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Kassel | Kunstschau Documenta 15: Aporie Spritz


Link [2022-06-17 23:10:24]



Die documenta fifteen feiert den Kollektivgedanken und begreift sich als Herausforderung westlicher Denkstrukturen. Für manche klingt ihre Utopie des Aushandelns wie ein Alptraum. Hannes Klug hat sich auf diesen Fortbildungskurs eingelassen

Man muss eine Weile suchen, bis man das Kunstwerk von Jumana Emil Abboud entdeckt. Irgendwann führt einen die schemenhafte Zeichnung im Begleitheft dann doch noch zu einer unscheinbaren Stelle mit einer kleinen, flachen Konstruktion, die sich in das Bett der Ahne duckt, eines schmalen Bachs, der durch den Kasseler Nordstadtpark fließt. Abboud hat hier aus Baumstämmen und Lehm eine kleine Bühne zwischen die Ufer gebaut, auf der kreisförmig sechs Baumscheiben angeordnet sind: Ein Storytelling-Format ist hier geplant, Lese- und Erzählperformances, untermalt vom idyllischen Plätschern des Wassers und dem Gesang der Vögel.

Abboud arbeitet gern in und mit der Natur. Zuletzt hat die palästinensische Künstlerin das Thema Wasser ins Zentrum ihrer Arbeiten gestellt, das für Leben und Fruchtbarkeit steht, aber eben auch für Klimadürren und den zunehmenden Kampf um Ressourcen. Gewässer und Wasserstellen sind für die Künstlerin – so beschreibt es der Katalog – besondere, mit spirituellen Energien gefüllte Orte, über deren Vergangenheit sie alte Märchen und Sagen zutage fördert. Diese inspirieren dann Geschichten, die wiederum in einem kollaborativen Prozess gemeinsam geschrieben und später aufgeführt werden. Aber das ist eben noch nicht alles. Es geht auch um den Verlust von Wasserrechten, um die drohende Austrocknung bedrohter Quellen nahe der palästinensischen Stadt Ramallah, eine Folge der Politik des israelischen Staats, der Wasser aus den Quellen in nahe gelegene Siedlungen umleitet. So trügt die Idylle, unter dem Plätschern liegt ein Rumoren, und ein unscheinbarer Ort im Norden Kassels, an dem der von Naturferne geplagte Menschen sich neu mit Erde und Wasser verbinden soll, ist mit einem ganz realen politischen Thema aufgeladen. Auch Mythen und überlieferte Erzählungen können einen schwelenden Rohstoffkonflikt nicht wegimaginieren.

Mit der Eröffnung der 15. Documenta sollen Kunst und Politik einander endlich wieder befruchten anstatt einander zu diskreditieren. Die heftigen Diskussionen um die Antisemitismusvorwürfe gegen das indonesische Künstler- und Künstlerinnenkollektiv ruangrupa, die im Vorfeld der Kunstschau fast alle Aufmerksamkeit und jede Menge Energie verschlungen haben, scheinen mit der Eröffnung mit finalen Bekenntnissen, aber auch mit offenem Ende zu verhallen. Das passt zur Vorstellung der Kurator*innen, die Kunst als offenen und gemeinsamen Prozess zu verstehen, bei dem es vor allem um die soziale Praxis geht – darum, dass die lumbung members sich gegenseitig unterstützen, aushelfen und voneinander lernen. Gibt es Streit, will man, anstatt sich durchzusetzen, lieber zuhören; alle befinden sich quasi im Dauerprozess einer nie endenden Mediation. Ob etwas dabei herauskommt, Kunst gar, ist dabei erstmal egal: Stattdessen geht es um Freiräume ohne Druck und Zwang. Nur: Zur Eröffnung musste die Ausstellung natürlich trotzdem fertig sein, und da haben wir schon einen ersten, sehr offensichtlichen Widerspruch. Hierarchische Entscheidungsstrukturen, wie sie eben auch den Veranstaltern dieses Kunstfestivals als deutsche Kulturinstitution eingeschrieben sind – nein, danke. Für manchen klingt diese Utopie des ewigen Aushandelns wie ein veritabler Alptraum.

Ihr Handbuch ist nicht "Das Kapital", es ähnelt eher einer New-Age Bibel

Das Documenta-Handbuch ist nicht ganz Das Kapital und erinnert manchmal an eine New-Age-Bibel in Kunstkatalogform. Weil alles anders gemacht werden soll, müssen erstmal viele neue Wörter her, die ein neues Denken anstoßen. Also heißt es Vokabeln lernen: Der allgegenwärtige Begriff lumbung bezeichnet auf Indonesisch eine Reisscheune, in der eine Dorfgemeinschaft ihre Ernte gemeinsam aufbewahrt, also kommunal verwaltet, und von hier aus sprießen die Metaphern des Miteinander-Teilens: majelis (Treffen, Versammlung), Harvest (kein Sitzungsprotokoll, sondern festgehaltener Lernstoff) und lokales Ekosistem. Diese Documenta will in ihrem Kern ein künstlerischer Entwurf für eine alternative Form künftigen Zusammenlebens sein, der – wer weiß, man darf ja träumen – vielleicht sogar das Überleben der Menschheit in Einklang mit der Natur ermöglichen kann.

