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Krieg | Zwei geflohene Frauen aus der Ukraine zerstreiten sich in Reutlingen


Link [2022-05-30 13:03:55]



Zwei Frauen flüchten aus der Ukraine nach Reutlingen. Eine kommt aus dem Donbass, eine aus dem Südwesten des Landes. Am Grenzübergang lernen sie sich kennen. Doch in Deutschland erstickt ihre Freundschaft im Keim. Warum?

Mischas Stimme am Handy, endlich. Sie knarzt durch den Lautsprecher. „Mischa, alles gut?“, fragt Ira. „Bei euch hat es gerade geknallt.“ Ira kann wieder atmen. Legt auf und nippt an ihrem alkoholfreien Aperol Spritz. Lacht, posiert für ein Selfie. In Reutlingen läutet die Hitze an diesem Samstag den Sommer ein. Als wäre Iras Welt noch in Ordnung, als wäre Mischa nicht als ukrainischer Soldat seit drei Wochen an der Ostfront und sie jedes Mal in Panik, wenn sie ihn nicht erreicht.

Zum letzten Mal gesehen haben sie sich am 12. März. An jenem Tag überquert Ira die Grenze zwischen ihrer Heimatstadt Uschgorod im südwestlichen Zipfel der Ukraine und dem Ort Vyšné Nemecké in der Slowakei. Mit zehn anderen warten sie und ihre zwei Söhne auf einen Kleinbus mit deutschem Kennzeichen, der sie nach Reutlingen in Baden-Württemberg bringen soll.

Beim Abschied küsst Mischa Ira und die Söhne. Als er sich entfernt, beobachtet Ira von hinten, wie er sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht fährt. Neben Ira steht Alyona. Sie wird zur Zeugin von Mischas Tränen. „Alyona hat es gesehen“, sagt Ira am nächsten Tag zu den anderen Frauen im Kleinbus.

Alyona war bis zum Kriegsausbruch im Donbass zu Hause, in Schtschastja, zu Deutsch „Glück“. Von Ost nach West, von Schtschastja nach Uschgorod, sind es knapp 1.500 Kilometer. Seit 2014, acht Jahre lang, hörte Alyona in Schtschastja das gedämpfte Heulen der Sirenen und die Wucht der Explosionen, wenn „beide Seiten Zärtlichkeiten austauschten“. Wurde das Dröhnen unerträglich, rollte sie mit einer Freundin die Matten zum Yoga aus.

Ira, 40, und Alyona, 47, lieben beide ihr Land. Aber für jede von ihnen hat diese Liebe eine andere Bedeutung. In der Ukraine tobt Krieg. Einer, bei dem Menschen in Kellern sitzen und sterben. Aber auch einer um Kultur, Vergangenheit und Erinnerung.

Sie rede die Ukraine schlecht

Zwei Monate liegen zwischen der Fahrt im Kleinbus und dem Tag im Mai, an dem Ira um ihren Mischa bangt. Was an der Grenze als Spross einer Freundschaft zwischen zwei Frauen auf der Flucht begann, erstickte im Keim. In den ersten Wochen in Deutschland freundeten sich Ira und Alyona an, gingen zusammen die von der Telekom kostenlos ausgegebenen SIM-Karten holen und bei Aldi einkaufen. Heute sprechen sie nicht mehr miteinander. Alyona sagt, man sehe sich eben nicht mehr, jede habe ihren Alltag. Dabei laufen sie sich in Reutlingen gelegentlich über den Weg. Einen offenen Konflikt gab es nie. Doch Ira möchte einfach nicht mehr. „Alyona hat mich damals an der Grenze sehr unterstützt, aber jetzt sagt sie unschöne Dinge über die Ukraine. Unsere Männer kämpfen an der Front, und die Frauen kommen hierher und reden unser Land schlecht.“

Mit dem russischen Angriff wurde die Ukraine über Nacht ukrainischer, vereinte Menschen wie Ira und Alyona, die in unterschiedlichen Regionen des Landes mit grundverschiedenen Ideen von Geschichte und Gegenwart aufwuchsen. Doch in Teilen der Bevölkerung herrscht weiter ein Ringen darum, was ukrainische Identität ist. In den vergangenen Jahrzehnten prägten zwei Narrative die Erinnerungskultur: ein sowjetnostalgisches und ein ukrainisch-patriotisches. Letzteres gewann nach 2014, mit dem Krieg gegen die prorussischen Separatisten im Osten und der Krim-Annexion, breitere Unterstützung.

Ira beschloss zu fliehen, als ihr sechsjähriger Sohn nach dem ersten Fliegeralarm eine Stunde lang nicht zu zittern aufhörte. Lange hat sie gezweifelt, aber als Ende März in der Westukraine, in einem Wohngebiet in Lwiw, russische Raketen einschlagen, fühlt sie sich in ihrer Entscheidung bestätigt. Sosehr Ira lieber bei Mischa geblieben wäre – sie wollte ihre Kinder vor dem Trauma des Krieges schützen. Jetzt postet sie im Internet stolz Fotos von Mischa in Soldatenuniform. In Uschgorod liebte sie ihren Job als Fernsehmoderatorin, ihre Freunde, ihr Leben. In Reutlingen richtet sie sich jetzt ein, spielt mit dem Gedanken, langfristig in Deutschland zu bleiben. Seit kurzem arbeitet Ira in einer deutschen Schule als Lehrerin für geflüchtete ukrainische Kinder.

