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Interview | Inflation: „Le Pen hat wegen des Kaufkraftverlusts gepunktet. Das sollte uns Warnung sein“


Link [2022-06-01 05:17:57]



Die Ökonomin Isabella Weber erforscht die Wirtschaftspolitik Chinas und findet Lektionen für heute

Isabella Weber hat sich als Ökonomin dadurch einen Namen gemacht, dass sie ein preisgekröntes Buch über chinesische Wirtschaftspolitik geschrieben hat. Es handelt von der Transformation der chinesischen Wirtschaft und den Entscheidungen der 1970er und 1980er Jahre, denen das Land seine rasanten Wachstumsraten verdankt.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie allerdings dadurch bekannt, dass sie im Dezember 2021 einen Guardian-Artikel über die Möglichkeit von Preiskontrollen als Mittel der Inflationsbekämpfung schrieb und sich dafür eine so heftige Reaktion von US-Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman einfing, dass der sich danach dafür entschuldigen musste.

Nun kann man sich fragen: Warum schreibt Weber über Preiskontrollen und Inflation, wenn sie doch Spezialistin für chinesische Wirtschaftspolitik ist? Tatsächlich stellt sich heraus, dass das eine mit dem anderen aufs Engste zusammenhängt. Und beides mit dem rasanten Anstieg der Inflation, den wir derzeit erleben.

der Freitag: Frau Weber, Ihr Buch heißt „How China Escaped Shock Therapy“, also: „Wie China der Schocktherapie entkam“. Vielleicht sollten Sie zu Anfang kurz erklären, was Sie unter Schocktherapie verstehen.

Isabella Weber: Schocktherapie ist ein Maßnahmenpaket, das von der neoklassischen Ökonomik entwickelt wurde. Die Idee dahinter ist, dass der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft universell freie Preise erfordert, damit die staatlich geplante Steuerung der Wirtschaft durch Preissignale ersetzt werden kann. Um aber mit der Preisliberalisierung keine hohe Inflation auszulösen, verbindet man Erstere mit makroökonomischer Austerität, also Sparmaßnahmen, und einer strikten Geldpolitik. Das Paket beinhaltet dann auch noch Handelsliberalisierung und die Privatisierung von Staats- und Kollektiveigentum, was aber einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt. Insofern ist das Schockelement an der Schocktherapie tatsächlich die Preisliberalisierung, die so schnell wie möglich umgesetzt werden sollte.

Und die immer die Gefahr von Inflation mit sich bringt. Was ich erst durch Ihr Buch lernte: In China hat die Kommunistische Partei in den 1940ern ihre Macht dadurch gefestigt, dass sie die Inflation erfolgreich bekämpft hat.

Genau. Bei Geldstabilität und Inflationsbekämpfung denkt man normalerweise eher an konservative Ökonomen wie Milton Friedman und den Monetarismus. Tatsächlich schaffte es die Kommunistische Partei im Chinesischen Bürgerkrieg im Unterschied zu den Nationalisten, die Hyperinflation in den von ihr kontrollierten Gebieten unter Kontrolle zu bringen. Die Ironie daran: Sie erreichte das nicht mithilfe staatlicher Preisdeckel, sondern dadurch, dass sie den Handel und den Warenfluss wieder in Gang brachte.

Doppelte Ironie: Die Nationalisten wurden damals von Experten aus den USA beraten, die die Inflation – wie in den USA während des Zweiten Weltkriegs – durch staatlich festgesetzte Preise bändigen wollten.

In der Tat. Nun muss man sagen: Die USA waren im Zweiten Weltkrieg sehr erfolgreich damit, im Inland durch Preiskontrollen relative Preisstabilität zu erreichen. Das verdankte sich dem Umstand, dass die USA eine industrialisierte Wirtschaft waren, in der große Unternehmen in einigen konzentrierten Märkten Preise setzten. In China funktionierte das nicht, weil die Handelsverbindungen zwischen Stadt und Land durch den Bürgerkrieg zerbrochen waren.

Zur Person

Isabella Weber, geboren 1987 in Nürnberg, ist Ökonomin. Sie hat an der FU Berlin, der Universität Peking, der Universität Cambridge und der New School for Social Research in New York studiert und promoviert. Heute arbeitet sie als Assistant Professor of Economics an der University of Massachusetts Amherst. Ihr Buch How China Escaped Shock Therapy wurde mit dem Joan Robinson Prize ausgezeichnet. Eine deutsche Übersetzung erscheint 2023 im Suhrkamp Verlag

Das ist die Prämisse des Ringens um die Wirtschaftspolitik 30 Jahre später. Es scheint in den 1970ern in China nicht darum gegangen zu sein: Reformieren oder nicht, sondern nur um das Wie.

Es gab natürlich auch Leute, die gegen die Reformen waren. Aber die Unterschiede innerhalb des Lagers der Marktreformer spielten eine bisher übersehene Rolle. Es ging dabei nicht nur um die Geschwindigkeit, sondern es ging um zwei konkurrierende Reformlogiken. Die einen sagten: Wer mehr Marktdynamik möchte, muss den Plan abschaffen und so Platz machen, damit Märkte spontan entstehen können. Die anderen experimentierten damit, zunächst am Rande des Systems Marktdynamiken entstehen zu lassen, während sie die Kontrolle über den Kern des Systems behielten.

Wie sah das in China aus?

Die wichtigste Reform in den frühen Jahren war die Agrarreform ab 1978, bei der die sogenannten Volkskommunen, die zuvor Getreideproduktion nach Plan betrieben, durch ein Modell ersetzt wurden, in dem einzelne Haushalte einen Teil dieser Quotenproduktion übernahmen. Sobald die Quote erfüllt wurde, konnten sie für den Markt produzieren.

