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Kolumbien | Francia Márquez: Die Schürferin vom Fluss


Link [2022-06-17 22:31:23]



Francia Márquez ist die große Hoffnung vor allem der schwarzen Frauen, wenn das Land bald über die Präsidentschaft entscheidet. Wer ist diese beeindruckende Frau? Ein Porträt

Eng umarmt singen drei schwarze Frauen im Chor über das Leben, die Hoffnung und den Tod. Sie lachen, sie tanzen, sie wiegen sich im Takt der Afrobeats. Eine von ihnen ist Francia Elena Márquez Mina, zum Abschied umarmt sie ihre Freunde und Freundinnen, lächelt hoffnungsvoll, winkt und ruft: „Passt auf euch auf, meine Lieben!“ Das war vor einem Jahr in Llano Verde, einem Problemviertel der kolumbianischen Millionenstadt Cali. Márquez nahm an einer Gedenkveranstaltung für fünf von der Polizei ermordete Minderjährige teil. Kurz darauf begannen massive landesweite Proteste.

Márquez trägt afrikanische traditionelle Kleidung, bunte Tücher zum Turban gewickelt, Armreifen aus Perlen und Muscheln, sie hebt beim Singen immer wieder die linke Faust. Das hat sich bis heute nicht verändert – vieles um sie herum jedoch schon: Die Umweltaktivistin tritt gegenwärtig als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft an, gemeinsam mit dem linken Bündnis Pacto Histórico um den Präsidentschaftsanwärter und ehemaligen Guerillero Gustavo Petro (der Freitag 21/2022).

Bei der ersten Runde der Wahl Ende Mai erreichten die beiden mehr als 40 Prozent der Stimmen, gefolgt vom ultrarechten Hitler-Verehrer Rodolfo Hernández mit 28 Prozent und vom rechten Federico Gutiérrez mit 23 Prozent. Dass ein linkes Bündnis zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Kolumbiens erfolgreich ist, liegt auch an Márquez: Sie gibt den Millionen von marginalisierten Menschen in Kolumbien eine Stimme und ein Gesicht. Ende 2021 lebten laut offiziellen Quellen rund 40 Prozent der Bevölkerung in Armut, weitere zwölf Prozent fristeten in extremer Armut und vom Staat unbeachtet ihr Dasein. Diese Herkunft als „Niemand“ teilt die Aktivistin mit ihnen.

Das Patriarchat brechen

Márquez ist eine Herausforderung für die traditionelle politische Klasse. Denn ihr Ziel lautet, „die hegemoniale patriarchalische Politik zu brechen“. Tatsächlich hat sie das Potenzial dazu hauptsächlich aufgrund ihrer zutiefst demütigen Haltung gegenüber kollektiven Prozessen. Ihr Slogan lautet: „Ich bin, weil wir sind.“ Sie möchte die Stimme der abgelegenen Territorien, der Marginalisierten, der Frauen, der Afros, der indigenen Völker und der LGBTI+-Menschen sein. Sie hat keine Angst davor, den Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung innerhalb der eigenen Reihen zu führen. Sie motiviert Frauen und Minderheiten, das Ruder zu übernehmen. Wer aber ist diese beeindruckende Frau?

Sie existiere nicht ohne ihre Gemeinschaft und das Stückchen Land, die ihre Herkunft und ihre Geschichte prägten, sagt Márquez: 1981 in Suárez geboren, wuchs sie in der kleinen Dorfgemeinschaft mit kaum 100 Einwohner*innen im südlichen Department Cauca auf. Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, ihr Großvater hat an den Abenden die Gemeinschaft versammelt und galt als ihr Sprecher. In demselben Haus hat sie ihre Großmutter beim Sterben begleitet. Schon als junges Mädchen schürfte sie am Ovejas-Fluss Gold und half beim Anbau von Kaffee, Kochbananen und Yuca. Mit 18 Jahren wurde sie schwanger von einem Goldschürfer, den sie nach eigenen Aussagen nie wiedergesehen hat. Sie bekam ihren ersten Sohn. Jahre später in Cali verliebte sie sich wieder und bekam ihren zweiten Sohn. Márquez sagt: „Nur dank meiner Geschwister, meiner Mutter, meiner Onkel, Tanten und dank der Unterstützung meiner Familie konnte ich trotz zweier Söhne das werden, was ich heute bin.“

Landesweit kommt es in Kolumbien zu rund 300 Morden an Aktivist*innen pro Jahr. Im Cauca wurden im vergangenen Jahr 70 Menschen aufgrund ihres Aktivismus für Umweltschutz und Menschenrechte umgebracht. Márquez kennt die Gefahr seit Beginn ihrer politischen Karriere – die viel mit dem Fluss zu tun hat, an dem sie aufgewachsen ist. „Ich habe vom Fluss gelernt, als wäre er ein lebendiges Wesen“, sagt sie. Schon in ihrer Jugend erkannte sie den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Umwelt und der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in den Regionen, in denen Bergbau betrieben wird. Als Umweltaktivistin kämpfte sie gegen die Vertreibung ihres Dorfes und die Umleitung des Flusses.

