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Interview | Ukrainischer Filmemacher über den Krieg: „Die Welt wacht auf“


Link [2022-03-14 08:59:59]



Der Filmemacher Sergei Loznitsa hat sich mit Krieg und Gewalt in Dutzenden von Spiel- und Dokumentafilmen beschäftigt. Vom Einmarsch Russlands in seiner Heimat fühlt er sich nun ganz persönlich betroffen

Zum ersten Mal traf ich den ukrainischen Filmregisseur Sergei Loznitsa 2012, als er gerade mit seinem Spielfilm Im Nebel auf dem Weg zum Filmfestival nach Cannes war. Der Film, eine Adaption des gleichnamigen Romans des Kriegsveteranen Wassil Bykau, bekam den Preis der Internationalen Filmkritik. Zwischen damals und heute liegen zehn Jahre, einige Kriegsentwicklungen, ein weiteres Dutzend Dokumentar- und Spielfilme – und einige Treffen mit ihm. Zu seinen Filmen der vergangenen Jahre zählen Werke wie die Dokumentarfilme Maidan (2014) über die Ereignisse in Kiew 2013/2014, Austerlitz (2016), eine kommentarlose Beobachtung des alltäglichen Touristenstroms in der Gedenkstätte Sachsenhausen, oder Tag des Sieges (2018), der das Treiben am 8. Mai rund um das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Treptower Park beobachtet. Für den Film Der Prozess (2018) montierte Loznitsa Archivaufnahmen eines Schauprozesses der Stalin-Ära neu, um die Inszenierung einer Täuschung zu entlarven. Dazwischen entstanden Spielfilme wie Die Sanfte (2017) und Donbass (2018), der die Zustände in den Kriegsgebieten in der Ostukraine in Vignetten schildert, die zwischen tiefschwarzer Komödie und Horrorfilm oszillieren. Im letzten Jahr stellte er mit Babi Yar. Kontext und Mr. Landsbergis (über den Begründer der litauischen Unabhängigkeitsbewegung) wieder zwei Dokumentararbeiten vor.

Loznitsa, 1964 im belarussischen Baranawitschy geboren, ist in Kiew aufgewachsen, hat dort Angewandte Mathematik studiert und war am Kybernetik-Institut und darüber hinaus als Übersetzer aus der japanischen Sprache tätig. Nach der Wende 1991 ging er nach Moskau, um sich an der staatlichen russischen Filmhochschule WGIK zum Filmregisseur auszubilden. Nach einigen Jahren als Dokumentarfilmemacher in St. Petersburg zog Loznitsa nach Berlin, wo er seit Anfang der 2000er lebt.

In den Jahren zuvor hatte ich mit ihm immer wieder über die unterschiedlichen Möglichkeiten, die Dokumentarfilm und Spielfilm bieten, gesprochen sowie über die Querverbindungen zwischen Film, Sprachen und Mathematik in seinen Filmen. Oder über die Rolle der japanischen Sprache beziehungsweise Hieroglyphen für das Filmbild. Warum er überhaupt Filmemacher wurde, war auch Thema. Seine Eltern haben ihr Leben lang als Flugzeugkonstrukteure für die Antonow-Werke in Kiew gearbeitet. Das Studium der Mathematik war für ihn seinerzeit auch ein Weg, die Einberufung in den Afghanistankrieg zu vermeiden. Einige seiner Freunde seien aus diesem Krieg nicht zurückgekehrt, andere schwer traumatisiert, erzählte Loznitsa mir bei anderer Gelegenheit schon einmal. Krieg ist zu einem zentralen Thema seiner Arbeit geworden. Häufig ging es um die Kriege des 20. Jahrhunderts. Nun ist ein neuer Krieg in der Ukraine ausgebrochen, über den wir sprechen müssen.

der Freitag: Herr Loznitsa, wer trägt aus Ihrer Sicht die Schuld an der derzeitigen Misere in der Ukraine?

Sergei Loznitsa: In erster Linie natürlich das kriminelle russische Regime. Aber auch die internationale Gemeinschaft, Europa und die USA tragen ein erhebliches Maß an Verantwortung für das, was sich jetzt abspielt, denn sie haben jahrelang versucht, die Gangster zu besänftigen und mit Herrn Putin nach den Regeln der pragmatischen Politik, der Realpolitik, Geschäfte zu machen. Damit haben sie zur Konsolidierung des bösen und korrupten Regimes beigetragen, das von einem Gangster geführt wird.

Gibt es einen Weg zurück von der jüngsten Entwicklung zwischen Russland und der Ukraine?

