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Kenia | Wie der Klimawandel den Untergang einer Kultur beschleunigt


Link [2022-03-09 08:53:11]



Seit Jahrtausenden lebt die Ethnie der El Molo am Turkana-See. Doch jetzt verschlingt der ihre heiligen Stätten

Bevor Mombasa Lenapir in sein wackeliges Kanu steigt, streicht er kurz über die Wasseroberfläche des Turkana-Sees. Am Ohrläppchen des 70-Jährigen baumelt ein Stück von einem Nilpferdzahn, es wird auch „Kalate“ genannt und soll der Beweis dafür sein, dass er als junger Mann ein Nilpferd getötet hat. Wenn es zutrifft, handelte es sich um einen Initiationsritus.

Lenapir sieht älter aus als 70 und gehört zur Volksgruppe der El Molo, die seit Tausenden von Jahren an den südlichen Ufern von Lake Turkana im Nordwesten Kenias lebt. Im Januar 2020 stieg der Pegel des Gewässers plötzlich so stark an, dass der Ortskern des Dorfes jäh auf einer Insel lag. Damals sah sich Lenapir gezwungen, seinen Wohnort zu verlassen. Aus Angst, vom sich ausbreitenden Wasser eingeschlossen zu werden, bauten er und einige andere Familien der Gemeinde neue Häuser in der Uferzone des Sees. Wieder andere trafen die Entscheidung, auf der entstandenen Insel zu bleiben und ihre Kanus dafür zu nutzen, zwischen der alten und der neuen Siedlung hin- und herzupendeln.

Im Boot zur Schule

„Können Sie sich vorstellen, dass wir jetzt mit dem Boot in einem Gebiet unterwegs sind, das einmal trockenes Land war?“, stöhnt Mombasa Lenapir. „Auf diese Höhe habe ich das Wasser bisher nie steigen und bleiben sehen. Noch vor ein paar Jahren verlief hier entlang der Schulweg für die Kinder, und sie spielten auf einem Terrain, das jetzt nicht mehr betreten werden kann. Früher fuhr oder lief man zu ihren Häusern. Jetzt müssen die Eltern Bootsbesitzer bezahlen, damit die Kinder in die Schule gelangen“, erzählt Lenapir. „Und für Kranke ist es schwierig, medizinischen Beistand zu bekommen, besonders nachts. Wer sollte ihnen helfen, und wie?“

Ein weiterer großer Verlust für die Gemeinschaft besteht darin, dass die Pumpstation, die früher Süßwasser aus der Erde holte, ebenfalls unter dem Wasserspiegel liegt. Daher müssen die El Molo für ihre Versorgung auf einen der relativ salzhaltigen Seen in Afrika zurückgreifen. Der hohe Anteil an Fluoriden verfärbt die Zähne und schwächt die Knochen. Vor allem Kinder sind anfällig für Krankheiten, die durch das Wasser mehr denn je übertragen werden. Durchfall ist normal, die Cholera verbreitet sich, Typhus wird wieder zur tödlichen Gefahr.

Der Turkana-See ist umgeben von einer wenig fruchtbaren Landschaft, durchzogen von Felsen und gesprenkelt mit schwarzem Vulkangestein. Und er gehört zum UNESCO-Welterbe. Innerhalb des vergangenen Jahrzehnts hat sich die Fläche des Sees um mehr als zehn Prozent vergrößert. Fast 800 Quadratkilometer Land wurden unter Wasser gesetzt. Für die El Molo bedeutete dies nicht nur, dass sie Fischereistandorte aufgeben mussten. Vielmehr fiel für sie ins Gewicht, dass Trinkwasser-Reservoirs zerstört und Grabstätten überflutet wurden. Außerdem sind Krokodile, dazu Nilpferde und Schlangen nähergerückt. Laut einem 2021 veröffentlichten, von der kenianischen Regierung verbreiteten Bericht hat der Anstieg des Wasserspiegels des Turkana-Sees wie auch anderer Gewässer im ostafrikanischen Grabenbruch Rift Valley mehrere Gründe: Zunächst einmal hat es im Wassereinzugsbereich der Seenplatte in den zurückliegenden Jahren sehr viel stärker geregnet als bis dahin üblich. Weitere Ursachen sind Landnutzungspraktiken, die nicht nachhaltig sind und zur Verschmutzung des abfließenden Wassers führen, sowie die geologischen Aktivitäten im Rift Valley selbst.

