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Interview | „Was haben wir übersehen?“


Link [2022-05-21 23:13:39]



Die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann erreicht in Russland mit bildungspolitischen Sendungen im Radio und auf Youtube Hunderttausende. Seit Kurzem ist sie in Berlin und wurde als „ausländische Agentin“ gebrandmarkt

„An welchem Punkt der russischen Geschichte soll ich anfangen?“, fragt Ekaterina Schulmann zurück, als wir in einem Konferenzraum in Berlin-Mitte von ihr wissen wollen, was dazu geführt hat, dass sie seit Anfang April hier als Fellow der Robert-Bosch-Stiftung ist. Schulmann arbeitete in den Nullerjahren für die russische Staatsduma und erstellte juristische Gutachten. Da war sie gerade mal Anfang 20. Sie lehrt an zwei renommierten Universitäten in Moskau und hatte eine wöchentliche Radiosendung bei Echo Moskau, bis der Sender Anfang März geschlossen wurde. 2018 und 2019 gehörte sie dem Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten an, bis sie nach nur zehn Monaten zusammen mit dem Vorsitzenden und einigen anderen Mitgliedern ihres Postens enthoben wurde. Seit 2017 bespielt sie außerdem einen Youtube-Channel, der inzwischen knapp eine Million Follower hat, was sie selbst bemerkenswert findet, wo es bei ihr „nicht um Schminktipps oder Peppa Wutz geht, sondern um politische Theorie und manchmal auch unsere politische Führung“. Damit hat sie in Russland einen gewissen Kultstatus erlangt.

Die Robert-Bosch-Stiftung, erzählt sie, habe sie wegen des Fellowships bereits vor einem Jahr angesprochen. „Offen gesagt, hatte ich damals wenig Interesse, aus Russland wegzugehen. Ich habe drei Kinder, mit einer Familie umzuziehen, ist kompliziert.“ Als ihr nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine öffentlich mit Ermittlungen wegen Finanzbetrugs gedroht wurde, verstand sie das als klares Signal: „Sie sollten sich jetzt besser beeilen.“

der Freitag: Frau Schulmann, wie haben Sie den 24. Februar 2022 in Moskau erlebt?

Ekaterina Schulmann: Mit einem Schlag wurde klar, dass unser früheres Leben vorbei ist. Für uns Politologen war es ein doppelter Schock: als Bürger und als öffentliche Intellektuelle, mithin Menschen, die eine gewisse Verantwortung für ihre Worte tragen. Ich will keine Vorhersagen machen, denn das ist keine Wissenschaft, sondern Aufmerksamkeitshascherei. Das vermeide ich unbedingt. Aber ich habe bis zuletzt nicht geglaubt, dass es zu einem Einmarsch und zum Krieg kommen wird. Nun müssen wir uns eine Menge Fragen stellen. Was haben wir übersehen? Wir – nicht nur ich, sondern alle meine Kolleginnen und Kollegen – hatten doch keine Illusionen mehr. Wir wissen, wie Entscheidungen gefällt werden und der Machtapparat funktioniert, weil wir ihn jahrzehntelang beobachtet haben. Viele von uns haben, wie ich selbst, dort gearbeitet, haben Kontakte zu Leuten, die noch an Bord sind. Was also waren unsere blinden Flecken?

Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Wir befinden uns erst am Anfang einer sehr tragischen und weitreichenden Entwicklung und können noch keine echten Analysen erstellen. Mir hat einmal die Antwort eines amerikanischen Chefanalytikers sehr gefallen, der auf die Frage nach den Folgen der Französischen Revolution meinte: Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen.

Kurz nachdem Sie in Berlin ankamen, landeten Sie auf der Liste „ausländischer Agenten“ des russischen Justizministeriums. Was hat es damit auf sich?

