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Interview | „Niemand meldet Gewalt in der Pflege“


Link [2022-05-21 23:12:43]



Die Whistleblowerin Andrea Würtz hat Körperverletzungen im Seniorenheim Schliersee aufgedeckt. Nun fragt sie: Warum haben Pflegekräfte, Angehörige oder Ärzte nicht Alarm geschlagen? Über eine brutale Kultur des Schweigens

Im September 2021 wurde ein Pflegeheim in Schliersee geschlossen – 17 Bewohner starben, in 88 Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung. Doch Schliersee ist kein Einzelfall. Allein in Bayern gibt es 173 amtlich dokumentierte Heime, die „negativ“ aufgefallen sind. Wieso kommen diese Fälle kaum an die Öffentlichkeit? Die Gesundheitsarbeiterin Andrea Würtz kritisiert ihren eigenen Berufsstand: Pfleger:innen müssten ihre ethischen Prinzipien wieder ernst nehmen – und verteidigen.

der Freitag: Frau Würtz, was fanden Sie vor, als Sie die Residenz Schliersee 2020 betraten?

Andrea Würtz: Es ist kaum in Worte zu fassen. Die leeren und verzweifelten Augen in den Gesichtern von Menschen, die ein erfahrungsreiches Leben hinter sich haben, werde ich in meinem Leben nie mehr los. Das gilt für uns alle – für meine Kolleg:innen des Medizinischen Dienstes, die mit mir Reihentestungen in der Seniorenresidenz Schliersee durchführten, und auch für die Bundeswehr, die mit über 50 Mann angerückt war und angesichts dieser Bilder an ihre Grenzen kam.

Sie kamen in das Heim eigentlich wegen eines Corona-Ausbruchs.

Genau, wegen einiger Corona-Infektionen veranlasste das Gesundheitsamt Reihentestungen. Im Vergleich zu den turnusmäßigen Überprüfungen der Heimaufsicht hatten wir so den Vorteil, hinter jede Tür schauen und jeden Bewohner sehen zu können – in regelmäßigen Abständen. So schlimm der Corona-Ausbruch auch war, war er für viele eine Chance: Ihre Situation wurde öffentlich.

Es sind 17 Bewohner gestorben, in 88 Fällen von mutmaßlicher Körperverletzung ermittelt die Staatsanwaltschaft.

In der Seniorenresidenz Schliersee haben Menschenrechtsverletzungen stattgefunden. Ich habe sie selbst gesehen. Die Grundbedürfnisse vieler Bewohner waren nicht einmal minimalst erfüllt. Es gab Gewalt in der Pflege.

Warum haben die Mitarbeiter der Seniorenresidenz die Missstände nicht selbst gemeldet?

Ob Mitarbeiter:innen im Krankenhaus, Notfallsanitäter, Ärzte – alle wussten von den Missständen und haben es mit ihrem Schweigen mitgetragen. Die Gründe für diese „Allianz des Schweigens“, wie es der Pflege-Experte Claus Fussek nennt, wollen sich mir auch zwei Jahre danach nicht erschließen.

Und die Angehörigen?

Wenn ich Menschen in der Umgebung am Schliersee danach fragte, winkten viele ab: „Ach ja, meine Tante ist da schon vor 15 Jahren verdurstet!“, oder: „Wenn du deinen Opa schneller loswerden willst, geht das am besten in Schliersee“. Aber auch die Aussage der Heimaufsicht hat mich zutiefst erschreckt: „Wenn du mal ein paar Jahre hier bist, dann hast du auch gelernt, dass du an so mancher Misere nichts ändern kannst.“

Konnten Sie mit den Pflegekräften sprechen?

Was ich erlebt habe, ist eine Atmosphäre der Angst: „Ich darf nichts sagen, weil der Heimleiter bei den Begehungen immer dabei ist.“ Andererseits habe ich Pflegekräfte gesehen, die sich noch dafür feiern lassen, dass sie die Kontrolle der durch Pflegefehler entstandenen Wunden bei einer Bewohnerin in der Zeit einer Kontrolle „umgehen“ konnten, indem sie diese kurzfristig ins Krankenhaus einweisen ließen. In solchen Momenten schäme ich mich für unseren Berufsstand. Und das gilt eben nicht nur für Schliersee.

