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Krieg | Es ist unmöglich, keine Angst vor Atombomben zu haben


Link [2022-03-09 15:14:33]



Die Menschheit ist zum Frieden verdammt, seit Kriege den Einsatz von nuklearen Massenvernichtungswaffen als Möglichkeit enthalten

Aus Hunderten Filmen kennen wir folgende Situation: Der Geiselnehmer hält die Geisel im Würgegriff und droht, sie zu erschießen. Die Polizistin oder der Polizist legt die Waffe auf den Boden, hebt die Hände und sagt, sie oder er wolle reden. Das ist der Bifurkationspunkt. Kann sein, das Reden dient nur dazu, den Kollegen ausreichend Zeit zu geben, sich anzuschleichen und den Geiselnehmer durch einen sauberen Rettungsschuss auszuschalten. Möglich ist, dass es stattdessen darum geht, den Bewaffneten durch Reden von seiner Absicht abzubringen. Egal, wie gut oder schlecht der Film ist, es ist der Moment, da Zuschauende oft die Luft anhalten. Aber ist ja nur ein Film. Erstaunlicherweise hat man bei diesen Szenen nur selten das Gefühl, dass es hochgradig bescheuert ist, die Waffe auf den Boden zu legen und sich damit vermeintlich wehrlos zu machen. Es scheint fast immer als der einzige Ausweg in einer völlig verfahrenen Situation.

Schnitt: In den vergangenen Tagen wurden in den Nachrichten Statements der verteidigungspolitischen Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, zitiert, deren Kernaussage darin bestand, dass die Bundeswehr seit Beginn der 1990er-Jahre radikal runtergespart worden sei. In den Jahren 2014 bis 2021, also jenen Jahren der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine, stieg das Budget der Bundeswehr von 32,4 auf 46,9 Milliarden Euro. Die Militärausgaben der Nato betrugen 2020 rund 110 Milliarden Dollar, das sind 55 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben. Strack-Zimmermanns Aussage und die Zahlen passen nicht unter einen Hut. Als unhinterfragte Autorität in Sachen Verteidigung schreibt uns die Politikerin trotzdem ins Buch, es sei „wahrlich Zeit, dass wir unsere Sicherheitspolitik auf neue Beine stellen. Dass wir in Deutschland aufhören, davon zu träumen, eine große neutrale Schweiz zu sein, sondern dass wir der Realität ins Auge schauen müssen, dass wir wehrhaft sein müssen und vor allen Dingen wehrfähig sein müssen.“

Schnitt: Ratschlag der Politik an die Polizistin: Bloß nicht die Waffe auf den Boden legen, stattdessen probieren, ob der erste Schuss sitzt und dabei niemand, außer dem wahnsinnigen Attentäter, zu Schaden kommt. Könnte klappen. Kann aber auch schiefgehen. Dann sind alle tot.

Aufrüstung hat das Potenzial, bestehende Sorgen zu vergrößern

Schnitt: Olaf Scholz hatte seine grünen Koalitionäre wenige Tage zuvor mit der Ankündigung überrascht, aus dem nächsten Haushalt 100 Milliarden Euro on top für die Aufrüstung der Bundeswehr bereitstellen zu wollen. Also zusätzlich zum Verteidigungshaushalt. Auch das eine Aufforderung an uns, doch bitte nicht mehr zu träumen. Als seien die, denen die Vorstellung einer Welt ohne Krieg und Hochrüstung nie aus dem Sinn gegangen ist, einfach nur bekloppt oder mindestens naiv. Wer gegenwärtig die Stimme für allseitige Abrüstung in Waffen, Worten und Taten erhebt, läuft Gefahr, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden.

Schnitt: Die Polizistin hört nicht auf den Ratschlag und sagt stattdessen, sie verstehe, dass der Attentäter wütend sei, aber er habe sich verrannt und sei nun drauf und dran, Unschuldige dafür büßen zu lassen. Gott, denkt man, das soll funktionieren? Der Typ hört doch gar nicht mehr zu.

Schnitt: Was seitens der Politik wohl als beruhigendes Signal an die Bevölkerung gedacht ist, allseitige Aufrüstung, hat das Potenzial, die bestehenden Sorgen zu vergrößern. Seit Wladimir Putin die Anwendung atomarer Waffen nicht mehr ausschließt, Atomkraftwerke in der Ukraine unter Beschuss geraten und die Antwort des Westens auf den Krieg unter anderem darin besteht, dem Wahnsinn des Aggressors Nahrung zu geben, indem der Ukraine versprochen wird, Teil der Europäischen Union zu werden, ist aus Ratlosigkeit und Ängstlichkeit Verzweiflung und Angst geworden. Nichts scheint mehr in unseren Händen zu liegen. Also schließen wir Menschen mit Behinderung und der falschen Staatsbürgerschaft von den Paralympics aus. Hoffentlich ist da niemand stolz drauf.

Verhalten im Atomkrieg: Kellerflucht und Jodtabletten

Die Älteren von uns könnten höchstens Gelerntes abrufen, wie man sich im Falle eines Atomkrieges zu verhalten hat: Mit einem weißen Laken überm Kopf unter einen Tisch kriechen, Keller aufsuchen, duschen, Jodtabletten nehmen. Funktioniert nicht mal im Film.