Russisch spricht Ira ungern, sie schimpft mit ihrem 15-jährigen Sohn, wenn sie ihn mit Freunden Russisch sprechen hört. Iras Muttersprache ist Ukrainisch – und das sei jahrhundertelang unterdrückt worden, schon von Zar Peter I., Katharina der Großen, in der Sowjetunion. „Es reicht.“ Ihre Stimme bebt leise, vor Schmerz und Wut. Die Westukraine gilt als Wiege der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung. Sichtweisen wie Iras sind dort üblich, Russisch zu sprechen ist schon seit den 1990ern nicht mehr cool – doch Russisch ist zugleich die Muttersprache von Millionen Menschen in der Ukraine. In deutschen Supermärkten fotografiert Ira russische Pirogi und Kalinka Kefir, um auf Ukrainisch samt Hashtag #німеччина (Deutschland) zu fragen, ob so die Sanktionen gegen Russland aussähen.

„Wozu?“, fragt Alyona. Iras Supermarkt-Kreuzzüge hält sie für Zeitverschwendung. Alyona trinkt ihren Aperol Spritz mit Alkohol. Schlendert mit dem Glas in der Hand durch die Obstbausammlung der Pomologie in Reutlingen, staunt über das satte Rosa der blühenden Kirschbäume: „Чудестно“, wundervoll, sagt sie in ihrer Muttersprache, auf Russisch. Ihr Geburtsland ist Russland, ihr Pass und ihr Herz sind ukrainisch.

Alyona ist eine zierliche Frau, Psychologin, sie spricht so ruhig, als würden die Buchstaben seufzen, bevor sie sich zu Worten fügen. Von der schönen neuen Welt in Deutschland kann sie zu Hause keinem erzählen. Schämt sich dafür, wie gut es ihr hier geht. In der Staatsgalerie in Stuttgart hat sie Bilder von Monet gesehen, lauschte einem Tango-Konzert der Philharmonie, erkannte eine Melodie, die Filmmusik aus Der Duft der Frauen mit Al Pacino.

Nur der Fluss Siwerskyj Donez trennte bis Kriegsbeginn Alyonas Zuhause vom russisch kontrollierten Separatistengebiet der Volksrepublik Luhansk. Heute ist auch ihre Heimatstadt unter russischer Kontrolle. „Sie haben Schtschastja als Erstes ,befreit‘ – von unserer Freiheit, unserer Existenz, von allem, was uns lieb war.“ Dort zu bleiben und sich nicht mehr zu ihrer ukrainischen Identität bekennen zu dürfen, käme für Alyona einem inneren Tod gleich. In Gebieten, die die russische Armee bereits besetzt hat, geht man mit politischen Menschen hart ins Gericht, von Verhören und Folter ist die Rede.

Verwandte Alyonas leben in Russland, ihre 23-jährige Tochter mit Mann und Tochter in den Separatistengebieten um Luhansk. Sie haben Angst, dass Alyonas Schwiegersohn zum Militär eingezogen wird – auf russischer Seite. Spricht sie per Videotelefonie mit ihrer Tochter, sagt die: „Mama, ich habe dich lieb. Lass uns nicht darüber reden, alles in Ordnung.“ Alyona schmatzt, imitiert die Kussgeräusche, die sie sich virtuell zusenden. Die Tochter hat Angst, von den Russen abgehört zu werden.

Ira und Alyona, als sie noch befreundet waren

Foto: privat

Denkmäler für Stepan Bandera

Früher, als sie noch regelmäßig nach Russland fuhr, nannte man Alyona dort abfällig „Banderka“, weil sie in der Ukraine lebte. Dabei wuchs sie im Donbass mit dem sowjetischen Narrativ von Stepan Bandera als Verräter, Massenmörder und Faschist auf. Auch heute noch bezeichnet sie den Zweiten Weltkrieg als „Großen Vaterländischen Krieg“ – ein Begriff, den man längst aus ukrainischen Schulbüchern verbannt hat, um sich so radikal wie möglich von Russland abzugrenzen. So: In Iras Heimat in der Westukraine wurden für Bandera in den vergangenen drei Jahrzehnten Denkmäler und Museen errichtet. Bis in die 1950er war er führender Kopf der ukrainischen Nationalisten und wegen seiner Kollaboration mit den Nazis eine fragwürdige Figur (der Freitag 13/2022)

Alyona harrte in den ersten Tagen des Krieges im Keller aus, schlief in ihrer Kleidung. Als die Nachbarn berichteten, im Nachbardorf würden Panzer fahren und russische Flaggen gehisst, weiß sie: Ihr bleiben wenige Stunden. Sie verteilt das Trockenfutter für die Katze auf dem Boden in der Wohnung, bittet die Nachbarin, ihrer Mutter und ihrer Schwester Bescheid zu sagen. Packt das Nötigste ein und springt ins Auto des Nachbarn. Sie fahren zu einer Freundin in die Zentralukraine.