Sie haben ja selbst in der Pflege gearbeitet. Was haben Sie da erlebt?

Eine Kollegin meinte: „Schreib nur deine Überlastungsanzeige. Du wirst schon sehen, was du davon hast.“ Manche Kollegen gingen untereinander in Konkurrenz: „Na, wenn das deine Kollegin gestern mit 52 Bewohnern geschafft hat, dann kannst du das wohl auch“ – für mich sind das alles Formen der Resignation.

Zur Person

Foto: privat

Andrea Würtz, Jahrgang 1977, ist gelernte Kinderpflegefachfrau und arbeitete unter anderem in der Intensiv- und Tagespflege, bis sie zum Gesundheitsamt Miesbach wechselte. Im Mai 2020 führte sie im Seniorenheim Schliersee Corona-Testungen durch und machte die Missstände dort öffentlich. Im Juni 2020 kündigte sie ihre Arbeit im Gesundheitsamt

Sie denken, viele Pflegekräfte haben einfach aufgegeben?

Ja, das merkt man an Aussagen wie: „Ich arbeite jetzt nur noch Teilzeit, da muss ich dann das Elend nicht so oft sehen.“ Gleichzeitig aber frisieren Pflegekräfte vor den Prüfungen des Medizinischen Dienstes die Akten, machen die Dokumentation „sauber“, wenn ein Besuch der Heimaufsicht ansteht. Ich habe Auszubildende erlebt, die grobe Pflegefehler der Pflegefachkraft feststellten, mit der sie im Dienst gearbeitet haben, aber nicht wussten, an wen sie sich wenden sollten.

Die Residenz in Schliersee wurde eineinhalb Jahre nach Ihrer Meldung geschlossen.

Das dauerte. Die Missstände wurden erfasst, das Landratsamt erstattete Anzeige und aktivierte aus dem Pflegepool Bayern Pflegekräfte, die aber auch den Bedarf keinesfalls decken konnten. Die Bundeswehr rückte an, um zu helfen. Bei den entscheidenden Begehungen in Schliersee ging es dann darum, ob „noch immer“ Gefahr für Leib und Leben bestehe oder eben „ein Bemühen des Trägers zur Verbesserung“ schon erkennbar sei.

Waren die Begehungen unangekündigt?

Nein, eine größere Begehung nach Abzug der Bundeswehr war gegenüber dem Heim angekündigt. Der Träger wusste also Bescheid und hatte vorab die Zeit, die er brauchte. Die zum Abschied von der Bundeswehr dagelassenen Blumen in den Zimmern der Bewohner wurden bei der Begehung als „wirklich schön“ vermerkt, und ich weiß noch, wie mir das durch Mark und Bein ging. Zuvor hatte es noch nicht einmal adäquate Rollstühle für einige Bewohner gegeben. Eine frühe Evakuierung wäre notwendig gewesen.

Es waren nicht alle dieser Auffassung?

Nein, andere waren nicht dieser Meinung und sagten, die bisherige Lage „reiche noch nicht für eine Heimschließung“ und „es seien Bemühungen seitens des Trägers erkennbar“. Im Bayerischen Landtag wurde festgehalten, dass es 41 Kontrollen in Schliersee im Zeitraum von 60 Monaten gab – alle mit Mängeln. Und im Ergebnis teilt man mit, das Landratsamt habe richtig gehandelt und eben fleißig weiterkontrolliert.

Es kam dann zu einer Katastrophe: Eine Bewohnerin starb durch einen „tragischen Gewaltakt“, wie es in der Todesanzeige hieß. Was war da passiert?

Eine Bewohnerin der Seniorenresidenz in Schliersee wurde Anfang August 2020 von einem anderen dementen Bewohner vergewaltigt und so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag. Das hätte sicherlich verhindert werden können, hätte man frühzeitig gehandelt. Auch nach diesem „bedauerlichen Einzelfall“, wie man das nannte, wurde das Heim zunächst nicht geschlossen. Aber es war kein Einzelfall, und auch Schliersee ist kein Einzelfall: Allein in Bayern haben wir 173 amtlich dokumentierte Heime, die „negativ“ aufgefallen sind.