Viele Menschen spüren, wie tief uns ins Gedächtnis eingeschrieben ist, dass ein atomarer Krieg das Ende von allem bedeuten kann. Obwohl uns in nicht wenigen Filmen und Erzählungen die atomare Sprengkraft als Lösung unterbreitet wurde.

Schnitt: Bruce Willis hält der Welt als Harry Stamper das Armageddon vom Leib, indem er den nuklearen Sprengsatz zündet und sich selbst opfert. In Don’t look up wäre es ein atomarer Sprengsatz gewesen, der die Erde vor der Auslöschung bewahrt, hätte nicht eine überdrehte Elon-Musk-Karikatur auf die Rohstoffe rekurriert, die der Komet birgt, der den Planeten am Ende vernichtet.

Schnitt: Trotzdem ist nichts von diesen Erzählungen bislang gegen das kollektive Gedächtnis an Hiroshima und Nagasaki, an Tschernobyl und Fukushima angekommen. Auch wenn von der Zerstörung beider Städte durch Atombomben so gut wie keine Bilder existieren. Aber es gibt rund 500 Kilometer Film und mehr als eine Million Fotoaufnahmen von der „Operation Crossroads“, bei der 40.000 Beobachter dabei sein durften, als die USA 1946 ihre Atombomben testeten. Bis 1969 entstanden aus dem Material 6.500 Filme, von denen bis heute ein großer Teil der Geheimhaltung unterliegt.

13.000 Atomwaffen weltweit

1945 wurde in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe getestet. Wenige Tage später in Hiroshima und Nagasaki an Menschen ausprobiert, die unter der Wucht der Explosion verdampften oder kurze Zeit später an den Folgen der nuklearen Strahlung starben. Seitdem wissen alle, die bei Verstand sind, dass die Menschheit zum Frieden verdammt ist, weil Kriege von nun an den Einsatz solcher Massenvernichtungswaffen als Möglichkeit enthalten. Das hat von Kriegen nicht abgehalten. Und auch nicht davon, sich in kalten und heißen Zeiten der atomaren Drohgebärde zu bedienen. Der Traum von einer Welt zumindest frei von Atomwaffen ist nicht in Erfüllung gegangen. Obwohl es immer eine Lüge war, dass die Hochrüstung und ein mit atomaren Vernichtungswaffen gut ausgestattetes Backoffice die Welt sicherer macht, weil ein Gleichgewicht des Schreckens besser sei, als durch einseitige Abrüstungsmaßnahmen dumm dazustehen. Aber der Raketenwinter 1983 ist lange her und das Gedächtnis kurz. Rund 13.000 Atomwaffen soll es weltweit geben. Und solange es die gibt, wird mit ihnen gedroht und können sie zum Einsatz kommen. In den Händen eines dekompensierten, narzisstischen und gekränkten Autokraten wird aus dem Gleichgewicht des Schreckens eine schreckliche Möglichkeit.

Männer wie Thomas Schmid, einst Chefredakteur und dann Herausgeber der Welt-Gruppe, bloggen uns ins Stammbuch: „Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass der Verzicht auf Wehrhaftigkeit nicht zum Frieden gehört.“ Er fordert, die Friedensbewegung möge sich bei der Ukraine dafür entschuldigen, dass sie mit ihrem „Plädoyer für Waffenverzicht und immerwährenden Dialog auch dazu beigetragen hat, die heutige Ukraine einem Angriffskrieg auszusetzen“. Und ist damit nicht allein, stattdessen scheint er den Mainstream zu verkörpern. In den Medien, in der Politik. Nicht alle gehen so weit wie Schmid, der Friedensbewegung Mitschuld an diesem Krieg in die Schuhe zu schieben. Aber lachen darf man wohl über jene, die nach Auflösung des Militärbündnisses Warschauer Pakt und der Sowjetunion tatsächlich an eine Friedensdividende geglaubt haben.

Es ist fünf Jahre her, dass 122 von 193 Staaten für die Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrages stimmten, den 59 Staaten ratifiziert haben. Allerdings kaum einer der Nato-Mitgliedsstaaten. Bisher ist jedes historische Momentum für atomare Deeskalation auf mangelnden politischen Willen und zu mächtige ökonomische und geopolitische Interessen getroffen.

Die „Dummheit des Krieges“, wie UN-Generalsekretär António Guterres es am 23. März vorigen Jahres in einer Rede nannte, sei nur durch einen „weltweiten Waffenstillstand“ zu beenden. Guterres halten Leute wie Schmid oder Ursula von der Leyen wahrscheinlich auch für mindestens naiv. Es ist nicht möglich, keine Angst zu haben. Die Vernunft hat geschlafen, die Ungeheuer sind von der Kette. Putin ist ein Monster, das der Geisel die Pistole an die Schläfe hält.

Schnitt: Die Frage ist, ob die Polizistin die Waffe auf den Boden legt und versucht, mit dem Monster zu reden. Auch wenn sie dafür wahrscheinlich für verrückt oder feige gehalten wird. Oder ob sie auf die Präzision und technische Überlegenheit ihrer Waffe setzt.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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