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Interview | „Die Tür ist offen“


Link [2022-02-16 12:54:53]



Die Balance zwischen Kunst und Kommerz bietet viele Möglichkeiten, findet der Musiker und Komponist Sven Helbig. Selbst bei Scooter entdeckt er ein bisschen Schumann

Mögen Sie Neoklassik? Die einen erkennen in den sanft hingetupften Piano-Akkorden und zart schmelzenden Streichern ein musikalisches Beruhigungsmittel, andere feiern dagegen das Ausloten neuer Möglichkeiten.

Sven Helbig hat alle Vorwürfe und Lobpreisungen schon gehört: 1996 gründete er mit Markus Rindt die Dresdner Sinfoniker, ein auf zeitgenössische Musik spezialisiertes Orchester. Als Komponist schreibt der 53-Jährige eigene Orchester- und Chorwerke, als Arrangeur erweitert er die Musik von Rammstein ebenso wie die der Pet Shop Boys, mit denen er zur 800-Jahr-Feier Dresdens eine „Hochhaussinfonie“ inszenierte. Und obendrein hat Helbig beim Berliner Radio Eins auch noch eine eigene Sendung, Schöne Töne, mit Musik zwischen Electronica, Ambient und Klassik. Während unseres Gesprächs sitzt er allerdings sehr entspannt in der Lobby eines Hotels am Hamburger Steindamm. Dass Helbig gerade erst von einer Corona-Erkrankung genesen ist, sieht man ihm nicht an.

der Freitag: Herr Helbig, die Zielgruppe der Dresdner Sinfoniker haben Sie in einem Interview mal so beschrieben: „Die wollen nicht, dass man etwas völlig demontiert wie bei den Donaueschinger Musiktagen, die wollen aber auch nicht Honig um den Bart geschmiert bekommen.“ Was sie wollten, sei ein gutes Gefühl. Orientieren Sie sich daran auch, wenn es um Ihre eigenen Arbeiten geht?

Sven Helbig: Es gibt da eine breite Straße, auf der ich sehr gerne unterwegs bin, das ist die Johann-Sebastian-Bach-Straße. Das ist große Kunst, die sich aber auch der Gemeinde erschließen muss, egal ob Matthäus-Passion oder Kantate. Auch heute noch gibt es zwischen Kunst und Kommerz viele Möglichkeiten, und zwischen denen suche ich mir meinen Weg. Als Komponist möchte ich mich den Menschen mitteilen, das ist meine Art der Kommunikation.

Auf Ihrem neuen Album „Skills“ legen Sie den Fokus auf das Thema Handwerk, das Sie als Weg zur Perfektion beschreiben. Ist Handwerk wirklich so wichtig, wenn es darum geht, neue Musik zu erschaffen?

(Lange Pause) Das ist eine schwierige Frage, weil es in der Musikgeschichte Belege für sehr viele unterschiedliche Wege zu neuer Musik gibt. Mich hat es immer beeindruckt, wenn jemand etwas gut konnte, schon als Kind. Spricht man dagegen mit Punk- oder Elektro-Musikern, steht eher das Experiment, das „Mal gucken, was passiert“ im Vordergrund. Das sind völlig verschiedene Ansätze, man muss sich entscheiden. Punk hat mich nie interessiert, ich wollte ein Instrument richtig lernen. Deshalb habe ich mir als Student den Wecker gestellt, bin um fünf Uhr morgens aufgestanden und mit Bus und Straßenbahn zur Hochschule für Musik in Dresden gefahren. Damit ich um sieben dort bin und einen Raum kriege, wo ich den ganzen Tag üben kann.

Punk hat es Anfängern leichter gemacht: „Hier sind drei Akkorde, nun geh los und gründe eine Band!“, lautet ein berühmtes Credo. Sind solche DIY-Musikstile eine andere musikalische Welt, mit anderen Regeln?

Das würde ich gar nicht sagen, der qualitative Unterschied ist nicht plausibel erklärbar. Wir müssen Dinge zerstören und wir müssen Dinge pflegen. Du gehst nicht in den Wald und machst dir ein Klavier, das geht nicht. Ich kenne Leute, die kriegen schon bei dem Wort „Avantgarde“ eine Gänsehaut. Damit beleidigen wir aber auch den Pfleger, der nichts neu erfinden will, sondern dafür sorgt, dass bleibt, was er für gut hält. Den möchte ich auch schützen und nicht so tun, als stünde ich über ihm. Das sind verschiedene Ansätze, aber es sind beides Pixel aus einem großen Bild, mit vielen verschiedenen Möglichkeiten. Ich würde da keine Manifeste schreiben – wie man das in der Avantgarde ja häufig gemacht hat. Wie Dinge zu sein haben! Ich würde sagen, mein Vater, der in seinem Wohnmobil jetzt seinen zweiten Gitarrengriff übt, ist genauso wichtig wie die komplexen klassischen Werke.

Zur Person

Sven Helbig, geboren 1968 in Eisenhüttenstadt, ist Komponist, Musikproduzent und Regisseur. Er hat an der Hochschule für Musik in Dresden studiert. Am 16. Mai wird ihm der Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden 2022 verliehen

Sie kommen aus Eisenhüttenstadt, Ihre Großväter arbeiteten als Schmied und Zimmermann, während Sie heute Chor- und Orchestermusik schreiben. „You’ve come a long way, baby“, sagen Engländer zu so einer Biografie.

