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Interview | Muamar al-Gaddafi als Schriftsteller


Link [2022-06-11 14:42:41]



Was kaum einer weiß: Der libysche Dikator war mal ein Existenzialist. Der Journalist Charlie Nash ist dem nachgegangen

Am 7. Juni wäre Muammar al-Gaddafi 80 Jahre geworden. Libyens Herrscher entwickelte sich bis zu seinem Tod 2011 vom Freiheitskämpfer, Exzentriker und Vordenker eines palästinenisch-israelischen Staates „Isratin“ zu einem Despoten. Aber er hatte auch eine lange und wenig bekannte Geschichte als Autor, der sich mit dem Existenzialismus auseinandersetzte. Nehmen wir Gaddafis Erzählung Die Flucht in die Hölle, 1993 erschienen. Der Erzähler schreibt da, dass er die Volksmassen „liebe und fürchte“ wie seinen Vater. Er zieht Vergleiche zu Danton und Robespierre und beschließt, „in die Hölle zu fliehen“.

der Freitag: Herr Nash, Gaddafis „Flucht in die Hölle“ erinnert an Jean-Paul Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“, wo es heißt: „Die Hölle, das sind die anderen“.

Charlie Nash: Ja, in vielerlei Hinsicht ist es ähnlich wie bei Sartre, jedoch sah Gaddafi nicht die anderen Menschen als die Hölle. Obwohl er oft allein Ausflüge in die Wüste machte oder sich in einem Zimmer einschloss, lebte er auch von der Unterstützung des Volkes. Gaddafis Vorstellung vom Himmel waren andere Menschen! Aber er kannte den schmalen Grat, den ein Führer geht zwischen Feier und Verdammung.

Wie wurden ein Jean-Paul Sartre, eine Simone de Beauvoir in der arabischen Welt wahrgenommen?

Die bekannten Existenzialisten waren weitläufig ins Arabische übersetzt, wurden also sicher gelesen. Ihre Rezeption war ähnlich wie im Westen: gemischt. Sartre war eine Zeit lang aber populär, ebenso der britische Existenzialist Colin Wilson. Wilson wurde in einigen Ländern der Region der rote Teppich ausgelegt, so wurde er eingeladen zu einer Vortragsreise in den Iran vor der Revolution – was er abschlug. Wilsons Geschichte der Außenseiter – The Outsider (1956) – war, laut mehrerer Quellen, Gaddafis Lieblingsbuch.

Zur Person

Foto: Privat

Charlie Nash schreibt hauptsächlich über US- und britische Politik für den Spectator und den American Conservative . Er hat ein Faible für Abseitiges. Sein Buch Gaddafi, Existentialist ist 2021 im Selbstverlag erschienen und kann über die einschlägigen Online-Markthändler gekauft werden. Mehr über ihn auf charliewnash.net.

Gab es in Libyen eigentlich existenzialistische Zirkel?

Ich bin mir nicht sicher, ob es das gab, jedoch war mindestens ein existenzialistischer Intellektueller an der Entwicklung von Gaddafis berühmtem Grünen Buch beteiligt, in dem er seine politischen Ziele festlegte und das eine Art Verfassung Libyens wurde. Dieser Intellektuelle war bei der Revolutionsgarde, die seine Lebensanschauung ablehnte, nicht gerade beliebt. Zudem soll es in den 1970er-Jahren einen Heidegger-Zirkel geben haben. Der österreichische Philosoph Hans Köchler berichtet, dass sein Buch über Heidegger zu jener Zeit ins Arabische übersetzt wurde und unter arabischen Intellektuellen populär war.

Was war mit Gaddafi in Paris?

Als er Paris besuchte, um seine neue Ideologie vorzustellen, waren sicher Existenzialisten zugegen. Gaddafi trug einen schwarzen Rollkragenpullover und Blazer, sah also ganz wie ein Pariser Existenzialist aus, und das war sicher kein Zufall. Man kann allein durch seine Mode viel über Gaddafi lernen. Was er trug, war akribisch ausgewählt. Seine Outfits waren Statements, er verwendete Kleidung, um Dinge ohne Worte zu sagen.

Andererseits schildern Sie einen Vorfall, der zweifeln lässt, ob sich Gaddafi selbst wirklich als Existenzialist sah ...

Der prominenteste Existenzialist der arabischen Welt, der ägyptische Philosoph Abdel Rahman Badawi, wurde während seines Exils und seiner Unterrichtstätigkeit an der Universität in Libyen von Gaddafi kurzzeitig eingesperrt und seine persönliche Bibliothek verbrannt. Das würde in der Tat dagegen sprechen, dass Gaddafi Existenzialist war, aber die Dinge sind nicht so schwarz-weiß.

In seiner Rede über den Existenzialismus, die er 1973 in Tripolis hielt, lehnt Gaddafi den Existenzialismus als „eine Manifestation der Angst“ ab. „Diese Theorie sucht nach dem Geheimnis der Existenz, während wir dieses Geheimnis verstehen und zwar durch die Religion“, schreibt er. Gaddafi war in eben jenen konservativen Werten verankert – Familie, Tradition, Nation, Religion – die Sartre und de Beauvoir ablehnten. Aber dennoch sind da seine Kurzgeschichten. Woher also kam sein existenzialistisches Gefühl der Entfremdung oder Leere, das in diesen Geschichten zum Ausdruck kommt?

