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Kampagne | Aufgabe verfehlt


Link [2022-01-22 19:40:11]



Journalist*innen werben mit ihren eigenen Gesichtern für das Impfen – warum das nicht zu ihrer Rolle als Vierte Gewalt passt

„Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“, das sind nicht nur die Zeilen eines mittelmäßigen Schlagersongs, der es mithilfe des Reality-Fernsehens zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Es ist nun gleichsam das Motto von Freischreiber, dem Berufsverband freier Journalist*innen. Dieser hat sich mit „Gesicht zeigen fürs Impfen“ zum Reizthema positioniert. Offensichtlich hat der Verband intensiv mit sich gerungen. Herausgekommen ist eine Aktion, bei der sich die Journalisten individuell erklären, also vor allem für sich selbst sprechen. Wollte man etwas zynisch sein, könnte man dieses Selbstgespräch in die eigene Echokammer hinein als eine etwas traurige Form des „virtue signaling“ interpretieren, aber ich möchte nicht zynisch sein.

Impfmüde Kolleg:innen

Warum man sich nicht als Verband positioniert, erläutert gleich der erste Absatz der Erklärung: „Auch in der Journalistenschaft“ gebe es „noch immer impfmüde Kolleg:innen“. Dass man als Journalist mit vielen Menschen in Kontakt komme, sei ein Risiko – für sich selbst und andere. Vorstandsvorsitzende Sigrid März bekennt: „Wir schützen unsere Quellen – Impfen schützt uns.“ Das verleiht dem Quellenschutz freilich einen gänzlich neuen Twist.

Das Gegenüber als Quelle des Risikos – das ist eine Denkfigur, die sich mit einer gewissen Festigkeit in der Krise etabliert hat und so schnell womöglich nicht mehr loszuwerden ist. Sie betrifft jedes gesellschaftliche Miteinander und hat ein völlig neues Verantwortungskonzept vorbereitet: Selbst derjenige, der unwissentlich und trotz Vorkehrungen den anderen infiziert, muss sich plötzlich die Schuldfrage stellen. Umso mehr, wenn er fahrlässig handelt, tja, und Fahrlässigkeit wird bereits in der mangelnden Impfbereitschaft erkannt.

Das Konzept des Gesicht-Zeigens kennen wir vor allem aus dem Bereich des Aktivismus gegen Rechtsradikalismus. Es ist verbunden mit der Annahme einer schweigenden Mehrheit, die die laute Minderheit gewähren lässt. Wer Gesicht zeigt, macht sich ehrlich, er riskiert zugleich etwas – etwa, sein Gesicht zu verlieren –, oder im Falle des Rechtsextremismus: sich zur Zielscheibe zu machen. Gesicht-Zeigen, das individuelle Einstehen für eine politische Botschaft oder eine gesellschaftsrelevante Thematik ist also eine Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, in der man sich weder hinter den anderen, der Politik etc. verstecken kann. Und sollten nicht gerade Journalisten, die ja die Vierte Gewalt im Staat sind, Gesicht zeigen, Stirn bieten?

Es geht um die Kontrolle der Regierung

Das Problem beginnt damit, dass hier Gesicht gegen Kollegen, im weiteren Sinne andere Bürger, gezeigt wird. Mich wundert oft, wie gerne wir Journalisten vergessen, dass unsere Hauptaufgabe nicht in der Kontrolle anderer Bürger mit Blick auf „gemeinschaftsschädigende“ oder „unsolidarische“ Verhaltensweisen besteht, sondern in der Kontrolle des Handelns der Regierung. Hier gab es auf vielen Ebenen offensichtliches Versagen, selbst wenn man großzügig in Rechnung stellt, dass es für uns alle die erste Pandemie ist, und dass das Virus permanentes Lernen, Korrigieren und Anpassen nötig macht.

Wiederholt konnte man in der Krise den Eindruck gewinnen, dass Journalisten – und nicht nur diese – besonders scharf Kritik am Mitbürger übten, wenn Frustration und Verzweiflung angesichts der Inkompetenz manch zuständiger Behörde oder Minister einen Höhepunkt erreichten. Dass wir ernsthaft eine Debatte über eine allgemeine Impfpflicht führen, während niemand genau weiß, wie viele Menschen tatsächlich geimpft sind, entbehrt nicht einer gewissen Komik (oder Tragik). Gesicht-Zeigen angesichts der Impfmüdigkeit von Kollegen wirkt dann wie eine Übersprungshandlung: Nun, man muss ja irgendetwas tun.

Bereits der Verweis auf die „impfmüden Kolleg:innen“ hat aber einen unangenehmen Beigeschmack, ein bisschen so, als hätte jemand Listen geführt. Wer weiß, aus welchen Gründen die Kollegen müde, skeptisch, zweiflerisch sind. Das wird sich im Einzelfall nur im Gespräch klären lassen.

