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Interview | „Lukaschenka darf nicht siegen“


Link [2022-03-05 19:18:59]



Viele queer-feministische Aktivist:innen sind geflohen, aber Tony Lashden will so lange wie möglich in Belarus bleiben. Was hält sie dort?

Tony Lashden lebt dort, wo gerade kaum jemand leben will: in Minsk. Während die Proteste für ein demokratisches Belarus, welche nach einer gefälschten Präsidentschaftswahl im August 2020 begannen und auf die Machthaber Aljaksandr Lukaschenka mit Inhaftierungen und Folter reagierte, langsam aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden, erzählt Lashden auf ihren Social-Media-Kanälen vom Leben als queere Aktivist:in in dem Land. Dem Freitag hat sie verraten, was sie dort hält.

der Freitag: Tony Lashden, Belarus war nie für seine LGBTQ-Freundlichkeit bekannt. Wie sieht es heute aus, da sich das Lukaschenka-Regime inzwischen stabilisiert hat?

Tony Lashden: Die Situation hat sich schon verändert. Tatsächlich erinnere ich mich, wie wir im Herbst 2018 noch Partys im Stadtzentrum von Minsk organisieren konnten. Mittlerweile wäre das zu gefährlich. Seit der Flüchtlingskrise an der Grenze zu Polen gibt es auch in Minsk eine größere Polizeipräsenz und mehr Kontrolle. 2018 gab es noch Initiativen, die Informationen über aktive Diskriminierung von queeren Personen sammelten. Auch die gibt es nicht mehr. Wir sind weniger sichtbar, öffentliche Orte sind unsicher geworden. Der Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung hat sich verschlechtert. Viele von uns haben das Land verlassen.

Sie bleiben trotzdem in Minsk?

Ja.

Was hält Sie dort?

Ich glaube, das ist kein rationales Gefühl. Aber Belarus ist eben mein Heimatland. Ich unterstütze die queere Community und organisiere das soziale Leben. Das kann man schwer aus dem Exil machen. Für mich verhält sich das wie in einer Situation häuslicher Gewalt: Wenn ich gehe, spare ich mir viel Energie und mentale Integrität. Aber dann wird mein Haus vom Aggressor besetzt. Gestern Morgen war die erste Nachricht, die ich zu Gesicht bekam, dass es eine neue Welle von Einbrüchen in Wohnungen von Journalist:innen und Aktivist:innen gab. Mein Tag war sofort ruiniert – obwohl es mich nicht einmal persönlich betraf. Ich gehe erst, wenn ich es gar nicht mehr aushalte. Dieser Punkt ist aber noch nicht erreicht.

Umfragen des Zentrums für Osteuropastudien sagen: Triebfeder der belarussischen Proteste waren die Frauen. Wie kam das?

Der belarussische Staat deklariert sich selbst zum Vorreiter in Sachen Geschlechtergleichheit. Das ist Fake! Die Statistiken besagen zwar, dass Frauen 50 bis 60 Prozent der Arbeitskräfte stellen und im Parlament repräsentiert sind. Aber das bedeutet nicht, dass sie Einfluss auf Entscheidungen haben. Frauen arbeiten kaum in leitenden Positionen. Und wenn, dann haben sie nur repräsentative Funktionen. Sie haben keine Macht, die Realität um sich herum zu verändern. Obwohl sie im Durchschnitt besser ausgebildet sind als Männer: Frauen besuchen in Belarus häufiger die Universitäten und haben mehr berufliche Qualifikationen.

Dass osteuropäische Frauen eine Revolution anführen könnten, war weltweit eine Sensation. Sie hat das nicht überrascht?

Darin liegt eine solche Ironie! Lukaschenka behandelte Frauen lange als infantile, unfähige Individuen, die niemals in der Lage wären, politische Prozesse anzustoßen. Sie wurden nicht mal ansatzweise als Gefahr betrachtet. Im Sommer 2020 zu den Protesten zu gehen, war deshalb für sie ungleich sicherer als für Männer. Weil ihnen mit einer gönnerhaften Einstellung begegnet wurde. Sobald es aber als bewiesen galt, dass auch sie sich organisieren und Macht gewinnen können, war dieselbe gewaltsame Antwort des Staates zu sehen wie zuvor gegenüber Männern.

Zur Person

Tony Lashden, 27, ist queer-feministische Aktivist:in und organisiert in Minsk psychologische Hilfe für die LGBTQ-Community. Lashdens Kurzgeschichtenband Der letzte Bus fährt um acht Uhr erschien kürzlich in einem belarussischen Verlag

Wurden Frauen in Belarus denn zuvor anders bestraft?

Ja. Aktuell sind über 100 Frauen aus politischen Gründen inhaftiert. Früher zog der Staat so etwas für sie nicht in Betracht. Sie wurden mit anderen Mitteln für ihren Aktivismus bestraft. Zum Beispiel, indem sie ein Dokument unterzeichneten, mit dem sie für eine bestimmte Zeit unter Hausarrest gestellt werden konnten. Oder indem sie zehn Jahre lang eine hohe Geldstrafe abbezahlen mussten. Die Politikerin Maria Kalesnikawa trug aber von ihrer Festnahme Blutergüsse davon und war mehrere Tage verschwunden. Im September letzten Jahres wurde sie zu elf Jahren Haft verurteilt. Am Umgang mit ihr kann man sehen, wie sich der Staat nun auch gegen Frauen wendet – obwohl er sich offiziell als ihr „Beschützer“ präsentiert.

