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Interview | „Wir hängen in der Schockstarre“


Link [2022-03-13 11:14:01]



Sarah-Lee Heinrich, Sprecherin der Grünen Jugend, will zwar nicht über deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine sprechen, sorgt sich aber um die politische Linke. Die 100 Milliarden Euro fürs Militär hält sie für falsch. Warum?

Von den Aufrüstungsplänen der Ampel-Regierung überrascht waren alle. Jetzt muss sich auch die Linke mit dem 100 Milliarden-Programm für die Bundeswehr beschäftigen. Sarah-Lee Heinrich, Sprecherin der Grünen Jugend, stellt sich vor dem Hintergrund der pazifistischen Wurzeln ihrer Partei diesem Dilemma. Über eine Frage aber wollte Heinrich ausdrücklich nicht sprechen: die nach deutschen Waffenlieferungen für die Ukraine.

der Freitag: Frau Heinrich, laut einer aktuellen Infratest-Umfrage sind 68 Prozent der Grünen-Anhänger dafür, den deutschen Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzuheben. War’s das mit der Friedenstradition Ihrer Partei?

Sarah-Lee Heinrich: Solche Umfragen muss man im Kontext der gesellschaftlichen Stimmung betrachten. Gerade sterben täglich Menschen in der Ukraine. Putin schafft mit seinem ungerechtfertigten Angriffskrieg millionenfaches Leid und bedroht den Frieden auf der Welt. Da kann ich verstehen, dass viele Menschen verunsichert sind – ich bin es auch.

Olaf Scholz hat angekündigt, die Rekordsumme von 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr zu investieren. Gut so?

Da war ich, sagen wir, irritiert drüber. Die Bundeswehr hat ja kein Etat-Problem. Der ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie hat ein Strukturproblem. Wo versickert das ganze Geld? Man liest ja ständig Artikel darüber, dass sich Soldat*innen selber Stiefel kaufen, weil es keine gibt.

Was sollten wir dann tun?

Die Gleichsetzung, Sicherheitspolitik sei vor allem Militär, ist doch nicht mehr zeitgemäß. Energiepolitik ist Sicherheitspolitik. Sozialpolitik ist Sicherheitspolitik. Wir müssen so schnell wie möglich unabhängig von Autokraten werden. Deswegen sollten wir auch einen kompletten Importstopp von Kohle, Gas und Öl aus Russland in Betracht ziehen. Es kann ja auch sein, dass Putin uns ohnehin nichts mehr liefert. Und dann? Wenn unsere Energiesicherheit gefährdet ist, dann ist das ein Problem. Wir brauchen also schnell Milliarden-Investitionen in die Erneuerbaren. Und auch soziale Sicherheit müssen wir mitdenken.

Also 100 Milliarden in Windräder und Kitas stecken statt in Waffen?

Die Ausrede des Finanzministeriums, es sei kein Geld für alle notwendigen sozialen und klimapolitischen Maßnahmen da, lassen wir auf keinen Fall weiter gelten. Haben Sie das Interview mit Christian Lindner im Morgenmagazin vor ein paar Tagen gesehen? Sich in so einer Lage hinzustellen und von Kürzungen im Haushalt zu sprechen, ist unglaublich verantwortungslos. Die ganzen Konservativen, auch Friedrich Merz, die sind gerade alle voll am Start und reden darüber, wo wir sparen müssen fürs Militär. Die drücken jetzt ihre altbackenen Vorstellungen von Sicherheit durch. Als Linke müssen wir aufpassen, dass es da keinen Backlash gibt.

Aber was schlagen Sie vor? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat gerade in einer Pressekonferenz davor gewarnt, dass Putin nach der Ukraine bis zur ehemaligen Berliner Mauer durchmaschieren könnte.

Es wäre anmaßend, so zu tun, als hätte ich eine abschließende Antwort darauf, wie man Sicherheit für alle Menschen auf der Welt organisieren kann. Aber was da in der Ukraine passiert, ist auch für die politische Linke eine Zäsur: Wie soll kollektive Sicherheit aussehen?

Zur Person

Sarah-Lee Heinrich, 20, ist seit Oktober 2021 Bundessprecherin der Grünen Jugend – in einer Doppelspitze mit Timon Dzienus. Ihre politischen Vorbilder sind die US-Demokraten Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders. Sie lebt in Köln, wo sie Sozialwissenschaften studiert

Und, wie soll sie aussehen?

