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Interview | Politologin in Moskau: „Das Regime bedroht sich selbst“


Link [2022-04-11 09:33:21]



Aus Sicht der Politologin Tatjana Stanowaja ist Wladimir Putins Stellung in Gefahr. Eine unmittelbare Revolte drohe aber nicht

Motive für Russlands Krieg gegen die Ukraine zu verstehen, heißt nicht, Verständnis dafür zu haben, so die Maxime von Tatjana Stanowaja, populäre Gastexpertin der Carnegie-Stiftung in Moskau.

Sie beobachtet Wladimir Putin wie dessen Umfeld seit Jahren und sah die Kriegsentscheidung im Kreml heranreifen. Einen möglichen Sturz des Präsidenten hält sie nur dann für wahrscheinlich, sollte dieser radikale Entscheidungen wie den Einsatz von Kernwaffen treffen wollen.

der Freitag: Frau Stanowaja, was gab für Präsident Putin letztlich den Ausschlag, einen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen?

Tatjana Stanowaja: Ich sehe zwei Hauptfaktoren. Zunächst, in den ersten Monaten nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj im Mai 2019, richteten sich die Hoffnungen des Kremls auf einen Durchbruch im Donbass-Konflikt, weil Selenskyj im Wahlkampf eine friedliche Lösung befürwortet hatte. Doch nach dem Gefangenenaustausch folgte dann ab September 2019 eine Phase tiefer Enttäuschung. Der Normandie-Gipfel vom Dezember 2019 war aus meiner Sicht der letzte Sargnagel für eine Friedensregelung, sofern man der Logik des Kremls folgt. Ich glaube, schon damals entwickelte Putin seine Idee von der Ukraine als einem „Anti-Russland“, wie er sie später in einem Artikel beschreiben sollte. Seine Überzeugung war: Egal, welche Führung dort gewählt wird, sie wird eine antirussische sein. Für ihn war und ist die Ukraine zudem kein eigenständiges geopolitisches Subjekt.

Sondern?

Sagen wir es so: eine Kriegsbasis des Westens, um Mechanismen zur Zerstörung Russlands aufzubauen. Der zweite Faktor war für Putin die Annäherung der Ukraine an die NATO, inklusive der Besuche von NATO-Beratern im Land und der Waffenlieferungen. Hier dachte sich Putin offenbar, selbst wenn die Minsker Vereinbarungen durch glückliche Umstände umgesetzt werden sollten, würde das die Ukraine nicht davon abhalten, in die Hände der NATO zu gleiten. Es war für ihn nur eine Frage der Zeit, bis dort amerikanische Stützpunkte auftauchen würden. Ich denke also, dass im Laufe des Jahres 2020 die Idee eines Krieges entstanden ist. Als man ab April 2021 begann, Truppen nahe der Ukraine zusammenzuziehen, war dieses radikale Szenario real. Allerdings: Putin machte zunächst einen Versuch, sich mit US-Präsident Biden doch noch zu verständigen. Es brachte nichts, und um keine Zeit zu verlieren, stellte die russische Führung im November 2021 dann Ultimaten. Hier war es für Putin psychologisch gesehen sehr wichtig, die negative Antwort des Westens schriftlich zu bekommen, um – wie er es sah – ein Recht auf sein radikales Szenario zu haben.

Zur Person

Foto: privat

Tatjana Stanowaja, 43, arbeitet als Politologin für das Carnegie-Zentrum in Moskau und für die französisch-russische Handelskammer. Ihr Studium an der Fakultät für Staats- und Kommunalverwaltung der Lomonossow-Universität beendete sie im Jahr 2005

Gibt es Indizien dafür, dass Putin die Idee eines Krieges schon seit 2014 hatte?

Hier muss man zwischen politischem Aktivismus und Analyse unterscheiden. Wenn argumentiert wird, dass Putin halb Europa erobern will, liegt das im Grunde an einer gegen Putin gerichteten Einstellung. Ich betone immer, dass ich nicht für Putin und nicht gegen Putin bin, sondern nur seine Logik analysiere. Meiner Meinung nach entstand 2020 die Idee, die Ukraine einzunehmen.

Es gibt die Auffassung, zur Kriegsentscheidung sei es auch deshalb gekommen, weil Putin nur das berichtet werde, was er sich selbst wünscht. Was halten Sie davon? Wie es heißt, ging er gegen eine Abteilung des Inlandsgeheimdienstes FSB vor, die ihn vor dem Krieg über die politische Lage in der Ukraine informiert haben soll.