In Russland zu leben und als „ausländischer Agent“ registriert zu sein, macht es nahezu unmöglich, gesellschaftlich zu existieren. Man muss alles, was man veröffentlicht, einschließlich aller Kommentare in den sozialen Medien, mit einem langen Etikett versehen. Wäre ich noch in Russland, wäre ich praktisch zum Leben einer Hausfrau verdammt: Man darf nicht unterrichten, niemand lädt einen mehr zu öffentlichen Diskussionen oder Reden ein. Das wäre zwar nicht verboten, aber wer will sich dem aussetzen? Außerdem muss man dem Justizministerium vier Mal jährlich die eigenen Einnahmen und Ausgaben melden. Zu diesem Zweck muss man sich als GmbH registrieren lassen. Wie man eine Person dazu zwingen kann, eine Handelsgesellschaft zu werden, ist mir ein Rätsel ...

Warum sind Sie auf dieser Liste gelandet?

Ich glaube, nun waren eben die politisch engagierten Video-Blogger an der Reihe. Yuri Dud kam ebenfalls auf die Liste, einer der berühmtesten Video-Blogger Russlands mit zehn Millionen Abonnenten und ein Idol der jüngeren Generationen. Ich glaube nicht, dass es daran lag, dass ich das Land verlassen habe, beziehungsweise: den Standort gewechselt habe. „Standortverlegung“ ist das Wort des Jahres. Ganze Redaktionen, Medien, Bildungseinrichtungen verlegen gerade ihren Standort nach Vilnius, Riga oder Tiflis.

Warum sagt man lieber „Standortverlegung“ statt Emigration?

Emigration klingt tragisch, weckt erhabene historische Erinnerungen und lässt einen wie Nabokov klingen. „Standortverlegung“ dagegen hört sich einfach nach Business an.

Gibt es einen Weg, von dieser Liste wieder gestrichen zu werden?

Es gibt noch kein etabliertes Verfahren. Die meisten versuchen zu klagen.

Wir haben gehört, dass Sie das auch tun wollen.

Ja, denn das ist eine Chance, um herauszufinden, was sie damit meinen: Ich sei ausländische Agentin. Ich kandidiere bei keiner Wahl, ich dränge niemanden zu irgendetwas, ich mache nur meine akademische Arbeit und spreche darüber im Internet, das war’s. Ich sehe nicht, wie das eine Tätigkeit als ausländischer Agent darstellen soll. Manche haben schon geklagt, und es stellte sich heraus, dass 200 Euro, die ihnen jemand geschickt hat, als Finanzierung aus dem Ausland gewertet wurden. In meinem Fall könnte das die mit Youtube-Videos automatisch verbundene Google-Werbung sein ...

Auf diese Weise kann man ja jeden zum Agenten erklären, der auf Youtube Videos postet ...

Das ist genau die Intention dieses Gesetzes: Man kann es willkürlich anwenden. Jetzt gerade wird in der Duma über eine neue, verschärfte Version diskutiert, mit noch mehr Einschränkungen. „Ausländischen Agenten“ soll es verboten werden, überhaupt mit Minderjährigen zu kommunizieren – ich frage mich, ob das dann auch für meine eigenen Kinder gilt?

Zur Person

Ekaterina Schulmann, 1978 in Tula geboren, ist in Russland durch ihre Sendung Status für Echo Moskau und ihren Youtube-Channel bekannt. Die Politikwissenschaftlerin studierte in Ontario und Moskau und ist auf Rechtspolitik spezialisiert. Seit April ist sie mit ihrer Familie in Berlin

Sie haben als Politikwissenschaftlerin, die auf Youtube aktuelle Ereignisse einordnet und politische Theorien vorstellt, knapp eine Million Follower. Welche Stellung hat die Politikwissenschaft als solche im heutigen Russland?

In der Sowjetunion gab es ja keine Sozialwissenschaften – was braucht man eine Politikwissenschaft, wenn man mit der marxistisch-leninistischen Theorie, der einzig richtigen, alles erklären kann – die Entwicklung von Geschichte, Gesellschaft und Politik? In den frühen 90er Jahren entstand also erstmals eine große Nachfrage generell nach sozialem Wissen. In den Köpfen vieler gebildeter Russen ist das noch immer eine Lücke. So hört man überraschend oft, dass selbst gut ausgebildete, kultivierte Menschen, Ingenieure, Physiker, IT-Spezialisten, Sätze sagen, die völlig ungebildet, ja primitiv klingen, sobald sie anfangen, über Politik zu reden.