Gaddafis Gefühl der Entfremdung speiste sich aus vielen Quellen. Da war sein Wechsel vom bescheidenen Leben eines Beduinen zum geschäftigen Führer einer Nation, da waren seine persönlichen Interpretationen des Islam (die im Widerspruch zu denen anderer Intellektueller des Landes standen), und da war seine doppelte Loyalität – zur arabischen und afrikanischen Welt (die oft viele Differenzen hatten). Und auf der Weltbühne wurde er zu einem Außenseiter durch seine Ideologie, die zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten stand und deswegen mit beiden nicht wirklich gut zurecht kam.

Wie religiös war er eigentlich?

Religion war sein Anker, aber er war in vielen Dingen aufgeschlossen, wie seine Geschichten zeigen. Das ist auch der tiefere Grund für Gaddafis Opposition zum atheistischen Existenzialismus der Franzosen. Die Szene der Pariser Existenzialisten war von Natur aus beides, atheistisch und hedonistisch – und damit völlig entgegengesetzt zu Gaddafis eigener Ideologie. Aber wäre sie das weniger deutlich gewesen, hätte Gadaffi vermutlich eine andere Meinung gehabt.

Sein Existenzialismus entfaltet sich, wie gesagt, in seinen Erzählungen. 1993 erschien in Libyen die Sammlung „Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten“ (2004 auf Deutsch bei belleville). „Die Stadt“ erinnert an die Metropolenverachtung des österreichischen Dichters und Zeichners Alfred Kubin und dessen in ewigem Dämmer liegenden Albtraummoloch „Perle“. Reflektiert diese Verachtung der Großstadt Gaddafis Erfahrung mit London?

Ja, ich denke, viel von Die Stadt kommt aus Gaddafis Erfahrung mit London. London ist eine furchteinflößende, unbarmherzige Stadt für viele Briten, erst recht für einen Beduinen aus der Wüste. Es war sicher anders als alles, was er vorher gesehen hatte, und er erlebte wohl das genaue Gegenteil der beduinischen und muslimischen Werte seiner Erziehung. Aber ich glaube nicht, dass Die Stadt vollkommen auf London basiert. Gaddafi hatte in seinem Leben Erfahrung mit anderen Städten und sie hatten sicher viel gemeinsam. Für mich beweist diese Erzählung Gaddafis optimistischen Existenzialismus, weil er sich nicht nur in nihilistischem Grauen wälzt. Er bietet ein Gegenmittel gegen die Schrecken der Stadt in Form des Dorfes und des Landes. Er schreibt über die Stadt, wie es andere Existenzialisten täten, aber er findet ein positives Ende. Er nimmt den Leser mit auf eine Fahrt durch die Hölle, aber sie endet im Himmel.

Und da ist die Erzählung mit dem rätselhaften Titel „Der Selbstmord des Astronauten“. Sie könnte von der Erfahrung des russischen Kosmonauten Sergei Krikaljow inspiriert sein, der 1991 allein im Weltraum gestrandet war und Monate später in einer völlig fremden Realität landete, weil die Sowjetunion sich aufgelöst hatte und sein Land nicht mehr existierte. Was meinen Sie?

Der Selbstmord des Astronauten ist zweifellos Gaddafis existenzialistischster Text, weil er sich um eine existenzielle Krise dreht. Ein Astronaut kehrt zur Erde zurück und erkennt, dass er nicht mehr weiß , wie man dort lebt. Im Wechsel von der Weite des Weltraums und der Galaxie zum bescheidenen Leben eines Mannes auf Erden implodiert seine Identität. Die existenzielle Krise des Astronauten endet mit seinem Selbstmord, aber sein Selbstmord ist bloß eine Fußnote. Die Geschichte leuchtet mit existenzialistischen Themen.

Und „Die Erde, die Erde“ zeigt Gaddafi last but not least als Umweltaktivisten. Er beschwört uns, Mutter Erde zu schützen: „Die Erde ist in der Tat eure Mutter. Sie hat euch aus ihren Eingeweiden geboren. Sie ist es, die euch aufzieht, speist und tränkt … zerfetzt nicht ihr Fleisch, verwundet nicht ihren Körper! … denn wenn ihr sie vernachlässigt, werdet ihr nach ihr keine Mutter mehr finden.“ Woher nahm er die Inspiration für seine Geschichten: Koran, beduinische Fabeln, Wissenschaft?

Wahrscheinlich ist es dieselbe Inspiration, die in Die Stadt wirkt. Gaddafis Utopie ist ein ländliches Leben, ein autarkes Dorf, wo die Menschen sich nur nehmen, was sie brauchen, wo man in Harmonie mit seiner Umgebung lebt und Nachbarn füreinander da sind. Gaddafis Dystopie ist ein urbaner Dschungel, wo Habgier, Ausbeutung und Verderben herrschen.

Man kennt das auch von der „konservativen Revolution“ in Europa. Von Heidegger. Womit sich ein Kreis schließt.

Ja. Das stimmt.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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