Was meinen Sie mit „Weg zurück“? Es gibt einen Weg nach vorne, der das Ende dieses Krieges, die Kapitulation Russlands und den Prozess gegen die Kriegsverbrecher vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag bedeuten würde.

Zur Person

Foto: privat

Sergei Loznitsa wurde 1964 geboren, ist in Kiew aufgewachsen und hat die Filmhochschule in Moskau absolviert. Mit dem dokumentarischen Kurzfilm Heute bauen wir ein Haus gewann er 1996 die Goldene Taube beim Dokfest Leipzig

Neben vielen anderen Themen behandeln Sie auch das Motiv des Bauernopfers, sehr ausgeprägt etwa in Ihrem Film „Im Nebel“. Sehen Sie die Gefahr, dass die Ukraine jetzt zum Bauernopfer gemacht wird, betrachtet man die mangelnde Entschlossenheit vieler internationaler Institutionen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Regierungen?

Ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil. Wir sehen Tag für Tag, wie die internationale Unterstützung für die ukrainische Sache immer stärker, kohärenter und universeller wird. Wir sehen eine enorme weltweite Unterstützung und Solidarität, die sich in vielfältiger Weise manifestiert – von militärischer Hilfe bis hin zu humanitären Bemühungen. Wir sehen Berichte über britische und japanische Freiwillige, die sich der ukrainischen Territorialarmee anschließen, um gegen russische Invasoren zu kämpfen, wir sehen polnische Freiwillige, die sich an die Grenze begeben, um Flüchtlingen zu helfen. Auch aus politischer Sicht hat die Unterstützung für die Ukraine ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Die Ukraine hat offiziell einen Antrag auf Beitritt zur EU gestellt, der nun im Schnellverfahren bearbeitet wird. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der aufsteigende Stern der Weltpolitik, steht in täglichem Kontakt mit den Führern der freien Welt. Es scheint, dass die Welt endlich aufwacht. Es ist jetzt klar, dass die Ukrainer nicht nur für ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, sondern für ganz Europa – um Europa vor dem barbarischen, kriminellen Regime zu verteidigen, das eine globale Bedrohung darstellt.

Sie haben gerade Ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Filmakademie gekündigt. Warum?

Ich fand die erste Erklärung der EFA sehr beschämend – sie war zu zweideutig, zu schwach. Inzwischen haben sie ihre Position überdacht und eine weitere Erklärung abgegeben, in der sie den Krieg und die russische Aggression verurteilen.

Was können Sie sich als rationaler Mensch, Sie sind Filmregisseur, aber auch Mathematiker, als Lösung für die derzeitige Situation vorstellen?

Die Kapitulation Russlands, die Rückgabe aller besetzten Gebiete – einschließlich der Krim und der Donbass-Region, gefolgt von einem Prozess gegen die Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der nächste Schritt ist die Entsowjetisierung Russlands. Es sollte ein ähnlicher Prozess stattfinden wie in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Gesellschaft entnazifiziert wurde. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die sowjetische Ideologie und das sowjetische System lebendig sind und dass Putin und sein Regime direkte Nachfahren Stalins sind. Jahrelang hat der Westen die Verbrechen des „neuen Russlands“ ignoriert und es vorgezogen, mit ihm Geschäfte zu machen. Jetzt ist die Zeit gekommen, sich dem Übel zu stellen und es zu besiegen.

Sie sind dabei, Ihren Dokumentarfilm „The Natural History of Destruction“ fertigzustellen. An welchen Themen arbeiten Sie gerade?

Ich habe gerade einen Film mit dem Titel Kiewer Prozess fertiggestellt, der auf Archivmaterial des Prozesses gegen Naziverbrecher, der 1946 in Kiew stattfand, basiert. Jetzt arbeite ich an The Natural History of Destruction, einem weiteren Archivfilm, der von W. G. Sebalds Essay inspiriert wurde. Der Film handelt von den Bombardierungen deutscher Städte durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Es geht um die Nutzung der Zivilbevölkerung als „Kriegsmittel“. Ein Thema, das auch heute noch sehr aktuell ist. Im April dieses Jahres wollte ich mit den Vorbereitungen für den Dreh des Spielfilms Babi Yar beginnen. Die Hälfte der Dreharbeiten sollte in Charkiw, die andere Hälfte in Lwiw stattfinden.

Alle Einnahmen, die aus dem Streaming über vimeo generiert werden, lässt Salzgeber der Spendenaktion “Queere Nothilfe Ukraine” des Aktionsbündnisses gegen Homophobie e.V. zukommen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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