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Koalition | Regierungsbildung in NRW: Wie ernst ist den Grünen die Klimapolitik?


Link [2022-05-21 22:33:12]



Die Grünen sind nach der Wahl die Königsmacher. Wenn es ihnen ernst ist mit der Klimapolitik, müssen sie sich für die Ampel entscheiden

Um kurz nach 18 Uhr schien Kevin Kühnert noch keinen neuen Sprechzettel zu haben. Der Text, den der SPD-Generalsekretär im ersten Interview des Wahlabends aufsagte, war offensichtlich für die allenfalls knappe Niederlage seiner SPD in Nordrhein-Westfalen gedacht, die fast alle erwartet hatten. „Schwarz-Gelb ist abgewählt“, dieses Wahlziel sei ja nun erreicht, verkündete Kühnert. Immerhin: Wenig später wiederholte Spitzenkandidat Thomas Kutschaty zwar den Spruch von der erfolgreichen Abwahl der Schwarz-Gelben, aber er ließ wenigstens die Tatsache nicht unerwähnt, dass seine Partei dazu eher weniger beigetragen hatte. Die klare Niederlage – am Ende demütigende 26,7 Prozent der Stimmen – bedachte er im üblichen Kauderwelsch mit den Worten: „Das Ergebnis ist leider nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben.“

Dass das Eingeständnis des eigenen Scheiterns nicht so eindeutig gelingen wollte, hat natürlich einen realen Hintergrund: Die SPD setzte seit Bekanntgabe der ersten Prognosen in Düsseldorf auf ihre einzige Hoffnung, und die war in diesem Fall tatsächlich grün. Jetzt ging es darum, die fulminant erfolgreiche Partei von Annalena Baerbock, Robert Habeck und der strahlenden NRW-Spitzenkandidatin Mona Neubaur auch im größten Bundesland für eine Ampel zu gewinnen und den anderen Wahlsieger, Hendrik Wüst von der CDU, doch noch in die Opposition zu schicken. Das Dumme nur: Darüber hatten und haben jetzt diejenigen zu befinden, denen die SPD gerade hilflos zugeschaut hatte beim Beinahe-Verdreifachen ihres Stimmanteils.

Ein paar Windräder mehr

Hinweise, wie die Grünen sich entscheiden würden, gab es am Wahlabend und auch danach erst einmal nicht. Sie befinden sich schließlich in der Lage, die sie seit einiger Zeit für die denkbar komfortabelste halten: immer anschlussfähig, als ginge es bei Schlüsselthemen wie Klimaschutz und sozialem Ausgleich nur um die Frage, wer im Koalitionsvertrag ein paar Windräder mehr abhakt und wer nicht. Als hätten sie ihre eigenen Worte vom „Menschheitsthema Klimaschutz“ (Mona Neubaur) überhört. Als wüssten sie nicht, was die Leier des CDU-Mannes Hendrik Wüst („Versöhnung von Klimaschutz und Industrie-Arbeitsplätzen“) bedeutet, nämlich das falsche Versprechen der Vereinbarkeit des bestehenden Wirtschaftssystems mit der Rettung des Planeten. Als hätten sie nie gehört, dass nicht ganz dicht sein kann, wer nach allen Seiten offen ist.

Es ist ja nicht zu bestreiten, dass die Grünen in manchen Milieus großen Anklang finden mit ihrer längst eingeübten Art, der ominösen „Mitte“ zweierlei zugleich zu vermitteln: einerseits die Notwendigkeit konsequenteren Klimaschutzes und andererseits das beruhigende Gefühl, es werde sich so viel nun auch wieder nicht ändern. Und der Hinweis, dass auch die SPD in Sachen Klimaschutz lange Zeit als echtes Fossil daherkam, ist nicht aus der Luft gegriffen. Aber wo bleibt die entscheidende Frage, in welchem Bündnis ein echter Richtungswechsel am wahrscheinlichsten wäre? Dass sie praktisch ausbleibt, ist Ausweis einer Art kleinmütiger Systemimmanenz, wie sie die Grünen selbst noch vor einigen Jahren der etablierten Konkurrenz vorgeworfen hätten.

Es ist zwar sicher noch nicht kleinmütig, wenn auch systemimmanent, dass eine parlamentarische Partei sich auf Kompromisse einlässt. Wer sich aber vorstellt, die Grünen würden mögliche Koalitionen einmal an ehrgeizigen Fernzielen messen, kann ihnen nicht ernsthaft die Behauptung abnehmen, mit der CDU wäre davon ähnlich viel zu erreichen wie mit der SPD. Bei aller Kritik an der Sozialdemokratie ist inhaltlich betrachtet nicht zu bestreiten, dass sie beim Thema des öko-sozialen Umbaus den Grünen näher steht als die CDU. Allein die Tatsache, dass die Grünen den sozialen Ausgleich nie zu erwähnen vergessen, wenn sie von den Folgen des Ausstiegs aus der fossilen Energieversorgung reden, spräche eher für ein Bündnis mit der Sozialdemokratie.