Geben Sie bitte ein Beispiel.

Das Stichwort Geopolitik ist so eine besonders infektiöse Ketzerei. Sie ist nichts anderes als die Verherrlichung der Geografie auf Kosten der Geschichte. Sie besagt, dass die geografische Lage eines Landes sein unabänderliches Schicksal sei. Russland also ist ein großes Land voller Ressourcen, um die es jeder beneidet. Es kann keine Demokratie sein, weil es so groß und kalt ist. Wenn ich diese These höre, frage ich immer: Und was ist mit Kanada? Auch ziemlich groß, stellenweise sehr kalt, große Teile des Territoriums unbewohnbar, es gibt sogar eine Provinz, die nach Unabhängigkeit strebt und verschiedene Sprachen im selben Land! Aber irgendwie konnte Kanada seinem unvermeidlichenSchicksal, eine Autokratie oder gar eine Diktatur zu werden, bislang entkommen ...

Wladimir Putins Umgebung spricht oft von Geopolitik ...

Die „Silowiki“, Putins Machtelite, sind alle erschreckend ungebildet, nicht nur was Sozialwissenschaften angeht. Gleichzeitig bilden sie die Schicht mit dem höchsten Sozialprestige. Ihre Religiosität gleicht einer Art Schamanentum. Sie halten sich für Christen, aber sollte ihnen mal jemand aus Versehen eine Stelle aus dem Evangelium vorlesen, würden sie die Welt nicht mehr verstehen. Diese Leute haben ihr ganzes Leben in hierarchischen Strukturen verbracht, mit dem Befolgen von Anweisungen. Von der Außenwelt haben sie eine seltsame und begrenzte Vorstellung. Sie folgen einem Ethos und einer Moral, wie man sie aus kriminellen, aus mafiösen Kreisen kennt. Die Frage der Ehre ist zentral, alles dreht sich um Beziehungen von Mann zu Mann und ihrer Hierarchie. Man tötet wegen eines falschen Worts, eines falschen Blicks. Schwäche oder Emotionen zu zeigen, ist verpönt. Man kann eigentlich keine echte Familie haben, weil man keine sinnvolle Beziehung mit einer Frau eingehen kann. Das gesamte Leben spielt sich in der Gesellschaft von Männern ab, Kollegen, Konkurrenten, Chefs. Auch die Feinde sind alle männlich ... dieses kriminelle Ethos ist dem feudalistischen Ethos sehr ähnlich.

Gibt es nach Ihren Beobachtungen Unterschiede zwischen den Generationen, was die Reaktion auf den Krieg angeht?

Tatsächlich spielt das Alter dabei die größte Rolle – dazu haben wir gute Daten. Je jünger, desto geringer die Unterstützung für diese militärische Intervention. Bei den über 65-Jährigen ist der Krieg am beliebtesten, und Männer unterstützen ihn eher als Frauen. Trotz aller Fortschritte des Feminismus wird das Schicksal der Welt also immer noch von alten Männern entschieden, die die ethnische Mehrheit ihrer Länder vertreten: sowohl in den USA als auch in China und in Russland. Wir sollten in Zukunft wirklich für mehr Vielfalt optieren. Oder zumindest verhindern, dass Männer das Entscheidungsmonopol haben, denn das ist zu gefährlich.

der Freitag: Sie machen nicht gerne Vorhersagen, haben Sie gesagt. Aber trotzdem: Halten Sie es für möglich, dass sich die Einstellung der jüngeren Generation ändern könnte, wenn der Krieg andauert?