Journalismus braucht Professionalität

Hier kommen wir zu einem heiklen Punkt: Bedeutet Journalismus, eine Öffentlichkeit – oder Kollegen – von der eigenen Haltung zu überzeugen? Muss man mit der eigenen Haltung hinterm Berg halten, um objektiv zu sein? Kann man objektiv sein, oder ist Objektivität nur verkappte Haltungslosigkeit? Wie kann man objektiv oder ergebnisoffen einen Missstand betrachten, wenn man selbst eine eindeutige Haltung dazu hat? Die Antwort lautet: Professionalität. Wie Intensivmediziner ihre Patienten behandeln, ohne zu beachten, ob die Person sich selbst gefährdete – Motorradfahren, Kettenrauchen, „Impfmüdigkeit“ – so ist es die Aufgabe des Journalisten, die eigenen Überzeugungen, den eigenen Standpunkt zu reflektieren und jedenfalls temporär beiseitezuschieben. Alles andere ist reiner Aktivismus, wobei sich die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus ohnehin stellenweise aufgelöst haben, etwa in der Figur des auf Twitter reüssierenden, Shitstorm-initiierenden Journalisten. Ein Journalismus, der regelrecht trunken ist ob der eigenen ethisch-moralischen Überlegenheit, ist vermutlich kein guter Journalismus.

Wenn man immer schon alles weiß und das Fallbeispiel ohnehin nur dazu dient, die eigene Wahrheit zu untermauern, dann muss man sich gar nicht die Mühe machen, Interviews zu führen, Haltungen der anderen zu ergründen. Journalismus setzt immer auch die Neugierde auf den anderen voraus, und aus guten Gründen glauben wir heute, dass es keine gute Idee ist, wenn Redaktionen aus soziokulturell homogenen Gruppen bestehen. Der Wunsch nach Diversität entsteht aus der Notwendigkeit, eine gewisse gruppenbezogene Blindheit für Phänomene zu überwinden. Bezogen auf impfmüde Kollegen könnte das heißen, dass man sich erneut ernsthaft und ohne die übliche Moralkeule mit den Argumenten auseinandersetzt. Gerade weil die Gruppe der Journalisten habituell recht homogen ist, wäre das Erkunden von Differenzen besonders erkenntnisträchtig.

Von einem klugen, kritischen Journalismus erwarte ich mir etwa, dass er floskelhaft gebrauchte Fahnenwörter wie „Solidarität“ hinterfragt: Vor allem Ostdeutsche, Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch bildungsferne und ökonomisch Schwächere sind Studien zufolge „impfmüde“. Könnte das damit zusammenhängen, dass sie die gesellschaftliche „Solidarität“ am eigenen Leib eher selten erfahren, dass sie sie als Floskel enttarnt und auf die harte Tour gelernt haben, was Maggie Thatcher einst zynisch schwadronierte: There’s no such thing as society? Jedenfalls nicht für die, die am Rande stehen. Dann wäre die Antwort wohl aber kaum eine Ausgrenzung der Impfmüden als „Pandemietreiber“. Von einem klugen Journalismus erwarte ich mir die Frage, warum die insbesondere auf Social Media angeheizte Empörung über ungeimpfte Fußballer größer ist als die Empörung über die Tatsache, dass für den allergrößten Teil der Weltbevölkerung kein Impfstoff zur Verfügung steht. Was – mit dem Blick auf „Herdenimmunität“ – in einer globalisierten Welt gleichbedeutend ist mit einer Einladung an das Virus, neue crazy Mutanten zu erzeugen.

Unnötig politisiert

Von kritischem Journalismus erwarte ich mir, die bisher von „rechten Schwurblern“ besetzte Kritik an der Verknüpfung von Gesundheit und Kapitalismus zu reflektieren: etwa das Missverhältnis zwischen staatlicher Förderung von Forschung (samt der Übernahme des Risikos für den Fall, dass kein Impfstoff entwickelt werden kann) und der Privatisierung von Gewinnen. Also eine dezidiert linke und in der Vergangenheit auch immer wieder von links vorgetragene Kritik an der Funktionsweise kapitalistischer Märkte (es betrifft bei Weitem nicht nur die pharmazeutische Industrie).

Es ist verständlich, dass man sich gern zu jener Gruppe zählt, die besonders solidarisch, aufgeklärt, mithin überlegen ist. Ein Bild vom Impfpflaster zu posten, ist bei vielen ein nett gemeinter Anstoß fürs Gegenüber: Schau mal, ich hab’s doch auch überstanden. Nun trau dich halt. In Bezug auf meine sächsischen Landsleute habe ich allerdings das Gefühl, dass es keine schlechtere Werbung fürs Impfen gibt als Bekenntnisse von Journalisten. Das darf niemanden vom Impfen abhalten, zeigt aber, dass es womöglich keine gute Idee ist, das Impfen unnötig zu politisieren, sich und seiner Bubble damit moralische Integrität zu signalisieren. Gesicht zeigen dient dann nur der Selbstbespiegelung.

Marlen Hobrack ist freie Journalistin und Kolumnistin des Freitag. Sie lebt in Leipzig

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