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Interview | „Schluss mit dem Geplapper von der russischen Seele“


Link [2022-05-28 11:45:02]



Die Soziologin Polina Aronson erforscht, wie sich in Russland der Hang zur Selbstoptimierung durchgesetzt hat und warum viele jetzt anfällig für die Slogans der Regierung sind

Im postsowjetischen Russland sind neoliberale Vorstellungen von Eigenverantwortung und Selbstoptimierung seit Jahren tief in den Köpfen der Menschen verankert, sagt die Soziologin Polina Aronson. Doch jetzt debattiert die dortige PsychologInnen-Szene: Ist der Krieg ein Trauma für die Einzelnen? Oder hat der Fokus auf das Selbst ausgedient? Unterdessen entwirft der Kreml einen neuen Diskurs der Selbstaufopferung. Polina Aronson erklärt, wie in Russland zurzeit Individualismus und Propaganda aufeinandertreffen.

der Freitag: Frau Aronson, Sie stammen aus Sankt Petersburg und leben in Berlin. Sie arbeiten als Autorin und Soziologin der Emotionen. Womit beschäftigen Sie sich?

Polina Aronson: Ich habe in den letzten Jahren über die Einstellungen von jungen Menschen in Russland zu Liebe, Beziehungen und zum intimen Leben geforscht. Über Vorstellungen von Gut und Böse, dazu welche Sprache für Gefühle benutzt wird. Alles, was sich um die Liebe dreht. Insgesamt geht es darum, wie sich die Vorstellungen zu Liebe und Intimität seit Sowjetzeiten geändert haben.

Sie haben kürzlich in Moskau ein Wörterbuch der modernen russischen Sprache der Gefühle herausgegeben.

Es ist ein Sammelband, die Beiträge kamen von Psychologen, Soziologen, Politologen, Journalisten … Uns ging es um therapeutische Konzepte, die Eingang in die alltägliche Gefühlssprache finden. Vor allem unter Großstädtern werden massenhaft Begriffe aus englischsprachiger Selbsthilfe-Literatur oder aus der Psychotherapie ins Russische übertragen, um im Alltag Gefühle zu beschreiben. Zum Beispiel ist jemand „abusive“ statt grob, toxisch statt schlecht, man spricht von Ressourcen statt Kraft, von Depression statt Traurigkeit. Wir versuchen in diesem Buch zu begreifen, was die Menschen wirklich meinen, wenn sie diese Begriffe verwenden, in welchen Kontexten das stattfindet, wie mit ihnen Status ausgedrückt wird und so weiter. Das wichtigste Ergebnis lautet: Es ist eine entpolitisierende Sprache, sie betont die psychologische Dimension und lässt die sozialen und ethischen Dimensionen des Lebens stark außer Acht.

Sie verfolgen in diesem Zusammenhang Debatten unter Psychologinnen und Psychologen in Russland und wie dort Gefühle seit Beginn des Krieges konzeptionalisiert werden. Was beobachten Sie dort?

Mir ist bei meiner Forschung der populärpsychologische Diskurs wichtig. Sprich das, was massenhaft reproduziert und gelesen wird, bei Instagram gepostet, auf Kühlschrankmagnete geschrieben wird und so weiter. Das ist natürlich ein Unterschied zu dem, was in einem Therapieraum stattfindet. Ich beobachte nun in den sozialen Medien, dass sich seit Anfang des Krieges unter Psychologinnen und Psychologen deutlich zwei Positionen herauskristallisiert haben. Die einen machen weiter das, was im populärpsychologischen Diskurs global geschieht. Sie erzählen dem Subjekt: Du bist das Zentrum des Universums. Hauptsache: du und dein Wohlbefinden. Finde Methoden, dich selbst wieder in Harmonie zu bringen, nicht zu viele Nachrichten lesen, Yoga machen, die Kinder umarmen ...

Und die andere Position?

Leute, die sagen: Moment mal! Die ganze Einstellung „Kümmere dich um dich selbst“ hat uns erst an diesen Punkt gebracht. Kann es sein, dass unser Diskurs und die Werte, die darin produziert wurden im Namen der Psychologie, ein Subjekt geformt haben, das schweigend mitmacht? Dass dieser Krieg, dieser Totalitarismus in Russland auch deshalb möglich war, weil die Leute die ganze Zeit mit sich selbst beschäftigt waren?

