozis“ schwenken rote Fahnen und holen die Mumie des kommunistischen Politikers, ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Internationale (1935 bis 1943) und legendären Antifaschisten Georgi Dimitroff auf die Tribüne. Die nationalistischen „Recken“ tragen zu Pumphosen Atlaswesten, alte Säbel und Dolche in der Hoffnung auf ein neues großbulgarisches Reich. Eine riesige bulgarische Flagge, getragen von 300 Drohnen, schwebt in der Luft, bis ein junger Mann seine Repetierbüchse hebt … – zwei feindliche Lager, ein giftiges Gemisch würde entstehen, wenn sie koalieren.

Was da ausgemalt wird als köstliche Satire ist ein beängstigendes Bild für den global erstarkenden Nationalismus. Der Roman ist vor dem Ukraine-Krieg entstanden. Nun liest man ihn vor diesem Hintergrund. Da hat sich Gospodinov ausgemalt, wie 2024 in Sarajewo das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand nachgespielt wird. Das ist nicht nur makaber, es führt direkt in unsere Zeit. Historische Reenactments, Erzählungen von vergangener Größe, Geschichtsklitterung und -verzerrungen sind ja tatsächlich ein verhängnisvoller Trend. 2029 dann – im Epilog – wird in Polen der Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 in Szene gesetzt. Unheimlich ist das. Beim wiederholten Lesen entdeckt man davon noch mehr. Zeitzuflucht ist ein eindrücklicher, hochpolitischer Roman.

Info

Zeitzuflucht Georgi Gospodinov Alexander Sitzmann (Übers.), Aufbau 2022, 342 S., 24 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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