Gemeinschaft ist wichtiger als Einzelne

Seit etwa 2009 in ihrer Heimat als Aktivistin engagiert, startete Márquez 2014 ihre erste große Aktion. Die Regierung hatte Lizenzen an eine internationale Firma vergeben, die unter Einsatz schwerer Maschinerie den Fluss trockenlegen und Gold abbauen wollte. Márquez war entschlossen, dagegen in der Hauptstadt Bogotá zu protestieren. Doch bei ihren Genoss*innen überwog die Angst, niemand wollte sie begleiten. Erst als sie ankündigte, im Zweifel allein mit ihren beiden Söhnen loszuziehen, wurde den übrigen Dorfbewohner*innen bewusst, wie ernst es ihr war. Bald unterstützten sie auch immer mehr Bewohner*innen umliegender Siedlungen. Dutzende von Afro-Kolumbianerinnen machten sich auf den 350 Kilometer langen „Marsch der Turbane“ nach Bogotá. Die Mitarbeiter*innen des Ministeriums dort nahmen den Aufzug zunächst nicht ernst. Aber nach tagelanger Besetzung des Innenministeriums ließ er sich nicht mehr ignorieren. Eine bis dahin unbekannte Frau aus dem abgelegenen Cauca, die jahrelang Gold aus dem Fluss geschürft hatte, führte dem ganzen Land seine Probleme mit dem Bergbau vor Augen.

Mit ihren Mitstreiterinnen rang sie der Regierung die Einrichtung einer Taskforce ab, in deren Folge es tatsächlich zum resoluten Stopp des Minenbaus in Márquez’ Heimat kam. Nicht das Goldwaschen der Afros und Indigenen, die mit ihren Sieben ein paar Gramm Gold aus dem Fluss holen, solle als illegal gelten, so Márquez’ Devise, vielmehr das Vorgehen der Bergbaufirmen und die Lizenzvergabe der Regierung. 2018 bekam sie für diesen Kampf den Goldman-Preis, den sogenannten Nobelpreis für Umweltschutz, und widmete ihn allen Menschen, die sich für Umwelt- und Menschenrechte einsetzen. „Eines Tages werde ich nicht mehr hier sein“, sagt sie heute, „aber unsere Verteidigung des Flusses muss weitergehen. Die Gemeinschaft ist wichtiger als der oder die Einzelne.“

Ihr erworbenes Prestige und ihr genaues Wissen um die Verletzlichkeit afro-kolumbianischer Gemeinschaften und insbesondere schwarzer Frauen in den gewaltgetränkten Konflikten Kolumbiens machten sie 2014 auf Kuba zur Teilnehmerin der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos und der FARC.

Im Visier der Profiteure

Zugleich geriet sie ins Visier derer, gegen deren Interessen sie kämpft, musste 2019 aufgrund von Morddrohungen ihr Dorf verlassen. Ein Onkel hatte sie vor einem Anschlag gewarnt. Früh im Morgengrauen gelangte sie per Auto nach Cali, in die nächstgelegene Großstadt. Sie erinnert sich noch heute, dass sie vor allem wegen ihrer beiden Kinder ein schlechtes Gewissen hatte und sich vorwarf, diese in Gefahr zu bringen.

In Cali traf sie auf schwarze Aktivistinnen, die sie in ihrem sozialen Zentrum Casa Chontaduro aufnahmen. In diesem neuen Zuhause lernte sie zahlreiche Lebensgeschichten kennen, die der ihren stark ähneln. „Meine Biografie ist nur deswegen relevant, weil sie so viele teilen“, betont Márquez immer wieder: „Viele haben das Gleiche durchgemacht. Unsere Geschichten handeln von Kinderarbeit, von klein an, auf dem Land und im Bergbau, sie handeln von sexuellem Missbrauch und Belästigung, sie handeln von der Arbeit bei reichen Familien unter Bedingungen der Sklaverei. Wir normalisieren es und halten es für natürlich.“ Politische Bildung ist ihr deswegen so wichtig, weil sie notwendig sei, um zu verstehen, dass diese Bedingungen nicht normal sind.

Wie gefährlich sie den Profiteuren von Unsicherheit und Ungleichheit in Kolumbien wird, verdeutlicht der dann erfolgte Anschlag auf ein Gebäude im Cauca, in dem sie sich mit anderen Aktivist*innen getroffen hatte. Im Hagel der Schüsse und Granaten unbekannter Angreifer werden zwei Menschen verletzt. „Ich wollte nie in die Politik gehen“, sagte Márquez einmal in einem Interview. „Aber die Politik hat sich mit mir angelegt, und jetzt legen wir uns mit ihr an.“

Aus der Aktivistin und Lokalpolitikerin ist eine ernsthafte Anwärterin auf eines der höchsten Ämter im Staat geworden: 2021 gab sie ihre Kandidatur als Präsidentin bei der ersten großen nationalen Konferenz der Feministinnen bekannt, im März 2022 landete sie bei den Vorwahlen des Pacto Histórico auf dem zweiten Platz hinter Gustavo Petro und wurde bald dessen Vizepräsidentschaftskandidatin. Nichts hat sie bei alledem an Demut, Fröhlichkeit und Ehrlichkeit eingebüßt. „Ich hoffe, dass unsere Geschichte des Kampfes gegen die Gewalt ein Beispiel für die Welt sein kann“, sagt sie bei einer Veranstaltung kurz vor der Wahl – mit der ausgestreckten linken Faust in der Luft.

Anna-Lena Dießelmann lebt und forscht in Kolumbien zu Konfliktsoziologie. Sie arbeitet zu Menschenrechten und Gewaltprävention in marginalisierten Stadtvierteln Calis

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