Ordnen Sie sich dieser zweiten Position zu?

Ich kann mich nirgendwo zuordnen, weil ich nur Beobachterin bin. Mir ist diese zweite Position aber ehrlich gesagt sympathischer, auch weil sie das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft nüchterner wahrnimmt und versteht: No man is an island. Diese unglaubliche Schande und Trauer, die jetzt ganz viele Russen fühlen: Das sind Gefühle, mit denen man leben muss. Das kann keine Therapie therapieren. Es bringt jetzt nichts, Yoga zu machen und durch den Bauch zu atmen. Als verantwortliche Erwachsene – auch ein Begriff aus der Psychologie – müssen wir das begreifen und aus dieser Position heraus handeln.

Zur Person

Polina Aronson aus Sankt Petersburg lebt seit 2008 in Berlin. Die Soziologin ist unter anderem Redakteurin bei Open Democracy. Auf Russisch erschien unter anderem das Buch Komplexe Gefühle: Sprachsuche der neuen Realität von Abuse bis Toxizität

Warum ist die populäre Psychologie so wichtig in Russland?

Die Pop-Psychologie hat in Russland teilweise den Platz der Ideologie eingenommen. Sie ist zu einem Instrument für den Aufbau post-sowjetischer Subjektivität geworden und hat im gebildeten städtischen Milieu die Regeln für die Selbstentwicklung etabliert.

Was beobachten Sie bei diesen Debatten über das Verhältnis der Einzelnen zur Gesellschaft?

Es gibt bei den Leuten ein Gefühl, nicht über die Sprache zu verfügen, um mit den Machthabenden zu diskutieren. Die russischen Soziologen Nikolai Wachtin und Boris Firsow haben das als Syndrom des öffentlichen Schweigens bezeichnet, also das Ausbleiben von öffentlichem Diskurs in der Sowjetunion und auch im postsowjetischen Russland. Die Menschen haben leider nie gelernt, miteinander zu debattieren und die Macht zu adressieren. In den letzten zehn Jahren gab es immer weniger die Möglichkeit dazu. Dazu kommen die brutale neoliberale Wirtschaft und ein gnadenloser Arbeitsmarkt. Das Einzige, was den Staatsbürgern blieb, war das Selbst. So sind Selbstoptimierung und der Versuch, die eigenen Gefühle irgendwie zu sortieren, dieses ganz klassisch Neoliberale, in Russland sehr stark etabliert.

Welche Antworten liefert die Pop-Psychologie darauf?

Das hat sich in den letzten 20 Jahren dahin entwickelt, dass es inzwischen als quasi pathologisch gilt, etwas von der Welt zu erwarten. Es heißt: Sorge für dich, du musst so viele Ressourcen akkumulieren, bis du ein fast komplett wasserdichtes Leben hast. Wo nur du existierst und vielleicht noch deine Familie.

Und was bedeutet das jetzt, während der Invasion in die Ukraine?

Wir sehen zu einem großen Teil eine Psychologisierung des Bösen, würde ich sagen. Dass das Böse zunehmend in psychologischen Begriffen beschrieben wird. Das passiert viel in russischen sozialen Medien, bei Pop-Psychologen oder bei Public Intellectuals. Da wird davon gesprochen, dass wir ein Trauma erleben.

Wer oder was ist böse in diesem Diskurs?

Das ist das Problem, meist wird gar nicht benannt, wer der Täter ist. So als käme dieses Trauma von irgendeiner natürlichen Katastrophe. Wenn man die Tatsache, dass man in einem kriegführenden Land lebt, als Trauma auffasst, was macht man dann? Man versucht, mit der Quelle des Traumas möglichst wenig Kontakt zu haben. Ich höre aber auch Stimmen, die sagen: Wo ist der Heroismus geblieben? Denn die Kollision mit dem Bösen kann man auch anders erleben. Man kann sich empören, Wut fühlen, kollektive Formen des Widerstands ausprobieren. Aber sich selbst als traumatisiertes Subjekt darzustellen, entzieht einem diese Möglichkeiten, es entpolitisiert.

