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Interview | „Sicherheit lässt sich nicht durch Aufrüstung erreichen“


Link [2022-03-18 11:54:06]



Der Arzt Lars Pohlmeier ist Co-Vorsitzender der Friedensorganisation IPPNW und setzt sich für die Abschaffung von Atomwaffen ein. Hier sagt er, was es braucht, um die nukleare Bedrohung im Ukraine-Krieg zu entschärfen

Dr. med. Lars Pohlmeier ist Arzt in Bremen und Co-Vorsitzender der Friedensorganisation Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Er plädiert eindrücklich für eine Deeskalation des Krieges und Abrüstung und sieht in einem anerkannten kollektiven Sicherheitssystem ähnlich der OSZE eine Alternative zu einem NATO-Beitritt der Ukraine.

der Freitag: Herr Pohlmeier, auf der Berliner Friedensdemo am letzten Sonntag haben Sie in Ihrer Rede eindringlich vor einer atomaren Eskalation des Ukrainekrieges gewarnt. Russland hat schon seit Beginn des Krieges seine Atomraketen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Wie hoch schätzt Ihre Organisation die Gefahr eines Atomkriegs ein?

Lars Pohlmeier: Die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen halten wir für extrem hoch. Selbst wenn man annehmen sollte, dass selbst Präsident Putin aus Vernunftsgründen einen Einsatz im Moment nicht in Erwägung zieht, besteht durch die erhöhte Alarmbereitschaft ein sehr großes Risiko. Die Vorwarnzeiten im Falle von Missverständnissen sind so kurz, dass ein Fehler in der Frage des Einsatzes nicht mehr korrigiert werden kann. Damit erhöht sich stark das Risiko eines zufällig ausgelösten Atomschlags mit entsprechender Antwort und katastrophalen Folgen für ganz Europa. Deshalb ist unsere Forderung, dass als Sicherheitsmaßnahme die Atomraketen unbedingt aus der erhöhten Alarmbereitschaft herausgenommen werden müssen.

Auch Weißrussland und Polen haben angeboten, russische Atomraketen bzw. US-amerikanische Atomwaffen bei sich zu stationieren. Droht wieder eine atomare Aufrüstung Europas?

Ja. Ich erinnere mich noch von meinen Reisen zur OSZE, wie stolz Weißrussland war, dass sie die Entscheidung getroffen haben, auf Atomwaffen zu verzichten. Dahin müssen wir zurückkehren. Wenn sich Polen und Weißrussland als Atomwaffenstaaten gegenüber stehen, bringt das keinen Sicherheitsgewinn, das ist eine totale Illusion! Wir müssen alles daran setzen zu deeskalieren mit den bestehenden völkerrechtlichen Vorgaben, nämlich abzurüsten. Sicherheit lässt sich durch Aufrüstung nicht erreichen.

Könnte eine Vereinbarung zwischen Russland und der NATO, auf einen atomaren Erstschlag oder besser ganz auf den Einsatz von Atomwaffen zu verzichten, Zunder aus der Krise nehmen? Dabei stellt sich die Frage, inwieweit wir uns im Moment überhaupt noch in einer Situation befinden, in der es glaubwürdig klingt, was die andere Seite sagt.

Wir sind tatsächlich mitten in einer Glaubwürdigkeitskrise zwischen den Konfliktparteien. Ich glaube der Verzicht auf einen atomaren Erstschlag wäre ein Schritt zu versuchen, wieder in eine Glaubwürdigkeit zurückzukehren. Das müsste man im weiteren Verlauf vertraglich absichern, aber jetzt geht es erst mal um politische Signale, um Platz und Raum zu schaffen für diplomatische Alternativen.

Welche Gefahr geht von den russisch besetzten ukrainischen Atomkraftwerken aus?