Das eigentlich Überraschende ist bei alldem nicht nur wie vielfältig, sondern auch wie überzeugend die präsentierte Kunst ist, die es hier zu erfahren gibt. Da sind die Arbeiten von Amol K Patil, dessen Skulpturen und Zeichnungen auf der Tradition des indischen antikolonialen Musiktheaters der Arbeiterklasse beruhen und das ganze Untergeschoss des Hübner-Areals durch Bilder, Plastiken und Musik aus einem alten Radio einnehmen. Im ausrangierten Hallenbad Ost lässt das Kollektiv Taring Padi die Protestkultur Indonesiens aufleben: Farbenfrohe Street-Art-Banner, Plakate oder Puppen aus Pappkarton klagen in opulenter Form Missstände an. Über einem mit Schädeln verzierten Gemälde eines Sargs mahnt dazu ein verblichenes blaues Graffiti an der Wand: „Vor verlassen der Schwimmhalle gut abtrocknen.“ Die Künstler*innen der haitianischen Gruppe Atis Rezistans (Künstler des Widerstands) bespielen gleich eine ganze katholische Kirche mit Skulpturen, Bildern und Grafiken, deren Voodoo-Ästhetik sich mit dystopischer Science-Fiction paart und sich hier besonders prägnant mit christlicher Ikonographie mischt, die zum Gebäude gehört. Als Materialien dienen schon aus Gründen der Verfügbarkeit in erster Linie recycelter Müll wie alte Fernsehapparate, Radkappen oder Computerschrott, die einen Kommentar auf Konsumismus und Wegwerfgesellschaft abgeben. Auch menschliche Knochen kommen in den Skulpturen zum Einsatz.

Ein Genie? Das Kollektiv bewahre!

An vielen Stellen geht es mindestens genauso sehr um Aktivismus wie um Kunst, beispielsweise in den multimedialen Installationen des Trampoline House, das seit über zehn Jahren in Dänemark Asylsuchenden hilft. In Videos erzählen Betroffene von den entmenschlichenden Praktiken der dänischen Behörden, gleichzeitig baut die Organisation ein metaphorisches Schloss, das territoriale Macht repräsentiert und die Ausübung von Eigentumsrechten kritisiert. Ein prominent im Raum stehendes „Help Desk“ dient als Anlaufstelle für alle Hilfe Suchenden, auch wenn die Documenta-Besucher vielleicht eher wissen wollen, wo die gut verborgenen Auf- und Abgänge zu den anderen Geschossen zu finden sind oder warum die Bratwurst bei einem Event, das sich in der Theorie jedem Marktdenken verweigert, fünf Euro kostet.

So wird man immer wieder mit dem unauflöslichen Gegeneinander von Anspruch und Wirklichkeit konfrontiert. Beim Aperol Spritz in der Lounge, die hier zwischen KFZ-Zulassungsstelle und Abschleppdienst liegt, wird die Theorie dann wieder dorthin verwiesen, wo sie herkommt, ins Reich der schönen, aber leider verdammt unpraktischen Konzepte. Dabei geht es ruangrupa doch ganz ausdrücklich um die Praxis, die sich überall in der Stadt verteilt und mit lokalen Initiativen und Aktivist*innen kurzschließt! An allen Ecken und Enden dieser Documenta wird daher gebastelt oder gewoben, gedruckt oder geschraubt. Man befindet sich gefühlt in einem mehrdimensionalen Fortbildungskurs, der alles, was westlichen, erfolgsorientierten Individualismus ausmacht, konsequent durchstreicht. Dazu gehören auch Kategorien wie Künstler, Künstlerin oder – das Kollektiv bewahre – gar Genie.

Unklar ist nur, was von all dem utopisch-provokanten Saatgut, das mit ruangrupa in den vergangenen drei Jahren in diesem meistens doch recht tristen Kassel ausgestreut wurde, in hundert Tagen, wenn hier alles vorbei ist, noch übrig bleiben wird. Ginge es nach dem indonesischen Kollektiv, entstünde nicht nur eine nachhaltige soziale, sondern auch wirtschaftliche Struktur, die Alternativen zu kapitalistischem Denken aufzeigen könnte. Sogar an eine eigene, alternative Währung ist mit der lumbung currency gedacht. Bis dahin aber ist mit dieser Documenta nicht nur eine wahrlich wunderbare Zusammenstellung globalen kollektiven Kunstschaffens, sondern auch eine Erschütterung westlichen Denkens nach Deutschland geschwappt, deren Herausforderungen längst noch nicht zu Ende gedacht sind.

Die documenta fifteen in Kassel ist für Besucher vom 18. Juli bis 25. September 2022 geöffnet

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