Ekaterina Schulmann: Es gibt aktuell den offensichtlichen Versuch, unser Bildungssystem zu ideologisieren. In den Schulen werden patriotische Vorträge gehalten, um ein korrektes Verständnis der aktuellen Ereignisse in den Köpfen der Jüngsten zu verankern. Darin unterscheiden sich autoritäre und totalitäre Regime. Die meisten denken, der Unterschied läge im Ausmaß der Unterdrückung, aber das ist falsch. Sowohl Demokratie als auch Totalitarismus beruhen auf Partizipation, nur ist sie in Demokratien vielfältig und freiwillig, in totalitären Regimen dagegen monopolisiert und obligatorisch. Autoritäre Regime auf der anderen Seite betreiben eine Politik der Demobilisierung; sie hindern die Menschen daran, sich zu beteiligen, politisch aktiv zu sein. 20 Jahre lang war Russland in dieser Weise eine Wahlautokratie, die ihre Bürger sehr entschieden und effektiv entpolitisiert hat. Jetzt wird versucht, sie zu einer aktiveren Unterstützung zu bewegen. Dafür muss das Bildungssystem geändert und auf eine Ideologie ausgerichtet werden. Das Schwierige ist nun, dass wir im Gegensatz zum sowjetischen oder faschistischen Regime keine Ideologie haben. Es gibt nur Fetzen und Bruchstücke von hier und da, keinen gültigen sakralen Text. Aber wenn die derzeitige Situation noch fünf bis zehn Jahre anhält, Russland sich weiter isoliert, ohne freie Medien, während in den Schulen ideologisch indoktriniert wird – dann ist gut möglich, dass es in fünf bis zehn Jahren eine neue Generation gibt, die nichts anderes kennt. Im Moment gibt es aber nur erste Ansätze – und ehrlich gesagt habe ich so meine Zweifel, dass es dieser alten, trägen Autokratie so schnell gelingt, ein neues aktives, muskelbepacktes faschistisches Regime zu werden.

Haben Sie vor Ihrer Abreise aus Moskau so etwas wie Feindseligkeit gegenüber kriegskritischen Intellektuellen wie Ihnen selbst erlebt? An Ihre Haustür soll ein Plakat geklebt worden sein, auf dem behauptet wurde, Sie unterstützten ukrainische Nazis.

Ja, und bei anderen wurde der Buchstabe Z an die Tür geschmiert. Aber all das waren keine Nachbarn, nein, das ging von der Polizei aus. Das ist nicht die Stimmung der Massen. Ich bin seit drei Wochen außer Landes, vielleicht haben sich die Dinge geändert, und ich möchte es immer vermeiden, meine eigenen Erfahrungen als Beweis für etwas anzuführen. Aber ich persönlich habe keine negativen Reaktionen von irgendjemandem erfahren. Ich habe nicht einmal Hasspost bekommen; aus irgendeinem Grund ziehe ich keine „Hater“ an, ich glaube, ich bin zu langweilig.

Nicht einmal auf Ihrem Youtube-Kanal?

Da wird höchstens bemängelt, wann ich mir endlich die Haare färbe. Oder dass ich zu schnell spreche. Oder gemutmaßt, dass ich jüdisch wäre. Was auch deshalb lachhaft ist, weil es sich um den Namen meines Mannes handelt, der aus dem Deutschen kommt und eigentlich sogar mal „von Schulmann“ lautete.

Was, glauben Sie, sieht der Westen in diesem Konflikt mit Russland falsch?

Ich weiß es nicht. Tatsächlich haben ja westliche Regierungen den Beginn des Krieges richtig vorhergesagt, als wir in Russland noch glaubten, dass der Truppenaufzug an der Grenze nur dazu da wäre, ein diplomatisches Ziel zu erreichen. Der Westen lag also richtiger als wir. Es gibt das Sprichwort: den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Das ist der Fluch des Experten: Man neigt dazu, sich auf die einzelnen Bäume zu konzentrieren, und man studiert diesen Baum und jenen Baum mit all den Insekten, die auf ihm krabbeln, und jeden Ast und jede Nadel. Und dann bricht ein Waldbrand aus und man wird gefragt: Warum hast du das Feuer nicht vorhergesehen? Wer hat es entzündet? Wann wird es enden? Was ist sein Sinn? Und wo sind jetzt deine ganzen Bäume? Das ist so in etwa die Situation, in der wir uns befinden.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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