Indem die ganzen Sicherheitsstrukturen für den Atombetrieb jetzt unterlaufen werden, steigt die Gefahr von Unfällen, sei es dass die Stromversorgung der Atomkraftwerke selbst unterbrochen wird und es damit zu Kernschmelzen kommt, sei es dass Atomanlagen beschädigt werden und Radioaktivität freigesetzt wird oder es zu einem Super-GAU kommt – mit weitreichenden Folgen für die lokale Bevölkerung und auch für Menschen anderer Länder bis hin zur Bundesrepublik.

Auch bei uns im rheinland-pfälzischen Büchel sind US-amerikanische Atomraketen stationiert. Ein Teil des angekündigten 100 Milliarden Euro-Rüstungspakets der Bundesregierung soll für Kampfflugzeuge des Typs F35 ausgegeben werden, die als Atomwaffenträger dienen können. Was ist der Hintergrund dieser Anschaffung?

Die jetzigen Flugzeuge sind sehr alt, und die USA wollen ihre Atomwaffen durch modernere Atomwaffensysteme ersetzen. Wenn von Deutschland aus Atomwaffen abgeschossen werden sollen, mit deutschen Flugzeugen, dann muss es dort technische Veränderungen geben. Die Frage ist dabei, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, eine solche Entscheidung zu treffen. Wir halten das für völlig falsch. Das wird den Ukrainekrieg nicht beenden, sondern nur Öl ins Feuer gießen. Ohnehin gilt: Deutschland ist ein Nicht-Atomwaffenstaat. Dieser Taschenspielertrick, dass in einem Nicht-Atomwaffenstaat Atomwaffen stationiert sind, ist völlig inakzeptabel. Tatsächlich müssen die US-Atomwaffen, die in Deutschland stationiert sind, nicht modernisiert sondern abgezogen werden.

Warum stehen sie denn überhaupt noch hier?

Das liegt an der Strategie der Nuklearen Teilhabe der NATO: Man trage gemeinsam die Verantwortung für die Abschreckung und stationiert deswegen gemeinsam Atombomben. Das spricht aber gegen den Geist des Atomwaffensperrvertrag von 1970, der Atomwaffenstaaten von Nicht-Atomwaffenstaaten trennt. Deutschland gehört zu letzteren. Zudem besteht nach Artikel 6 die Verpflichtung aller Vertragsteilnehmer, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen.

Was glauben Sie, warum Deutschland ein so riesiges Paket schnürt, ist es der Griff nach Macht?

Mir scheint das jetzt vielleicht doch als eine politische Kurzschlusshandlung. Die Regierung hat dem Druck nachgegeben seitens der Industrie aber auch anderer NATO-Staaten, die Rüstungsausgaben zu erhöhen. Das ist aber das falsche Signal. Sehr bekümmert mich an solchen Ambitionen nicht nur das Verschwenden wirtschaftlicher Ressourcen, die wir an anderer Stelle viel nötiger brauchen, sondern auch die intellektueller Ressourcen. Im Grunde ist es tragisch, wie wir intellektuelles Potenzial geradezu verbrennen für militärische Projekte, statt das Wissen kluger Leute für Projekte im Sinne des globalen Überlebens zu nutzen, etwa gegen den Klimawandel.

Keine der Atommächte hat bislang den 2021 in Kraft getretenen UN-Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet. Darin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten auf Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen zu verzichten. Das bedeutet, auch schon vor dem Ukrainekrieg fehlten die Signale für eine globale atomare Abrüstung.

Der UN-Atomwaffenverbotsvertrag ist eine Initiative von unten, letztlich von der Bürger:innengesellschaft. Er geht auf eine Initiative meiner Organisation zurück, der IPPNW. Ich begleite sie seit ihrer ersten Minute, 2006, persönlich mit. Das Internationale Rote Kreuz hat das mitgetragen und viele andere. Die Internationale Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (ICAN) hat dafür 2017 den Friedensnobelpreis bekommen, weil sich mit der Unterstützung der Zivilgesellschaft gutwillige Staaten dazu verpflichtet haben, ein solches Vertragswerk zu unterzeichnen. Das ist ein riesiger Erfolg. Und das bedeutet zum jetzigen Zeitpunkt bereits, dass es nicht nur einen moralischen Imperativ gibt, Atomwaffen weltweit abzuschaffen, sondern auch einen rechtlichen, weil die Mehrheit der Staatengemeinschaft für diesen Vertrag ist. So erzeugen wir politischen Druck zunächst auf die NATO-Staaten, die sich durch die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Territorium zu den Verbündeten der Atomwaffenstaaten machen und dann auf die Atomwaffenstaaten selbst. Mit dem neuen Vertrag haben wir ein großartiges Instrument in der Hand, mit dem wir sagen können: Warum seid ihr noch nicht dabei, die Mehrheit der Welt will das bereits!