Meine ersten Berufsjahre habe ich im Stahlwerk verbracht, im Vierschichtsystem: Zwei Früh-, zwei Spät-, zwei Nacht-, zwei Freischichten – das war anstrengend. Das DDR-System wollte mich bestrafen, weil ich nicht drei Jahre zur Armee wollte. Ich hatte das zuerst zugesagt, weil man mir versprochen hatte, ich könnte dort Musik machen. In Eisenhüttenstadt gab’s ja nicht viel, und als Ungelernter konntest du auch nur die Drecksarbeit machen. Das war richtig hart, da hab ich heute noch Narben von.

War es deshalb naheliegender, Schlagzeug zu studieren anstatt Piano?

Schlagzeug hat mich schon immer fasziniert. Wenn ich einen Schlagzeuger beim Soundcheck beobachtet habe, dachte ich oft: Den Rest könnt ihr eigentlich weglassen. Deshalb habe ich auch eine starke Affinität zum Hip-Hop entwickelt. Später hatte ich die Idee, ein MTV Unplugged mit Eminem zu produzieren – mit großem Orchester, live aus der New Yorker Metropolitan Opera. Daran bin ich fast verbrannt. Peter Gelb, der Intendant der Met, fand meine Idee großartig, aber der Plattenfirma war es wichtiger, dass Eminem sein nächstes Album fertig bekommt – den Vorschuss hatte er schon.

Im Jahr 2017 haben Sie die brüllend lauten Hits von Scooter als romantische Miniaturen arrangiert, gespielt von der Pianistin Olga Scheps. Sollte das ein musikalischer Witz sein?

Die Idee kam von Scooter!

Das kann ich mir gut vorstellen. Die Pianistin lobt allerdings Ihre Arrangements und zieht in einem Interview mit der Deutschen Welle den Vergleich mit einer Fuge von Bach. Trotzdem starker Tobak, oder?

Ich habe mich lange dagegen gesträubt, bis mir jemand erzählt hat, dass der Sänger Thomas Bernhard mag und Texte von ihm für ein Hörbuch gelesen hat. Nach dem fünften Anlauf hab ich dann gesagt: Schick’s mal her. Und dann wusste ich überhaupt nicht, wo ich da anfangen soll. Aber ich will halt immer die Tür offen lassen und meinen Ansatz beweisen: Hey, wir sind alle gar nicht so verschieden! Was der da grölt, das sind in sich drin doch die gleichen drei Komponenten wie bei Schumann und Brahms, da könnt ihr euch auf den Kopf stellen in euren Klassik-Tempeln.

Mag sein, aber Kritik gehört nun mal dazu. In der Neoklassik gibt es leider sehr vieles, was die Entspannung fördert, aber auch schwer nach Dutzendware klingt. Zu Max Richters Album „Sleep“ gibt es sogar eine passende App – als Einschlafhilfe.

Ich weiß genau, was Sie meinen. Ich kenne selbst Kollegen, die sagen: Ich mach das jetzt auch, das verkauft sich ganz gut. Aber das hat man auch im Jazz! Es gibt übrigens auch schlechte Avantgarde und schlechte Zwölftonmusik. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass der reine Versuch, das reine Experiment schon etwas Gutes an sich ist.

Aber ist es nicht so, dass das Genre Experimente und Störendes von vorneherein ausschließt? Vor allem Ludovico Einaudi und Max Richter haben entspannende Piano- und Streicherklänge zu ihrem Markenzeichen gemacht.

Ich kenne den Vorwurf. Aber ich habe auch zwei Freunde, die sind für Ärzte ohne Grenzen nach Lesbos gegangen. Dort ziehen sie 16 Stunden am Tag halb tote Menschen aus dem Wasser, und wenn sie um halb zwei ins Bett gehen, hören sie Max Richters On the Nature of Daylight und finden wieder ihren Frieden. Wer bin ich, denen zu erklären, das sei Musik für neoliberale Jasager, wie ich das neulich gelesen habe?

Liegt es vielleicht auch daran, dass Musik heute selten als pure Kunst rezipiert wird, sondern fast immer auch ein Bedürfnis befriedigen muss? Wir wollen tanzen, gute Laune bekommen, unsere Wut kanalisieren – aber eben auch entspannen.

Das ist eine wahnsinnig wichtige Thematik, die für mich einmal mehr zeigt, dass die Dinge grundsätzlich zusammengehören. Wollen wir, dass Kultur nur noch das ist, was auf Bühnen stattfindet? Dass wir Eintritt zahlen, und dann ist alles da? Oder ist Kultur etwas anderes? Darüber müssen wir uns erst mal unterhalten, bevor wir Manifeste darüber schreiben, wie etwas zu sein hat. Ich finde es beklagenswert, dass wir so wenig singen. Es ist schön, wenn jemand eine Melodie schreiben kann, aber das haben wir komplett in den Pop abgeschoben, oder in die Volksmusik. Kunst ist heute etwas, das man im Alltag nicht gebrauchen kann – darauf haben wir uns geeinigt. Ich aber würde den Finger heben und sagen: Ich war von Anfang an dagegen!

Info

Skills ist soeben bei Modern Recordings erschienen

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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