Sie meinen den Fünften Dienst des FSB. Wir wissen trotz vieler Quellen nicht, was mit dieser Abteilung tatsächlich passiert ist. Es könnte sein, dass alles eher auf eine Angelegenheit aus dem Jahr 2014 zurückgeht. Im Übrigen sind alle in Putins Umgebung Vollzugsbeamte. Der Krieg gegen die Ukraine ist allein seine Entscheidung. Und alle Analysen, die er bekam, spiegelten wohl wider, was er hören wollte. Deswegen kann Putin auch nichts enttäuschen, weil er sich jetzt in seiner Meinung bestätigt sieht, dass die Menschen in der Ukraine ihre nationalen Interessen nicht einschätzen können. Dass es einen großen Widerstand gegen die Invasion gibt, liegt nach seiner Logik nicht daran, dass der FSB falsche Analysen erstellt hat, sondern daran, dass externe Kräfte zu erfolgreich darin sind, dem ukrainischen Volk ihre Visionen zu diktieren. Der Inlandsgeheimdienst ist übrigens eine der Säulen von Putins Regime. Sich gegen den FSB richtende Säuberungen oder Verhaftungen würden das Fundament seiner Macht erschüttern.

In Deutschland wird unter Verweis auf ukrainische Geheimdienste darüber spekuliert, dass FSB-Chef Alexander Bortnikow die Idee eines Sturzes von Putin erwägen könnte. Wie sehen Sie das?

Bortnikow unterscheidet sich in der Ukraine-Frage kaum von Putin. Auch Sergei Naryschkin, der Chef der Auslandsaufklärung, Nikolai Patruschew, der Sekretär des Sicherheitsrats, und Verteidigungsminister Sergei Schoigu teilen Putins Weltbild. Ich sehe auch nicht, dass etwa Naryschkin in der Sitzung des Sicherheitsrates am 21. Februar, als es um die Anerkennung der beiden Donbass-Republiken ging, wirklich dagegen war. Naryschkin schien eher verwirrt. Er wusste nicht, wie er Putin zufriedenstellen konnte.

Dennoch wird zuweilen über Szenarien eines Putin-Sturzes geredet …

Ich weiß, konkret sind es zwei Szenarien, bei denen ein Putsch möglich wäre. Variante eins: Putin tickt völlig aus und will auf den Atomknopf drücken. Seine Warnung an die NATO ist ernst gemeint, er blufft nicht. Sein Gefolge, darüber erschrocken, dass damit das Ende naht, würde etwas für die eigene Rettung tun. Aber sie sind noch nicht so weit. Im zweiten Szenario wäre ein Putsch dann möglich, wenn Putin plötzlich die Truppen abziehen, die Krim an die Ukraine zurückgeben und dem Donbass die Unabhängigkeit aberkennen würde. Dann würden die Silowiki aus den Geheimdiensten etwas dagegen unternehmen. Aber auch eine solche Entwicklung ist eher unwahrscheinlich.

Gibt es eine Spaltung der Business-Elite? Anatoli Tschubais, Chef der Gesellschaft Rosnano zur Förderung der Nanotechnologie, ist zurückgetreten und ausgereist.

Ich würde mit Blick auf die Business-Elite nicht von Spaltung reden, sondern von ideologischer Entkopplung. Ein Großteil lehnt den Krieg angesichts der katastrophalen Folgen zwar als Fehler ab, aber man schweigt und passt sich der neuen Realität an, um zu überleben. Diese Elite ist nicht bereit zu handeln, sie ist passiv.

Sie schrieben zu Putins emotionaler Rede über „Verräter“, dass es trotz der sich andeutenden Repressionen der Anfang vom Ende sei und alles gut werde, wenn auch nicht bald. Was meinten Sie damit?

Ich habe ein bisschen Optimismus aufgrund der Tatsache, dass jetzt ein Verständnis dafür entsteht, was Putins Regime ohne echten ideologischen Beistand der Eliten darstellt. Hier kommt der Countdown für die Existenz des Regimes. Auch die gesellschaftliche Unterstützung wird sich ändern. Die größte Gefahr für die Stabilität des Regimes geht von ihm selbst aus. Kurzum: Das Regime bedroht sich selbst, wenn Fehler gemacht werden, wie bei der Rentenreform 2018. Diese ging ohne Dialog vonstatten. Unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl fühlten sich die Menschen betrogen. Die Unfähigkeit zum Dialog spiegelt das Unvermögen, soziale Sorgen ernst zu nehmen und in Protesten mehr als externe Faktoren zu sehen. Dies wird dem Regime einen grausamen Streich spielen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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