Ist ein Gespräch über Heroismus überhaupt noch möglich?

Es ist schwierig. Diese ganze sowjetische Heroisierung von den armen Kindern, die ihr Leben für den Staat gegeben haben, hat die Idee der Selbstaufopferung, des Widerstands, der Verteidigung eigener Werte diskreditiert. Dazu wird die Bereitschaft zur Selbstaufopferung als sozusagen echte russische Qualität jetzt wiederum gnadenlos vom Staat ausgenutzt – wir opfern uns selbst für das Große, für die russische Welt. Der Slogan der Regierung in diesem Krieg ist: Wir lassen die Unseren nicht im Stich. Das ist für viele attraktiv, weil das plötzlich ein Surrogat kollektiven Handelns schafft. Da sind die Leute wirklich sehr verwundbar und empfänglich, weil sie das schon lange nicht mehr hatten. Das Gegenstück dazu kann derzeit nur diese liberale, antitotalitäre Einstellung „Ich komme als Erstes“ anbieten. Denn jeder Versuch, mich in kollektive Aktionen einzubeziehen, hat einen sowjetischen Beigeschmack oder kommt von Putin. Ich glaube aber, dass auch bei den Liberalen, die sehr lange in ihrem Individualismus Halt gefunden haben, endlich ankommt: Wir müssen es anders machen, sonst wird sich nichts verändern.

Was Sie aus der russischen Pop-Psychologie beschreiben, klingt sehr neoliberal. Dabei gibt es in Deutschland eine Idee – so zum Beispiel die Politologin Florence Gaub bei „Markus Lanz“ – von einer Art russischer Seele, die eine antiliberale Essenz in sich trägt und die dem Westen gegenübergestellt ist. Was halten Sie davon?

Die russische Seele ist ein Klischee, dem auch die russischen und sowjetischen Intellektuellen nachgespürt haben. Diese Seele ist angeblich unerforschbar und unbegreiflich. Im Gegensatz zur Vorstellung der Psyche, die als verstehbar und beherrschbar gilt. Als die psychologischen Vorstellungen über das Subjekt nach Russland kamen – noch in sowjetischen Zeiten, lange vor der Perestroika –, da hat man das mit Interesse betrachtet, man ist aber meist zu dem Ergebnis gekommen, dass die russische Seele das nicht braucht. Aber nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich das stark verändert. Die meisten gebildeten Menschen in großen russischen Städten haben jetzt eine ganz andere Vorstellung von der eigenen Subjektivität. Sie sind, wie Eva Illouz es nennt, individuelle emotionale Unternehmer. Ich bin das Produkt, ich muss mich verkaufen. Wenn es mir schlecht geht, kann ich mich nicht investieren. Ich muss auf mich aufpassen, ich muss erfolgreich sein. Und hier ist wirklich Schluss mit dem Geplapper von der russischen Seele. Das ist wirklich sehr pragmatisch, sehr kapitalistisch. Die Kapazität zum Leiden ist minimal. Ich lasse nichts und niemanden an mich, was oder der mir irgendwelche Unannehmlichkeiten verursacht. Das traumatisiert mich sofort.

Da sind wir wieder beim Krieg.

Der ist unangenehm, und man sollte sich irgendwie davor verstecken. Ich sage gar nicht, dass das für alle so ist. Aber die Vorstellung, dass man endlos Russen in den Krieg hineinwerfen kann, als Kanonenfutter, weil sie sowieso immer zum Leiden bereit sind, ist viel zu pauschal. Wir wissen zwar aus der Soziologie über die russische Armee, dass diejenigen, die jetzt ihren Wehrdienst in der Ukraine machen, oft arm, teils arbeitslos, aus schwachen Regionen sind oder wegen ihrer nichtrussischen ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werden. Für diese Menschen ist die Armee die einzige Chance auf soziale Mobilität. Und die werden jetzt in diesen Fleischwolf hineingeworfen. Die haben im Gegenteil zu diesem Moskauer Milieu vielleicht keine Vorstellungen von Subjektivität im westlichen Sinne. Das sind Leute, die nie Platz für sich selbst hatten. Aber da pauschal zu sagen, dass alle Russen so sind, das wäre falsch.

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