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Jacques Audiard im Interview | „Kino soll erotisieren“


Link [2022-04-04 03:14:37]



Der französische Regisseur spricht über den weiblichen Blick, kriselnde Männlichkeit und das Spiel mit sexueller Identität

Jacques Audiard sitzt ungeduldig an einem langen Konferenztisch in einem Hotel am Gendarmenmarkt in Berlin. Höflich fragt er, ob er eine rauchen dürfe. Auf dem kleinen Balkon steckt er sich eine Zigarette an und plaudert über Berlin, wo er gerade seinen neuen Film Wo in Paris die Sonne aufgeht bewirbt. Der Film über vier junge Menschen und deren amouröse Verstrickungen im hippen 13. Arrondissement der französischen Hauptstadt feierte vergangenes Jahr in Cannes Premiere, am 7. April kommt er in die deutschen Kinos. Ein Gespräch über die Kraft der Verwandlung, erotische Energie und falsche Versprechen.

der Freitag: Monsieur Audiard, Ihre Filme sind exemplarisch für ein „Kino der Krise“: Krise der Männlichkeit, Krise der Liebe. Worin besteht die besondere Herausforderung, Krisenmomente zu inszenieren?

Jacques Audiard: Eine der Funktionen des Kinos besteht ja darin, Formen für die heutige Welt zu finden und in diesem ganzen Magma das Herausragende zu entdecken. Eine Krise ist eine Zuspitzung, beispielsweise im Feminismus. Man darf die Dinge allerdings nicht einfach platt abbilden, sondern sollte sie umkreisen: Eine Form finden, die den Gegenstand erkennen lässt, ohne ihn direkt abzubilden. Als Regisseur versuche ich, Erzählungen, oder wie Roland Barthes sagen würde – auch wenn das jetzt vielleicht etwas anmaßend wirkt –, Mythologien zu gestalten.

Oft straucheln Ihre Männerfiguren. Weinende Männer, keine Seltenheit in Ihren Filmen. Wie haben Sie mit dem vorherrschenden „Macho-Kino“ gebrochen?

Mich interessieren Männer, die in gewisser Weise versagen. (überlegt) Stimmt, das war schon ein Thema in meinem ersten Film. Männliche Dominanz, das Patriarchat – das interessiert mich. Es ist aber nicht so, dass ich eines Morgens aufgestanden bin und mir gesagt habe: So, jetzt interessiere ich mich mal für die Krise der Männlichkeit in der westlichen Welt! (lacht)

Ihr Blick auf Männer und Frauen ist sehr körperlich. Ihre Figuren wirken wie von ihren Trieben gelenkt. Triumphiert der Instinkt über den Verstand?

Ja, meine Protagonisten haben eine spezielle Energie, die man als sexuell verstehen könnte. Ich würde sie aber eher erotisch nennen. Das Kino soll ja auch erotisieren. Wenn ich ein Casting mache, dann suche ich nach einer Person mit einer erotischen Verführungskraft, selbst wenn es sich um die Rolle einer Geschäftsfrau handelt. Wenn es diese erotische Dimension nicht gibt, dann ist der Charakter unglaubwürdig. Selbst in einem ganz banalen Gespräch bedarf es einer erotischen Aufladung!

Der Alltag ist Quelle der Verführung in Ihrem Film. Émilie verwandelt ihren Callcenter-Sprech in Liebesgesäusel. Viele sehen die Verführung in Gefahr. Sie nicht?

Nein, was meine Hauptfiguren ausmacht, ist, dass sie sich ständig verführen, und zwar im Gespräch. Ihr Leben dreht sich ums Vögeln, wie man so schön sagt. Ich glaube fest an die erotische Kraft der Sprache, wie auch Éric Rohmer. Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der man am ersten Abend miteinander ins Bett geht. Wann werden wir wohl wieder zu einem erotischen Dialog finden? Ich glaube jedenfalls daran, dass das passieren wird!

Sie finden sogar – und das ist selten! – eine überzeugende Bildsprache für die Sexualität einer missbrauchten Frau. Nora experimentiert mit ihrem Verlangen, versucht Autorität über ihren Körper zu gewinnen. Wie haben Sie sich dem Thema genähert?

Der Missbrauch hat dazu geführt, dass sie blind geworden ist gegenüber ihrer eigenen Sexualität. Das ist fürchterlich! Zugleich wollte ich nicht diesen „Oh je, wie schlimm!“- Effekt erzeugen, sondern auch eine weniger ernsthafte, leichtere Note einbringen. Es ist gar nicht so leicht, sexuelles Verlangen in seiner vielfältigen, auch komischen Seite abzubilden.

Zur Person

Foto: Neue Visionen Filmverleih

Jacques Audiard, 69, ist ein französischer Regisseur und Drehbuchautor. Bekanntheit erlangten seine Filme Lippenbekenntnisse (2001) oder Ein Prophet (2009). Er gewann etliche Preise, darunter die Goldene Palme von Cannes für Dämonen und Wunder

Das Spiel mit sexueller Identität gelingt vor allem der queeren Sängerin Jehnny Beth, die das Camgirl Amber Sweet verkörpert. Die lesbische Regisseurin Céline Sciamma ist Co-Szenaristin. Bedurfte es dieser Kooperation, um den männlichen Blick zu wandeln, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen?

