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Interview | „Fotos allein reichen nicht“


Link [2022-03-07 10:33:28]



Der britische Fotograf Mark Neville arbeitete seit 2015 immer wieder in der Ukraine, inzwischen lebt er dort. Er hatte die Hoffnung, mit seinen Bildern verhindern zu können, was jetzt bittere Realität wurde. Wir erreichen ihn in Lwiw

Der Titel klingt wie eine Losung von gestern: Stop Tanks With Books. Man darf sich davon nicht täuschen lassen: Mark Nevilles Fotoband hat sich durch den Überfall Russlands auf die Ukraine keineswegs erledigt. Im Gegenteil lassen die Ereignisse der letzten Tage die Beobachtungen in diesem Buch umso hellsichtiger erscheinen. Im Rahmen eines soziografischen Projekts kam Neville das erste Mal in die umkämpften Regionen des Donbass und machte Aufnahmen von Menschen und ihrem Leben auf beiden Seiten der Barrikaden. Ergänzt um Texte, die einerseits Alltagserlebnisse wiedergeben und sich andererseits mit Fragen der wechselnden nationalen Identitäten befassen, zeichnet der Band das Bild eines Kriegs, der nicht erst letzte Woche begann. Nevilles Augenmerk gilt insbesondere den „Internally Displaced Persons“, den über zwei Millionen Flüchtlingen im eigenen Land, die in den Donbass-Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre bereits ihre Heimat verloren haben. Obwohl eindeutig in seinem Engagement für die Unabhängigkeit des Staats Ukraine, hält Neville an einem differenzierten Blick fest – und macht deshalb doch auch Hoffnung: der Einzelne enthält immer schon eine Vielfalt von Mut, Adaptionsfähigkeit, Pragmatismus und Ambivalenz.

der Freitag: Herr Neville, es ist Montagmorgen 10.30 Uhr bei Ihnen in der Ukraine. Wie ist Ihre aktuelle Situation?

Mark Neville: Meine Partnerin und ich haben im Zentrum von Kiew gewohnt, 50 Meter vom Amtssitz des Präsidenten entfernt. Wir sind am Donnerstag von den Sirenen geweckt worden, ab da war die Frage: Gehen oder bleiben wir? Meine Partnerin ist gesundheitlich vorbelastet und ich musste zwischen meiner Verantwortung für sie und meiner Aufgabe als Dokumentar-Fotograf abwägen, was sehr schwierig war. Als wir hörten, dass Russland vorhabe, den Präsidentenpalast zu bombardieren, war für uns klar, dass wir rausmussten. Kollegen von mir verließen die Stadt in einem Van und hatten zwei Plätze für uns. Zwischen Tausenden anderen, die westwärts flohen, waren wir einen ganzen Tag lang ohne Pause in einem Stau unterwegs. Vor zwei Tagen kamen wir in Lwiw an und ich versuchte meine Partnerin über die Grenze nach Polen zu bringen. Wir verbrachten den Tag am Bahnhof, vier Züge nacheinander fielen aus, Tausende drängten sich im Bahnhof, es war eine gefährliche Situation, es hätte beinahe Tote in dem Gedränge gegeben. Als klar war, dass wir es in keinen Zug schaffen werden, versuchten wir, mit einem Taxi zur Grenze zu kommen. Wieder Stau, 30 Kilometer vor der Grenze war dann klar, dass unser Taxifahrer umkehren musste, um vor der Ausgangssperre um 22 Uhr zurück zu sein. Wir überlegten, die 30 Kilometer zu laufen, aber in der Nacht und in der Kälte entschieden wir uns dagegen, hier fällt Schnee. Also fuhren wir mit ihm zurück und verbrachten die Nacht bei Freunden. Gestern fanden wir eine Wohnung, und hier sind wir jetzt also. Keiner hier weiß, was jetzt zu tun ist. Was so frustrierend ist: Das Ganze ging nicht vergangenen Donnerstag los, es läuft seit verdammten acht Jahren.

Sie wollten mit diesem Buch die Panzer stoppen. Was hat sich für Sie seit Ausbruch des Krieges verändert?