Es ließe sich zwar einwenden, dass die Unterschiede zwischen CDU und SPD in Zeiten der „Mitte“-Fixierung leider wirklich immer kleiner geworden sind, aber erstens sind sie deshalb noch lange nicht verschwunden – und zweitens ist davon auszugehen, dass Kutschatys Leute in Nordrhein-Westfalen sicher große Zugeständnisse in Kauf nehmen würden, um trotz Wahlniederlage zu regieren. Sie haben zwar jetzt der siegreichen CDU den Vortritt für Sondierungen gelassen, aber es läge nicht zuletzt an den Grünen, sich allzu weitreichenden Kompromissen mit Wüst zu verweigern und dann mit SPD und FDP zu verhandeln.

Option Minderheitsregierung

Nur nebenbei sei angemerkt, dass auch Modelle denkbar wären, über die in diesem Land fast niemand reden mag: zum Beispiel der Versuch, eine rot-grüne Minderheitsregierung auf die Beine zu stellen. Um die Wahl Kutschatys (oder Neubaurs?) an die Regierungsspitze im entscheidenden Wahlgang zu verhindern, bräuchte die CDU im Landtag dann nicht nur die geschrumpfte FDP, sondern auch die Stimmen der AfD. Und die politischen Folgen, wenn sie mit der extremen Rechten gegen Rot-Grün stimmte, wären für sie nicht kalkulierbar. Rot-Grün hätte also eine Chance.

Aber das, wie gesagt, nur nebenbei: In Deutschland gelten Minderheitsregierungen bekanntlich schon als Anfang vom Ende demokratischer Stabilität. Und die Idee, vielleicht als starke Oppositionspartei im Bündnis mit gesellschaftlichen Bewegungen mehr zu erreichen als unter dem übermäßigen Kompromisszwang einer „lagerübergreifenden“ Koalition, gilt auch bei den Grünen inzwischen schon fast als Verrat am vermeintlich einzigen Lebenszweck einer Partei: dem Regieren.

An Inhalten kann es also kaum liegen, dass die Grünen so tun, als sei ihr Programm entweder denjenigen von CDU und SPD gleichermaßen ähnlich – oder als sei es für die Frage der Regierungsbildung irrelevant. Nein, es hat vor allem machttaktische Gründe. Die „Öko-Partei“ – nicht unbedingt die sie Wählenden, wie deren rot-grüne Präferenz zeigt – ist zumindest habituell inzwischen fest verwurzelt in dem Milieu, das sich als schwarz-grünes Bürgertum beschreiben ließe. Dass sie gesellschaftlich viel liberaler daherkommt als die Union, in deren Wahlkämpfen das Angstwort „Clan-Kriminalität“ niemals fehlt, ist zwar programmatisch relevant, aber in einem Umfeld, das sich den Wohlstandsgenuss von sozialen Brüchen nicht allzu sehr stören lassen will, sind beide gemeinsam zu Hause.

Dabei wäre es vielleicht die bessere Idee, wenn die Grünen versuchten, was der Linken so kläglich misslungen zu sein scheint: den Krisen der Gegenwart mit einem umfassend emanzipatorischen Programm zu begegnen. Das hieße, die soziale Frage nicht nur anzusprechen, sondern in einem umfassenden Sinn neu zu definieren. Zwischen dem Anspruch gesellschaftlicher Minderheiten auf Nicht-Diskriminierung und dem Recht von Arbeitslosen auf volle Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gäbe es dann keine Unterscheidung mehr. Klimaschutz wäre deutlich mehr als die Fortsetzung des bestehenden Wirtschaftssystems mit neuem Treibstoff. Und Sozialstaat würde neue Formen des Wirtschaftens bedeuten statt nur Abfederung der profitgetriebenen Ökonomie durch einen halbwegs fürsorgenden Staat.

Es wäre der Versuch, das System, das uns die Klima- und andere Krisen mit eingebrockt hat, zu überwinden, statt es zu reparieren. Nicht spätestens bis morgen, sondern gern auch in kleineren Schritten, Koalitionen eingeschlossen. Aber wenigstens dass die Richtung stimmt, wäre dann ein zwingendes Kriterium für das Regieren. Die Grünen, so sieht es aus, haben sich gegen diese Konsequenz entschieden. Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen wäre der nächste Beweis.

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