Das Problem ist doch, dass wir als Linke keine Antwort darauf haben, wie wir mit der Situation umgehen. Bis jetzt haben wir, eben weil wir friedensbewegt sind, nicht intensiv genug über die Frage geredet: „Wie soll die Bundeswehr aussehen?“ Das fühlt sich fremd an für uns. Aber wenn wir uns an der Debatte nicht beteiligen, rennen die Konservativen mit ihren Forderungen einfach durch. Dabei gibt es auch in der Grünen Jugend ein Bewusstsein dafür, dass die Bundeswehr adäquat ausgerüstet sein muss.

Wo ist dann das Problem?

Dass wir hier längst nicht mehr nur über Ausrüstung reden, sondern auch über Aufrüstung. Es geht nicht mehr nur um Helme: Olaf Scholz redete von Drohnen.

Irgendwie müssen die 100 Milliarden finanziert werden. Welche Vorhaben wird die Ampel Ihrer Meinung nach dafür opfern?

Gar keine.

Gar keine?

Ja, keine Aufrüstung auf Kosten des Sozialen. Auf keinen Fall darf jetzt an anderen sicherheitsschaffenden Posten gespart werden. Auf gar keinen Fall! Eine gute Gesundheitsversorgung schafft auch Sicherheit – das dürfte Corona doch gezeigt haben.

Wie soll es dann bezahlt werden? Mit einer Vermögenssteuer?

Um umfassende Sicherheit in den verschiedensten Bereichen herzustellen, darf die Schuldenbremse nicht mehr im Weg stehen. Darüber hinaus gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Wohlhabenden am Gemeinwohl zu beteiligen. Diese Krise darf nicht auf dem Rücken derer ausgetragen werden, die gerade sowieso schon soziale Härten erleben.

Wie schwierig ist die derzeitige Situation für die Grünen? Wird sich die Partei über das Thema Aufrüstung spalten? Fliegen bald wieder die Farbbeutel?

Es kann doch echt nicht sein, dass wir jetzt darüber reden, wie es meiner Mutterpartei geht oder wer sich in irgendwelchen Parteigremien streitet! Die Lage ist doch, dass Konservative gerade ständig irgendwelche Forderungen wie die Wehrpflicht aus dem Hut zaubern, die weder zeitgemäß noch hilfreich sind, und wir als politische Linke ein bisschen in der Schockstarre hängen. Klar muss es uns jetzt akut darum gehen, das Leid der Ukrainer*innen so schnell wie möglich zu beenden. Das heißt auf der einen Seite, die fliehenden Menschen aufzunehmen. Und auf der anderen Seite müssen wir weitgehende politische Sanktionen gegen Putin ermöglichen. Darüber hinaus ist es gerade als Linke unsere Aufgabe, Antworten auf die Frage zu finden, wie wir wirklich zu mehr Sicherheit in Europa und auf der ganzen Welt kommen.

Sie sind für einen Ausschluss aller russischen Banken aus dem SWIFT-Zahlungssystem.

Ja.

Und wenn Putin uns dann keine Kohle mehr verkauft? Ihr Parteifreund, Wirtschaftsminister Robert Habeck, hat für diesen Fall gerade prüfen lassen, ob man die Laufzeiten der Atomkraftwerke nicht verlängern könnte – damit in Deutschland die Lichter nicht ausgehen. Halten Sie das für eine gute Idee?

Robert Habeck hat gesagt, dass er das ergebnisoffen prüfen lassen will. Und das Ergebnis der Vorprüfung war, dass das keinen Sinn macht, weil es zu teuer wäre. Auch diese Debatte führt uns also nicht weiter.

Wird es einen „Kuhhandel“ geben? So in etwa: Die Grüne Jugend rebelliert nicht mehr gegen die 100 Milliarden, wenn die Mutterpartei ihnen dafür das Tempolimit und irgendwelche Energiesparprogramme verspricht. Also Aufrüstung gegen Klimaschutz?

Wenn wir über Sicherheit reden, müssen wir über alle Aspekte von Sicherheit reden. Und deswegen finden wir es falsch, 100 Milliarden einfach nur in den Wehretat zu geben. Es muss darum gehen, Energiesicherheit herzustellen und erneuerbare Energie voranzutreiben. Wir brauchen mehr Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit, für Diplomatie und Katastrophenschutz. Dafür müssen wir viele Milliarden in die Hand nehmen. Aber das steht nicht gegen Sicherheitsinteressen: Das ist unser Sicherheitsinteresse!

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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