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Kino | Der American Dream ist ausgeträumt


Link [2022-04-14 09:38:25]



Sean Bakers neuer Film „Red Rocket“ über einen abgehalfterten Pornostar funktioniert als böses Gegenstück zu seinem erfolgreichen „Florida Project“

Alles ist eigentlich heiter in Red Rocket. Der Himmel über Texas City, wo Mikey „Saber“ Davies (Simon Rex) mit dem Bus ankommt, leuchtet verführerisch, wie er das schon in Sean Bakers letztem Film The Florida Project und überhaupt in dessen Filmen gerne getan hat. „Bye Bye Bye“, trällern die Boys von NSYNC poppig, während sich der lädierte Mann seinen Weg bahnt, zwischen den Feldern hindurch, vorbei an den gewaltigen Anlagen der Ölindustriestadt mit ihren rauchenden Schloten. Dann ein urkomisches Wiedersehen: Mikey steht bei seiner Noch-Ehefrau Lexi (Bree Elizabeth Elrod) und deren Mutti (die leider kürzlich verstorbene Brenda Deiss in ihrer ersten Filmrolle) vor der Tür. Lexi vertreibt ihn zunächst vom Grundstück, um ihm dann doch Einlass und schließlich auch Obdach zu gewähren.

Mikey, von Simon Rex verkörpert als dauerschwätzender, „von der Welt gefickter“ Typ, wie er sich selbst beschreibt, ist nicht unsympathisch. Der Mann mit dem Hundeblick labert allen ein Kotelett an die Backe von seinem Wahnsinnsleben samt Pornokarriere in Los Angeles: den beiden desolat lebenden Frauen, bei denen er sich einnistet, dem Nachbarsjungen Lonnie (Ethan Darbone), in dem er einen ihn anhimmelnden Zuhörer und Chauffeur findet, der ihn in den nächsten Table-Dance-Schuppen oder in die Stadt fährt. Und auch den verschiedenen potenziellen Arbeitgeber:innen am Ende einer ulkigen Bewerbungsgesprächsmontage. Warum er eine 17-jährige Lücke im Lebenslauf hat? „Ich habe Erwachsenenfilmchen gedreht. Geben Sie mal Mikey Saber bei Google ein.“ Weil es mit dem Job nichts wird, beginnt Mikey für die hiesige Marihuana-Baronin (Judy Hill) zu dealen.

Damit nimmt seinen Lauf, was wie ein klassischer Sean-Baker-Film daherkommt. Wie kein Zweiter hat sich der US-amerikanische Regisseur auf die Seite des Prekariats und der gesellschaftlichen Randgestalten geschlagen. In Starlet (2012) erzählte er von einer Pornodarstellerin im „Porn Valley“, in Tangerine L.A. (2015) folgte er zwei transgeschlechtlichen Prostituierten und weiteren Figuren mit der Smartphone-Kamera durch die Straßen im Umkreis des Santa Monica Boulevard / Ecke Highland Avenue in Los Angeles. The Florida Project (2017) handelte von einer überforderten, aber liebenden Mutter und ihrer Tochter, die sich mit Almosen oder dem Verkauf von billigem Parfüm über Wasser halten. Dass die beiden im „Magic Castle“ hausen, einem heruntergekommenen Motel unweit des Walt-Disney-Resorts, ist die bildgewordene Manifestation jenes Kontrasts, den alle Baker-Filme gemein haben: zwischen Traum und Realität, zwischen filmischer Verspieltheit und Sozialrealismus.

Gemein haben sie auch, dass der Regisseur, mal stärker, mal weniger stark, semifiktional arbeitet. Viele seiner Figuren wurden aus dem Leben heraus gecastet und spielen mehr oder weniger Versionen ihrer selbst. Auch Mikey aus Red Rocket und der tatsächliche Simon Rex haben etwas gemein: eine Karriere in der Pornoszene. Model, MTV-VJ, Schauspieler und Rapper Rex als ehemaliger Darsteller in Homosexuellen-Filmchen, seine Baker-Version im Heterobereich.

Kaputtes Amerikabild

Doch trotz allem bildet Red Rocket gewissermaßen einen Cut im Baker’schen Œuvre. Denn so sehr der Himmel auch leuchtet, so lustig es aussieht, wenn Mikey wieder einmal mit dem zu kleinen Fahrrad über die Straßen cruised, so locker-flockig die Stimmung in teils drastischen Momenten auch bleibt: Red Rocket ist der, wenn man so will, böse Bruder von Florida Project. Träumte dort die kleine Moonee vom unbeschwerten Leben mit der Mutter und von Disneyland, am Ende sogar buchstäblich, will Mikey mit der minderjährigen Raylee (Suzanna Son), mit der er anbändelt, sein Comeback in der Pornoszene von Los Angeles feiern.

Mikey ist ein Gegenpol zu Bakers früheren Figuren, die zwar ebenfalls vom Leben gezeichnet und in existenzieller Not waren, dabei aber mit einem moralischen Kompass ausgestattet waren und mit bestem Wissen und Gewissen für ihre Liebsten handelten. Mikey steht für ein kaputtes Amerikabild, gewissermaßen fast für die „Ideale“ eines Donald Trump. Die Handlung ist im Sommer 2016 angesiedelt und der orange Clown im Wahlkampfmodus gegen Hillary Clinton flackert zwischendurch kurz über den dauerlaufenden Fernseher im Haus der Frauen. Konsequent wird mit Ambivalenzen gespielt: Weder ist Mikey ein böser Kerl, noch ist Raylee, die sich ganz Pornobranchen-affin ausgerechnet „Strawberry“ nennt, die ausgenutzte Minderjährige. Die lebenslustige Rothaarige weiß, was sie will, und ist in jederlei Hinsicht erfahren.

Red Rocket entpuppt sich als herausragend gespielter, unter der unterhaltsamen Oberfläche aber ziemlich böser Film. So subversiv hat Baker den American Dream noch nie zerlegt. An den Rändern der glänzenden Fassade und der Wahrnehmung Mikeys zeigen sich in kleinen, scheinbar nebensächlichen Momenten die Folgen eines kaputten Systems: Drogensucht infolge zu teurer Schmerzmittel, Prostitution als einziges Mittel der Existenzerhaltung.

Zugleich ist Red Rocket auch ein Abgesang auf toxische Typen mit ihren krummen, kaputten Weltbildern. „Wer raucht denn heute noch Joints? Nur alte Männer“, erklärt Raylee ihrem grinsenden Gegenüber, während die beiden einen durchziehen. Die Tüte ist gedreht aus einem Stars-and-Stripes-Blättchen: noch eins dieser vielsagenden Details in diesem Film. Später singt sie ihm, nachdem die beiden in ihrem rosa Kinderzimmer einen ersten Handyporno gedreht haben, am E-Klavier eine wunderbare Coverversion vor – von, na klar: Bye Bye Bye.

Info

Red Rocket Sean Baker USA 2021, 130 Minuten

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