Was für mich so erstaunlich ist: Ich war mit meinen Texten für das Buch am Neujahrstag fertig. Vor sieben Wochen also, und alles, worüber ich schreibe, meine Handlungsaufforderung an den Westen – Mitgliedschaft in der Nato, der Ausschluss aus SWIFT, militärische Unterstützung –, ist noch genauso relevant. Ich bin kein politischer Stratege, ich bin ein aufgeschlossener, einigermaßen talentierter Mittfünfziger aus London, der vor zwei Jahren in die Ukraine gezogen ist. Wenn ich absehen konnte, was passieren wird, dann müssen Politiker auf der ganzen Welt es vorhergesehen haben. Als ich 2015 das erste Mal in die Ukraine kam, erkannte ich unmittelbar den Schmerz in den Augen der Menschen, auch in Kiew, obwohl der Krieg im Donbass 600 Kilometer weg war. Dort starben tagtäglich Menschen, ich war so viele Male dann dort. Deshalb habe ich dieses Buch gemacht. Die Idee dazu entstand vor fünf Jahren. Und eine Woche, bevor es veröffentlich wird, beginnt der Krieg. Zwei Jahre lang habe ich darum gekämpft, dass es gedruckt wird. Mein erster Verleger hat mich übelst im Stich gelassen. Ende letzten Jahres habe ich mich von ihm getrennt und mich an Nazraeli Press in Kalifornien gewandt. Sie sagten ohne Umschweife zu und wir arbeiteten Tag und Nacht daran, es in drei Sprachen zu übersetzen: Englisch, Ukrainisch, Russisch. Wir möchten transparent sein und nichts vor den Russen verstecken. Überhaupt sprechen die meisten in der Ukraine auch Russisch, haben russische Freunde und Verwandte. Es geht in diesem Konflikt nicht um Sprache oder Russenfeindlichkeit.

Zur Person

Foto: privat

Mark Neville wurde 1966 in London geboren und studierte Kunst am Goldsmith College. Seine Fotoreportage London/Pittsburgh im Auftrag der New York Times wurde 2012 für den Pulitzer-Preis nominiert. 2004 verbrachte er ein Jahr in Port Glasgow, das daraus entstandene Coffee-Table-Buch stellte er ausschließlich den 8.000 Haushalten der Stadt frei zur Verfügung

Sie haben 750 Exemplare an Politiker und andere Personen verschickt, von denen Sie glaubten, dass sie diesen Krieg verhindern können. Haben Sie auch Exemplare nach Russland geschickt –und wenn ja, an wen?

Etwa 50. Wladimir Putin hat eine Ausgabe bekommen. Und verschiedene NGOs, die ich namentlich nicht nennen kann. Sie haben sich dadurch in Gefahr gebracht, dass sie das Angebot annahmen, eine Ausgabe zu bekommen. Wer heute in Russland Ukrainer unterstützt, dem drohen wegen Landesverrats bis zu 20 Jahre Haft, heißt es.

Uns hat beeindruckt, wie nuanciert Ihr Buch ist.

Ich glaube fest daran, dass Kunst etwas verändern kann, mehr noch als Politiker, Diplomaten und Verhandlungen. Sie erreicht die Menschen emotional. Das ist es, was ihre Einstellung zum Krieg verändert. Siegfried Sassoons Gedicht über den Ersten Weltkrieg oder Popsongs über den Vietnamkrieg haben verändert, was die Menschen denken und empfinden angesichts dessen, was um sie herum und in der Welt vor sich geht. Ich wollte mit diesem Buch eine emotionale Verbindung herstellen. Dafür reichen Fotos allein nicht aus, denn Fotos können allzu leicht falsch verstanden, falsch eingeordnet oder in einen falschen Kontext gesetzt werden. Fotos sind eine äußerst ambivalente Angelegenheit. Ich bin zwar stolz auf meine Fotos, aber ich erwarte von ihnen nicht mehr als das, was sie zu leisten imstande sind. Deshalb enthält das Buch auch Forschungsergebnisse des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOis), dessen Mitarbeiter mit einigen der 2,5 Millionen Ukrainer gesprochen haben, die durch den Krieg bereits zu Displaced Persons im eigenen Land geworden sind. Und es enthält Kurzgeschichten der ukrainischen Schriftstellerin Lyuba Yakimchuk, die anhand verschiedener Personen erzählen, was es bedeutet, unter russischer Besatzung im Donbass zu leben. Sie war selbst 2014 dort. Menschen werden dort gefoltert, werden entführt.