Das Bild, welches wir in Deutschland von den Belarussinnen haben, ist alles andere als feministisch: Junge, hübsche Frauen in rot-weißen Kleidern, die den Polizisten Blumen entgegenstrecken.

Nicht alle Frauen, die an den Protesten teilnahmen, waren Feministinnen. Und das ist auch vollkommen in Ordnung! Sie hatten die verschiedensten Gründe, mitzumachen: Sie wollten sich gegen die Folter im Okrestina-Gefängnis und die Ungerechtigkeit während der Wahlen auflehnen. Vielleicht hatten ihre Familienmitglieder unter Polizeigewalt gelitten. Aber es kommt natürlich immer darauf an, welche Bilder ausgewählt werden. Tatsächlich gab es genauso viele ältere Frauen, die an den Protestmärschen teilnahmen. Aber die wurden viel weniger fotografiert. Das patriarchale Bild der hübschen Frau mit Blume in der Hand verfing am meisten.

Welche Rolle spielte die LGBTQ-Community im Kampf gegen Lukaschenka?

Die feministische und die LGBTQ-Community sind in Belarus eng miteinander verbunden. Diese Organisationen haben eine große Expertise, wenn es darum geht, medizinische und psychologische Hilfe bereitzustellen und rechtliche Beratung zu organisieren. Das ist seit mehr als zehn Jahren Teil unserer Arbeit. Wir haben funktionierende Strukturen aufgebaut, mit denen wir einander unterstützen. Ein Name, den ich hier besonders hervorheben möchte, ist Olja Gorbunowa. Sie wurde vor etwa einem Monat für die Teilnahme an einem Frauenmarsch festgenommen – nun drohen ihr sechs Jahre Haft. Olja war eine der zentralen Figuren im Kampf für Frauen- und LGBTQ-Rechte in Belarus. Sie leitete mehr als zehn Jahre lang ein Frauenhaus für Betroffene häuslicher Gewalt.

Sie beschreiben in literarischen Erzählungen, was gerade in Belarus passiert. Gibt es ein Thema, das Ihnen besonders wichtig ist?

Ich schreibe viel über Gewalt, weil in unserer Gesellschaft lange darüber hinweggeschaut wurde. Gewalterfahrungen machen die Leute hier in allen möglichen Arten von Beziehungen. Aber erst seit dem Sommer 2020 wird darüber gesprochen. Vorher wurden die Methoden der Polizei nur als eine Art „Gerücht“ behandelt, das keiner weiteren Einmischung bedurfte. Erst durch die massiven Beispiele von Folter und Leid in den Gefängnissen wurde Gewalt zu einem Diskussionsthema.

Hilft da Literatur?

Viele meiner Charaktere schlagen sich mit Traumata herum. In der Geschichte Mach weiter, Simona geht es beispielsweise um eine Frau, die in der Familie sexuellen Missbrauch erlebt und an Depressionen leidet, deren Situation aber so normalisiert ist, dass niemand versteht, warum. In der russischsprachigen Literatur, in deren Tradition die belarussische steht, wird die weibliche Perspektive auf solche Themen immer noch weggeschwiegen. Erst seit einiger Zeit schreiben die Leute Bücher und Essays darüber. Zum Beispiel veröffentlichte Julia Artjomowa kürzlich ihren Debütroman Auch ich bin die Revolution. Und selbst dann bekommen Autor:innen Kommentare, ob das nötig sei und ob diese Werke publiziert werden sollten.

Olga Shparaga stellte 2021 in ihrem Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“ die These auf, dass die belarussische Revolution die Gesellschaft zum Positiven verändern wird. Etwas naiv, oder?

Olga war eine meiner Dozent:innen in Minsk. Als sie ihr Buch geschrieben hat, war die öffentliche Wahrnehmung von Belarus eine ganz andere. Auch ich habe damals gedacht, es hätte einen friedlichen demokratischen Prozess gegeben und Gruppen, die die Zukunft unseres Landes gestalten wollen. Leider muss man sagen, dass das für die meisten, die noch hier sind, nicht mehr zutrifft. Die Leute sind skeptischer gegenüber progressiven Einstellungen geworden. Weil sie wissen, dass ihre eigene Sicherheit dadurch beeinträchtigt werden könnte. Sie schirmen sich gegenüber Risiken ab. Ich denke aber nicht, dass sie tatsächlich demokratische Prozesse ablehnen. Diejenigen von uns, die Belarus verlassen haben und in anderen Ländern leben, sind dem gegenüber sogar noch offener geworden.

Trotzdem kritisieren Sie auf Ihren Social-Media-Kanälen die mediale Erzählung von der „letzten Diktatur Europas“, die alle verlassen würden. Wie zynisch!

Viele Belaruss:innen haben nicht die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Seit dem Ryanair-Vorfall kontrolliert die Grenzpolizei verstärkt. Ausreisen kann gefährlich sein. Wer sich um ältere Familienmitglieder oder Kinder kümmern muss, trifft diese Entscheidung nicht einfach so. Zudem ist die Lebensqualität hier enorm gesunken. Junge Eltern und queere Jugendliche sind stärker von Armut betroffen und können sich eine Ausreise nicht leisten. Und die meisten Aktivist:innen, die ihnen bisher soziale Beratungen angeboten haben, mussten Belarus verlassen. Ich finde es wichtig, die Geschichten derer zu erzählen, die sich aus dem Exil für einen Wandel einsetzen. Dabei sollten aber die, die immer noch hier sind, nicht unsichtbar werden.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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