Alyona zeigt das Video, das sie während der Fahrt aufgenommen haben: die Straße aufgeschürft von Geschossen, Wohnhäuser in Flammen, Feuerrot am grauen Himmel und Leichen am Straßenrand. Alyona versucht, nicht hinzuschauen. Ihr Haus steht noch. Aber Schtschastja, wie sie es liebte, ihr Lädchen, in dem sie Nähutensilien verkaufte, gibt es nicht mehr. So erzählt sie die Geschichte in ihren ersten Wochen in Deutschland, meist gefasst, weinen kann sie nie.

Fremd unter den eigenen Leuten

Erst zwei Monate später gesteht sie, dass es sich bei dem „Nachbarn“, mit dem sie floh, um ihre Jugendliebe Ljosha handelt. Nach fast 25 Jahren hatten sie etwa zwölf Monate zuvor wieder zueinandergefunden. Doch wenige Tage nach der Flucht meldete Ljosha sich als Freiwilliger an die Front. „Ich wusste, wenn er nicht geht, wird ihn das innerlich vernichten“, sagt Alyona. Handyempfang hat er fast nie, gelegentlich aber dringt ein Anruf durch. Nach Alyonas erstem Monat in Deutschland hören die Tränen plötzlich nicht mehr auf zu fließen, wegen der Angst um Ljosha und dem Schmerz, von ihrer Mutter, Schwester, Tochter und ihrer Enkelin auf unbestimmte Zeit getrennt zu sein.

Alyona sagt, heute blicke die ganze Welt auf die Ukraine. 2014 aber hätten die Menschen in der Westukraine dem Donbass die Schuld am Krieg gegeben. „Es fühlte sich an, als ob sie denken: Wir sind prorussisch und haben uns die Lage selbst zuzuschreiben.“ Für das Leid im Osten hätten sich die eigenen Landsleute damals nicht interessiert. Mit ihrer Tochter war sie zwischenzeitlich in den Süden nach Odessa geflohen, aber: „Wir fühlten uns fremd unter unseren eigenen Leuten.“ Sie kehrten nach Schtschastje zurück.

Ira glaubt, Alyonas Gefühl sei das Resultat prorussischer Propaganda. „Damit Alyona nachts ruhig schlafen konnte, hat der Patenonkel meines Sohnes im Donbass gekämpft und wurde zweimal am Kopf verwundet.“ Eine geflüchtete Frau aus Mariupol habe in Reutlingen neulich erzählt, sie wisse nicht, wer auf ihre Verwandten geschossen habe: die ukrainische Armee oder die Russen. Als Ira diese Episode erzählt, verändert sich der Klang ihrer Stimme, solche Aussagen sind für sie das Allerletzte. Ira glaubt, die Ukrainer seien ein Volk, von Uschgorod bis zum Donbass gehören alle gleichwertig dazu.

Alyona sagt, es ist eine Tatsache, dass in Schtschastje sowohl Russen als auch Ukrainer geschossen haben. Na und? Der Aggressor sei trotzdem Russland. Wie sollen sich die Ukrainer denn sonst verteidigen? Für Alyona hängt die Loyalität zu ihrem Land weder davon ab, wer wo geschossen hat, noch davon, welche Sprache sie spricht – im Donbass sprechen sie eben beides. „Ira hat in Uschgorod Fliegeralarm erlebt, aber in ihrem Leben noch nie den echten Krieg gesehen. Wenn du zusammen im Keller kauerst und sie auf dich schießen, interessiert es niemanden, ob du Russisch oder Ukrainisch sprichst.“

Ukrainische Loyalität, sagt Alyona, würde für sie bedeuten, sich ein Zimmer in der Westukraine leisten zu können. Stattdessen musste sie nach Deutschland: Das Leben in jeder europäischen Stadt sei gerade günstiger als die Westukraine. Dort eine Wohnung zu mieten koste bis zu 2.000 US-Dollar im Monat. Auch aus Städten wie Uschgorod oder Lwiw flohen viele Menschen ins Ausland. Zu Hause vermieteten sie ihre Wohnungen für horrende Summen an Geflüchtete aus dem Osten, die den Bomben entkommen sind. „Wie Ira“, sagt Alyona und zieht ihre Augenbrauen hoch.

Ira sagt, die derzeitige Preistreiberei sehe auch sie kritisch. Tatsächlich vermiete sie ihr Haus an Geflüchtete aus dem Südosten, aus Saporischschja – eine Familie, der das wegen ihrer Arbeit im IT-Sektor finanziell überhaupt nicht wehtue. Außerdem sei es ein ganzes Haus zu einem Preis, den andere für zwei Zimmer nehmen würden.

Marina Klimchuk, freie Autorin, besucht derzeit die Reportageschule Reutlingen. Sie hat Ira und Alyona über mehrere Wochen hinweg begleitet

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