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Kino | Bloß nie still stehen!


Link [2022-06-02 21:04:55]



Joachim Trier erzählt in „Der schlimmste Mensch der Welt“ so vital, wie man es nur selten sieht, von einem späten Erwachsenwerden

Der Moment auf der Hochzeit könnte als eine der sympathischsten Kennenlerngeschichten des Kinos in die Annalen eingehen. Julie (Renate Reinsve) ist die Partycrasherin, sie gibt sich als Ärztin aus, die gestressten Muttis erzählt, sie sollten mit ihren Kindern nicht zu viel kuscheln, weil die sonst später drogenabhängig würden. Dann trifft sie Eivind (Herbert Nordrum), und die Funken zwischen den beiden fliegen regelrecht von der Leinwand. Aber man gibt sich bedacht, schließlich sind sie in festen Beziehungen. „Ist das schon Fremdgehen?“, fragen sie sich, als sie sich unter den verschwitzten Achseln beschnuppern, sich gegenseitig beim Pinkeln beobachten – schön auch, wie ihr ein kleiner Pups rausrutscht! – und eigentlich nichts passiert, erst mal.

Das klingt auf dem Papier, wie so vieles in Der schlimmste Mensch der Welt, total kitschig, kommt aber in Joachim Triers Film so vital rüber, wie es nicht oft zu sehen ist. Dieser Film atmet vor Leben, ist so unterhaltsam wie klug. „Ich möchte Dinge einfach fühlen“, erklärt Julie einmal, nicht alles solle in Worte gefasst und psychologisiert werden. Auch wenn Triers Film keineswegs stumm daherkommt: Vieles bleibt unausgesprochen und wird den 35-mm-Bildern (Kamera: Kasper Tuxen) anvertraut.

Mit Der schlimmste Mensch der Welt kehrt Trier nach Oslo zurück, in jene Stadt, in der er aufwuchs. Es ist der dritte Teil seiner aus drei eigenständigen Filmen bestehenden „Oslo-Trilogie“, die das Lebensgefühl einer Generation einfängt.

Den Auftakt machte 2006 sein Nouvelle Vague atmendes, experimentelles Debüt Auf Anfang. Trier erzählte darin von zwei 20-Jährigen mit Schriftsteller-Ambitionen, von denen einer in der psychiatrischen Klinik landet. Oslo, 31. August von 2011 nahm den Faden auf. Der Film folgt über einen Tag lang einem frisch aus der Klinik ausgewiesenen Ex-Junkie Mitte 30 mit Suizidwunsch. Er wird zum Spiegel seiner Generation, wenn er alte Freunde besucht, die mittlerweile in familiären Konstellationen und Abhängigkeiten leben, und ihren Freuden und Sorgen lauscht.

Renate Reinsve, eine Wucht

Die Konstante dieser Filme ist der Schauspieler Anders Danielsen Lie. Er taucht auch in Der schlimmste Mensch der Welt auf, hier spielt er den Comiczeichner Aksel, für einige Zeit Julies Lebenspartner. Denn im Unterschied zu den beiden Vorgängerfilmen erzählt Trier nun aus der Perspektive von Julie, herrlich energetisch zwischen Tragik und Komik verkörpert von Renate Reinsve. Sie ist eine Wucht.

Der Film folgt Julie beim Nicht-stillstehen-Wollen und -Können. Ist sie wirklich „der schlimmste Mensch der Welt“? Weil sie die Mensch gewordene Sprunghaftigkeit und Impulsivität ist, aus gutbürgerlichem Hause kommt und erst ein Medizin-, dann ein Psychologie- und schließlich ein Fotografiestudium beginnt, um doch nichts von alledem zu beenden? Weil sie an der Schallmauer zum 30. Geburtstag keine Kinder will, ja überhaupt nicht recht weiß, was sie will, und auch bereit ist, eine sichere Partnerschaft zu beenden?

Ist sie nicht! Man hängt an ihr, ist bei ihr trotz ihrer Macken, wenn sie sich zwischen den Müttern mit ihren schreienden Kindern während eines Kurztrips im Ferienhaus von Aksels Familie hindurchlaviert oder sich bei der Release-Party zu Aksels neuem Comic, einer alles anderen als politisch korrekten Serie, langweilt. Oder auch, wenn sie bei einem verrückten Pilztrip in Eivinds Wohnung mit stark gealtertem Fatsuit-Körper gegen ihren faulen Vater kämpft und sich mit einem blutigen Tampon bewaffnet. Julies permanente Bewegung kann stellvertretend gelesen werden als Lavieren einer Generation, die in der Freiheit aufgewachsen ist, alles machen zu können und nichts zu müssen. „Listen to your heart“, singt Todd Rundgren im Song Healing, Pt. 1: Es ist Julies Refrain.

Bei aller Musikalität und einem tollen Soundtrack ist Der schlimmste Mensch der Welt vor allem ein Film mit ausgeprägten literarischen Bezügen. Nicht nur, dass Julie mit einem feministischen Artikel über Oralsex Aufmerksamkeit erfährt, in zwölf unterschiedlich langen Kapiteln mit Titeln wie „Die Anderen“, „Fremdgehen“ oder „Oralsex in Zeiten von metoo“ plus Prolog und Epilog und einer sich hin und wieder einschaltenden allwissenden Erzählerin präsentiert Trier das Panoptikum eines späten Erwachsenwerdens. Und das mit einem Hang zu Verspieltheit und Anarchie, der den Film selbst in Bewegung hält und für Überraschungen sorgt: das Unstete als ästhetischer Motor.

Da darf dann in einem Moment auch einfach mal die Zeit still stehen bleiben, nachdem Julie einen Lichtschalter umgelegt hat. In dieser verträumten Sequenz kehrt sich ihr Innerstes nach außen, als sie auf der Suche nach Eivind durch ein eingefrorenes Oslo rennt. In diesem Moment spiegelt sich eine Szene aus Oslo, 31. August. Saß dort der Protagonist am existenziellen Rand in einem Restaurant und sah und hörte in Gesprächen anderer das Leben an sich vorbeiziehen, bewegt Julie sich durch die Stille, ja, durch das Leben.

Damit ist Der schlimmste Mensch der Welt mit seiner zwischenmenschlichen Melancholie und der tragischen Schlagseite, die er bekommt, ein bitter-ehrlicher und doch optimistischer Film. Die einzige Antwort, die Trier gibt, lautet: Bleib in Bewegung, wenn dein Herz das fordert, auch oder vor allem gegen Konformitätszwänge.

Info

Der schlimmste Mensch der Welt Joachim Trier Norwegen/Frankreich 2021, 128 Minuten

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