Um den Ukraine-Krieg möglichst schnell zu beenden, braucht es eine gute Diplomatie und damit auch Zugeständnisse von beiden Seiten. Könnte die Zusicherung seitens der NATO, auf eine Osterweiterung zu verzichten und seitens der Ukraine, der Forderung Putins nach Neutralität nachzukommen, wie es gegenwärtig aussieht, dafür ein Weg sein?

Aus unserer Sicht würde ich der Debatte eine andere Richtung geben wollen: Alle Länder – sowohl Russland als auch die Ukraine als auch die angrenzenden NATO-Mitgliedstaaten – haben ein Anrecht auf Leben in Sicherheitsstrukturen. Es muss ein System kollektiver Sicherheit etabliert werden, im Sinne einer OSZE. Das Problem der NATO ist ja, dass sie als Militärbündnis die Interessen der Mitglieder schützt und damit automatisch immer eine Außengrenze erzeugt. Für ein System kollektiver Sicherheit ist die OSZE zwar nicht die perfekte Lösung, aber sie ist dafür vom Charakter besser geeignet als Organisation, in der alle Staaten zu Hause und in einem System vertraglich miteinander verbunden sind, das ihnen Sicherheitsgarantien gibt. Das würde auch für die Ukraine bedeuten, dass sie nicht das Gefühl hat, sie sei allein gelassen und von den bestehenden Strukturen abgehängt.

Aber was heißt das konkret? Die OSZE gibt es ja schon. Aber wenn ein Land wie die Ukraine zum Beispiel von Russland angegriffen wird, wer würde die Ukraine dann schützen?

Wir stehen jetzt natürlich in einem Scherbenhaufen internationaler Vertragsvereinbarungen. Viele sind gekündigt worden, vor allem auch von der USA, in den letzten Jahren. Wir müssen unbedingt verhandeln und Strukturen schaffen, in denen gegenseitige vertrauensbildende Maßnahmen wieder etabliert werden. Jetzt wo Krieg ist, klingt das fast illusionär, aber dennoch ist das der einzige Ausweg aus der Sackgasse, in der wir uns befinden.

Welche Möglichkeiten haben wir, uns solidarisch zu zeigen mit der Ukraine?

Ich bereise seit 1987 vor allem Russland, die Heimat meiner Frau. Der Krieg bedeutet ein emotionales Erdbeben. Mich erschüttert der Hass, der jetzt entsteht, dass ernsthaft von der russischen Staats-Propaganda suggeriert wird, die Verbindung zwischen Russland und dem Westen habe sich nur auf Betrug und Aversion gegründet. Wir sind tief gefallen. Zugleich bin ich überwältigt über die Solidarität und die Anteilnahme ganz vieler Menschen. Wir sehen ja auf lokaler Ebene, wer alles Hilfsgüter sammelt für die Ukraine, das finde ich großartig, und das zeigt, dass es doch ein Gefühl der Solidarität gibt, sich gegenseitig zu helfen. Darüber hinaus denke ich, wir müssen insgesamt als Gesellschaft friedensfähiger werden, das heißt auf ganz vielen Ebenen muss es zivilgesellschaftlich Austausch geben, fairer Handel – sage ich als Bürger der Hansestadt Bremen – Kontakte mit anderen Menschen in anderen Kulturen, das stiftet Frieden. Da sind wir alle gefordert, nicht nur die Politiker:innen. Friedensarbeit beginnt vor dem Krieg, damit kein erster Schuss fällt.

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