Ich habe mit zwei Szenaristinnen zusammengearbeitet. Céline und Léa Mysius. Der weibliche Blick interessierte mich. Grundsätzlich ist die Geschichte des Kinos ja vom männlichen Blick im 20. Jahrhundert geprägt. Schauen wir mal, wie sich das Kino im 21. Jahrhundert entwickeln wird. Julia Ducournau, die letztes Jahr mit Titane die Goldene Palme gewonnen hat, hat einen ganz anderen Blick als Männer, als ich. Was sie macht, wäre mir nicht einmal in den Sinn gekommen als Mann. Das sind Themen, die einem weiblichen Geist wohl keine Ruhe lassen.

Oft müssen Ihre Figuren Abschied nehmen von der Idee, die sie von sich selbst haben. Haben Sie eine positive oder eher skeptische Haltung zur Metamorphose?

Ich habe eine moralische Haltung gegenüber der Metamorphose. Meine Figuren müssen sich wandeln, weil sie sich täuschen. Meine Filme habe alle etwas von einem Bildungsroman. Die Figuren glauben eine gewisse Identität zu haben, irren jedoch. Sie verlangen etwas vom Leben, das nicht gut oder richtig ist. Dann schreiten sie aber voran im Leben und begreifen, dass sie ganz anders sind.

Ihr Moralismus erscheint mir aber eher spielerisch ...

Meine Moral ist ja nicht düster. Ich weiß nicht, ob ich ein Moralist bin, aber es liegt in meinen Filmen etwas im Verborgenen, das man – ohne dass sich die Figuren dessen bewusst wären – Moral nennen könnte. Nicht Moral im Sinne einer Religion, sondern eines allgemeinen Menschenverstandes. Bei Éric Rohmer finden Sie das in den Moralischen Erzählungen. Immer auch gibt es ein komödiantisches Momentum. Die Figuren stolpern, lernen. Das macht die Entwicklung in meinen Filmen aus.

Die Geschichten Ihrer Figuren überkreuzen sich. Was hat Sie an diesem episodischen Stil gereizt?

Der Film basiert ja auf Adrian Tomines Kurzgeschichten und Graphic Novels. Die Charaktere sind zwar verschieden, stammen aber alle aus der Mittelschicht. Oft werden im französischen Kino Menschen aus der Provinz oder prekären Verhältnissen gezeigt. Ich habe mich bewusst für Figuren entschieden, die politisch nicht so engagiert sind, die sehr egoistisch und (lacht) egozentrisch sind. Diese Figuren findet man etwa bei Woody Allen. Man weiß nicht so recht, was sie machen, aber sie reden unheimlich viel über ihre Gefühle. Als ob diese Gefühle ihre Existenz ausmachten. Die sind nicht engagiert, eher desengagiert.

Allen gemein ist aber, dass sie aus „Aufsteigerfamilien“ stammen. Émilie hat an einer Eliteuniversität studiert, spielt Klavier ...

Das ist das Schicksal junger franco-asiatischer Frauen, die in der allgemeinen Vorstellung übrigens fast immer Chinesinnen sind. Émilie ist trotz dieser Bildung eine sehr unreife junge Frau, die erst im Laufe des Films, auch mit dem Tod der Großmutter, an Reife gewinnt.

„Olympiades“, so der Originaltitel des Films, bezieht sich auf ein Pariser Viertel im 13. Arrondissement. Dieses Quartier aus den 70er Jahren sollte ein Symbol für soziale Diversität sein. Heute, fünfzig Jahre später, lebt Émilie, eine junge chinesische Sciences-Po-Absolventin, in der Wohnung ihrer Großmutter und arbeitet im Callcenter. Camille, ein junger Lehrer, verdient in einer Immobilienagentur Geld dazu und lebt zur Untermiete. Das Frankreich der großen Versprechen vom Wohlstand für alle – gescheitert?

(lacht) Ganz bestimmt! Die einzige Figur in meinem Film, die nicht dominiert wird, ist Camille. Ich kenne persönlich einige Lehrer, die ratlos oder aus der Bahn geworfen sind. Sie haben studiert, viele Examina bestanden, und dann lässt sie das Bildungsministerium in dieser misslichen Lage. Diese Geringschätzung, die sie erleben müssen! Sie sind enttäuscht und hatten ursprünglich eine wahre Berufung. Das ist ein Problem.

Sehen Sie sich als Regisseur, der politisch wirksam sein will?

Nein, das ist nicht meine Zielsetzung. Für mich persönlich dient Kino dazu, der Gegenwart eine Form zu verleihen. Insofern ist Kino natürlich politisch. Es besitzt die Kraft der Transformation. Diese Kraft bezieht sich auf alle Bereiche, auch soziale Brennpunkte.

Und wie sieht es nun aus mit dem französischen Versprechen?

Ach, bitte, hören wir auf damit! Das deprimiert mich bloß! Wohlstand für alle ist doch nur ein Verkaufsargument der kapitalistischen Rechten, die auf den Markt vertraut. Der Markt aber befreit nicht, sondern unterdrückt.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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