So entstand ein zweigleisiges System aus Markt- und Planpreis. Die Schocktherapie hatte aber trotzdem immer wieder Konjunktur. Stimmt der Eindruck, dass sie erst wegen der sozialen Unruhen Ende der 1980er Jahre, die schließlich beim Tian’anmen-Massaker niedergeschlagen wurden, endgültig begraben wurde?

Das ist tatsächlich komplexer. Es war ja nicht so, dass das zweigleisige Preissystem alle Probleme gelöst hatte. Im Gegenteil, es erzeugte selbst wieder Probleme, etwa steigende Einkommensungleichheit und Inflationsdruck, die dazu führten, dass Deng Xiaoping Ende der 1980er versuchte, das Preisproblem nach zehn Jahren Reform endlich durch eine Preisliberalisierung zu lösen. Weil zu diesem Zeitpunkt aber die Situation schon so aufgeheizt war, reagierten die Leute allein auf die Ankündigung mit Panikkäufen, sodass die Reformen erst mal auf Eis gelegt wurden. Ich will das nicht monokausal verengen, aber es ist klar, dass Inflation und die Angst vor steigenden Preisen essentieller Güter zu starken politischen Spannungen führen können.

Das ist eine gute Überleitung zur Inflation von heute. Sie haben den Unmut der Mainstream-Ökonomen erregt, weil Sie die Post-Corona-Zeit mit den USA nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen haben und daran erinnerten, dass damals Preiskontrollen als Mittel zur Inflationsbekämpfung gang und gäbe waren.

Tatsächlich habe nicht ich, sondern der Council of Economic Advisers des Weißen Hauses diese Parallele zuerst gezogen: Aufgestaute Nachfrage entlädt sich auf einmal und trifft auf ein verknapptes Angebot, das war nach Corona und nach dem Zweiten Weltkrieg ähnlich. Vor diesem Hintergrund habe ich daran erinnert, dass, wenn man diese Parallele zieht, man auch in Betracht ziehen sollte, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die gesamte Bandbreite der Wirtschaftswissenschaftler in den USA der Meinung war, für diese Art von Inflationsdruck seien selektive Preiskontrollen ein adäquates Mittel. Ende 2021 hofften alle auf eine schnelle Normalisierung. Bei mir gingen jedoch die Alarmglocken an, als ich las, dass die globalen Energie- und Lebensmittelpreise stiegen und die chinesischen Impfungen nicht gegen Omikron halfen.

Weil die Amerikaner jetzt wieder Geld ausgeben wollten, aber die Chinesen zu Hause im Lockdown saßen und nichts produzieren konnten?

Weil damit China – die Werkbank der Welt – unter der Zero-Covid-Politik auf weitreichende Lockdowns zusteuerte.

In Deutschland läuten beim Stichwort „Inflation“ die Alarmglocken laut und schrill, der Reflex ist stets: Die EZB muss die Zinsen erhöhen! Wenn aber die Inflation sich vor allem hohen Energiepreisen verdankt, dann wäre das doch, wie Sie sagen, so, als ob man einen Küchenbrand dadurch löscht, dass man das ganze Haus unter Wassser setzt.

Zentrale Inflationstreiber sind Energiepreise, Lebensmittelpreise und in den USA auch Wohnkosten. Das sind drei Posten, bei denen die Leute nur sehr wenig Flexibilität haben. Inflationsbekämpfung durch Zinserhöhungen oder Sparprogramme versucht, indirekt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage runterzudrücken und damit den Inflationsdruck zu mindern. Das funktioniert vielleicht mit Blick auf die Inflationserwartungen von Unternehmen. Es funktioniert aber nicht besonders gut, um die Nachfrage nach Waren zu senken, die für Grundbedürfnisse nötig sind. Insofern bin ich gegenüber dieser gesamtwirtschaftlichen Makroantwort auf die Art von spezifischer Inflationsdynamik, mit der wir es zu tun haben, skeptisch.

Jetzt wird vor einer Lohn-Preis-Spirale gewarnt, dabei streichen manche Firmen hohe Profite ein.

Wenn das Angebot sich verknappt, weil Lieferketten brechen und es niemanden gibt, der mit einer Mengenanpassung einspringen kann, dann kommt es zu einer Preisanpassung. Das kann nicht nur eine Weitergabe von Kosten, sondern Ausdruck einer Art von temporärem Monopol sein.

Ist das ein rechtmäßiges Ausnutzen von Knappheit oder ein unrechtmäßiger Übergewinn?

Ich würde das nicht moralisch formulieren. Wenn jetzt allerdings wegen der Preisanstiege kleine Ersparnisse entwertet werden, während viele Unternehmen in der Pandemie Rekordgewinne eingefahren haben, dann stellt sich natürlich die Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Das zentrale Problem ist der Umgang mit einer Inflationsdynamik, die, wenn sie erst mal da ist, ein sehr ernst zu nehmendes Problem ist.

Das Feuer greift dann über aufs Wohnzimmer, um in ihrem Bild zu bleiben.

Erst aufs Wohnzimmer, dann auch aufs Schlafzimmer, und irgendwann brauchen wir wirklich den Wasserwerfer, sprich: die Zinserhöhung. Die Leute erleben, wie zuerst ihre Ersparnisse flöten gehen und sie dann auch noch zur Lohnzurückhaltung angehalten werden. Das kann zu großer Unzufriedenheit führen. Ich erinnere an die Aufholjagd von Marine Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen: Sie hat vor allem mit dem Thema des Kaufkraftverlusts innerhalb sehr kurzer Zeit gepunktet. Das sollte uns eine Warnung sein.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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