Ihre Projekte führen oft zu anderen Ergebnissen als gedacht. 2010 waren Sie im Auftrag des Londoner Imperial War Museum als „Kriegskünstler“ in Afghanistan. Daraus ging ein Buch über Posttraumatische Belastungsstörungen hervor, woran Sie selbst nach dem Einsatz erkrankten. Es wurde dann wiederum von einem Militärkrankenhaus in Kiew angefordert. Haben Sie die Hoffnung, dass Ihr aktuelles Buch, auch wenn es den Krieg nicht verhindern konnte, etwas ganz anderes auslösen könnte?

Mein Buch ist eine Art Soziale Plastik. Man weiß nie, was damit geschieht, es entzieht sich meiner Kontrolle. Für mich ist das interessanter, als einfach nur Fotos in Zeitungen zu veröffentlichen oder in einem Museum zu zeigen. Ein Künstler, der mit Zeitzeugen arbeitet, hat aus meiner Sicht die Verantwortung, neue und unkonventionelle Wege zu finden, auf denen seine Kunst Menschen erreichen kann. Wir Fotografen haben eine ethische Verantwortung, denn unser Gegenstand ist die Realität, mit echten, identifizierbaren Menschen. Fotografie ist nicht das Fenster zur Welt, sie zeigt keine objektiven Wahrheiten, deshalb müssen wir verantwortungsvoll mit ihr umgehen. Mit der Kunstwelt hatte ich immer so meine Probleme, sie bemüht sich aus meiner Sicht zu wenig darum, „ganz reale Menschen“ zu erreichen. Ich habe immer versucht, andere Bevölkerungsschichten anzusprechen. Zum Beispiel mit meinem Buch Battle Against Stigma. Als ich aus Afghanistan zurückkam, litt ich unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Ich war ein vernunftorientierter, achtsamer, aufgeschlossener Mann Mitte 40. Wenn es mir so schwer fiel, mir Hilfe zu suchen, wie schwer muss es für einen Soldaten sein, der sein ganzes Leben lang beigebracht bekommen hat, sich zusammenzureißen? Diese Leute wollte ich mit meinem Buch erreichen. Was nicht bedeutet, dass die Kunstwelt kein aufgeschlossenes Publikum wäre und Museen und Galerien nicht auch wertvolle Foren sein können.

Und Museen und Galerien erreichen Menschen, die mächtig sind.

Genau. Die das Geld haben, Kunst zu kaufen. Das ist eine gute Hintertür.

Lassen Sie uns noch einmal über die 2,5 Millionen Displaced Persons innerhalb der Ukraine sprechen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?

Ich wurde vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOis) in Berlin gefragt, ob ich ein groß angelegtes Forschungsprojekt im Donbass als „visueller Ethnograf“ begleiten würde. Ich hatte Gwendolyn Sasse, die Direktorin, einige Jahre zuvor kennengelernt, damals war sie Professorin an der University of Oxford und organisierte ein Symposium über soziale Ungleichheit in London, worüber ich eine Fotoreportage für die New York Times gemacht hatte. So kam es, dass ich sechs Monate durch die Ukraine reiste, mit den Menschen dort Interviews führte und sie fotografierte. Was mich damals schwer beeindruckte: Ich war schon oft an extrem schwierigen Orten in meiner Laufbahn und meistens baten mich die Menschen dort um Hilfe und Geld, weil ich für sie wie ein wohlhabender Mann aus dem Westen aussah. Die Menschen, die ich in der Ukraine traf, hatten alles verloren, aber sie baten mich um nichts. Sie setzen sich mit mir hin und erzählten ihre Geschichte. Das ist bemerkenswert und mit ein Grund dafür, warum ich in die Ukraine gezogen bin. Ich wurde damals für verrückt erklärt. Aber ich habe es nicht eine Minute bereut, dass ich hierhergezogen bin. Und ich bereue es auch jetzt nicht.

Info

Stop Tanks With Books Mark Neville Nazraeli Press 2022, 180 S., 50 £

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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