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek hat einen Fünf-Punkte-Plan auf den Weg gebracht. Dazu gehört die Einrichtung einer sogenannte „Pflege-SOS-Anlaufstelle“ in Bayern zur anonymen Meldung von Pflegemissständen.

Es braucht eine übergeordnete Stelle für Whistleblower auf Bundesebene. Und es nützt auch nichts, wenn diese Aufgabe Verwaltungskräfte übernehmen. Geeignet wäre eine solche Stelle nur dann, wenn dort Pflegefachkräfte, Anwälte für Arbeitsrecht, Menschenrechtler und Psychologen die Ansprechpartner wären. Diese Stelle sollte Sofortmaßnahmen ergreifen können. So aber werden die Missstände wohl eher verwaltet anstatt gelöst.

Der italienische Betreiber Sereni Orizzonti, dem auch das Heim in Schliersee gehört, ist in Italien bereits wegen Missständen aufgefallen. Wie kann es sein, dass dieser Betreiber nicht genauer in Augenschein genommen wird – bundesweit?

Es fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Der Föderalismus schafft viele Spielräume für die Konzerne, und natürlich spielt auch die Unterbesetzung der Ämter eine Rolle. Hätte die Heimaufsicht übergeordnete Funktionen und würde in wechselnden Teams agieren, könnte man „Betriebsblindheit“ umgehen. Es wäre außerdem wichtig, dass die Kontrollmechanismen von Gewerbeaufsicht, Heimaufsicht und Medizinischem Dienst mit Handlungskompetenzen ausgestattet werden. Und wir brauchen eine stärkere digitale Vernetzung zwischen den Heimaufsichten benachbarter Landkreise und zwischen den Bundesländern.

Es muss also auf Bundesebene gehandelt werden?

Richtig. Wichtig aber ist mir auch zu betonen, dass nicht die Politik allein dieses Systemversagen verursacht hat. Wie kann es sein, dass das Pflegepersonal diese Missstände überhaupt so lange mitgetragen hat?

Wurden Sie von Kolleg:innen in Ihrer Aufklärungsarbeit unterstützt?

Ich persönlich habe in den letzten Jahren leider keine Unterstützung vorgefunden. Es kann nicht sein – und so habe ich es leider erfahren –, dass Whistleblower mehr oder weniger von den Berufsverbänden „übersehen“ werden.

Welche Lehren haben Sie für sich selbst aus „Schliersee“ gezogen?

Ich kann mich dieser „Allianz des Schweigens und Mitmachens“ nicht anschließen. Ich kann erst dann wieder in der Pflege arbeiten, wenn sich etwas grundlegend verändert hat. Natürlich haben wir Frust! Schlimmer aber ist der Schaden, den die Bewohner und Patienten dadurch erleiden, dass wir Pflegekräfte nicht geschlossen gegen Missstände aufstehen. Es braucht einen Kulturwandel. Wir Pflegekräfte müssen uns erinnern an die vier ethischen Grundprinzipien in unserem Ehrencodex: Respekt vor der Autonomie des Patienten, Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit.

Wieso sind diese Prinzipien offenbar so in Vergessenheit geraten?

Natürlich spielen Arbeitsbedingungen hier eine Rolle, aber das ist auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Frage „Wohin mit unseren Alten?“ wird leider allzu oft beantwortet mit „Besser ein schlechtes Heim als gar kein Heim“.

Ist das der Grund, warum wir gewinnorientierte Konzerne walten lassen?

Sie bieten nur scheinbar eine Lösung für die höchst unangenehme Frage, welche „Wertigkeit“ die älteren Menschen in unserer Gesellschaft haben – Menschen, die unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben. Warum mussten sie ihre Würde und ihre Menschenrechte abgeben – und dafür auch noch Geld bezahlen? Wo waren die Menschenrechtsorganisationen, wo die Mahnwachen? Und wo bleibt der Aufschrei der Pflegekräfte: „Stopp! So geht es nicht weiter!“?

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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