Laut einem UN-Umweltbericht von 2021 sei durch den Klimawandel künftig mit noch stärkeren Regenfällen für die Flüsse zu rechnen, die den See beeinflussen. Auf einen nochmaligen Anstieg des Wasserspiegels in den nächsten 20 Jahren müsse man sich einstellen. Dort lebende Communitys wie die El Molo würden soziokulturellem und ökonomischem Wandel unterworfen sein. „Wenn der Zufluss wie vorhergesagt zunimmt, steigt auch das Wasser des Turkana-Sees weiter. Die Überflutung im Jahr 2020 wurde noch als Ausnahme bewertet. Aber ohne Anpassungsmaßnahmen werden ähnliche Überflutungen in Zukunft garantiert regelmäßiger vorkommen“, heißt es in dem Bericht. „Die Hinweise auf weiter steigende Wasserstände vieler Seen in Ostafrika beruhen teils auf Szenarien des Klimawandels und der vorhergesagten Veränderung der Regenfall-Muster.“ Mit einer geschätzten Bevölkerung von gut tausend Einwohnern waren die El Molo schon zuvor stark gefährdet. Im UNESCO-Atlas der gefährdeten Kulturen der Welt wird ihre Sprache bereits als ausgestorben gelistet, weil kein El-Molo-Muttersprachler mehr bekannt ist, der den Dialekt fließend spricht. Die El Molo gehören zur ethnischen Gruppe der Kuschiten, aber ihre Verschmelzung mit in der Nähe lebenden nilotischen Gemeinschaften wie den Turkana und Samburu hat zum Verschwinden der Sprache beigetragen. Ihre Zukunft liegt bestenfalls noch in der Hand von Schulkindern, die anhand eines Schulbuchs oder schlichter Folklore eine rudimentäre Form der Sprache erlernen. Nur wie lange noch?

Fischfang mit Harpunen

Ursprünglich sollen die El Molo aus Äthiopien stammen. Rund 1.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung ließen sie sich an den Ufern des Turkana-Sees in Kenia nieder. Sie ernähren sich seit jeher vor allem von Fisch, der bis zuletzt mit traditionellen Speeren, Harpunen und Netzen gefangen worden ist. Je mehr sich der See aber ausdehnt, desto je stärker sind die Auswirkungen auf die verbleibende Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu sichern. „Durch den steigenden Wasserspiegel halten sich mehr Fische weiter draußen im See auf. Wegen des starken Windes können wir aber nicht weiter rausfahren, weil unsere Boote viel zu leicht kentern. Durch Unfälle haben wir bereits Opfer zu beklagen, doch können wir ohne den täglichen Fischfang kaum überleben. Der Anbau von Getreide oder Reis verbietet sich, weil es in dieser Gegend viel zu steinig ist“, meint Julius Loyok, der als lokaler Guide für gelegentliche Touristen arbeitet. Er befestigt sein Boot am Ufer der Komote-Insel, dann hilft er Mombasa Lenapir beim Aussteigen. An kleinen Häusern vorbei gehen sie in Richtung einiger traditioneller Schreine, die „Gantes“ genannt werden. Ältere Männer wie Lenapir kommen hierher, um andachtsvoll Opfergaben zu bringen, wenn ein Tragödie die Gemeinschaft trifft, oder um feindliche Gemeinschaften zu verfluchen. Auch bitten sie an diesem Ort um Regen und um Schutz vor Schlangenbissen. Es wird befürchtet, dass auch diese von vielen verehrten Schreine, die nah am Wasser liegen, bald nicht mehr zugänglich sind, wenn der See sich weiter ausbreitet. „Unsere Sprache ist tot, unsere Kultur am Verschwinden und unsere Häuser werden verschluckt“, klagt Lenapir.

Im Nachbardorf Layeni reicht das Wasser längst an einige Häuser heran. Auch ist eine Hälfte der Gräber auf dem Gemeinschaftsfriedhof bereits überspült, sodass es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis auch die andere für immer dem Verschwinden preisgegeben ist. In einer Gemeinschaft, in der die Verehrung der Toten einen hohen Stellenwert besitzt, ist der Anblick der Gräber unter Wasser besonders schmerzlich. „Es tut weh. Manchmal braucht man hier einen Moment der Zuflucht und Einsamkeit. Inzwischen jedoch muss ich mit anderen Leuten in einem Kanu anfahren, um eine wenigstens Ahnung der unsichtbaren Gräber zu haben“, klagt Lenapir. „Wir haben die Toten begraben und jetzt sind auch die Gräber begraben.“

Wenige Kilometer von den El-Molo-Dörfern entfernt gibt es ein „Wüsten-Museum“, in dem auch Kunsthandwerk der kleinen Volksgruppe ausgestellt wird. Behälter für Essen sind zu sehen und Tabak oder Schildkrötenschilde, die als Teller benutzt wurden. Die Ausstellung, so fürchtet der Verwalter Ntalan Ogom, könnte irgendwann der einzige Ort sein, an dem kommende Generationen etwas über einen untergegangenen Stamm, über ihre Vorfahren, eine ausgestorbenen Sprache und Kultur erfahren können. Er selbst gehört ebenfalls zu den El Molo: „Früher war der See unser Leben. Jetzt tötet er unser Volk. Wir müssen dieser bitteren Wahrheit ins Auge sehen, weil das für uns eine Überlebensfrage ist.“

Peter Muiruri ist ein kenianischer Journalist, der für den Guardian vor allem zu den Themen Reise und Naturschutz recherchiert

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