Breaking News >> News >> Der Freitag


Interview | „Die Linke muss raus aus ihrer radikalen Pose“


Link [2022-05-21 22:33:12]



Die Schriftstellerin Jagoda Marinić und der Politiker Jan van Aken diskutieren über eine Partei, die Konzerne enteignen will, aber nur mit Gleichgesinnten redet

Je festgefahrener die Probleme, desto nötiger ein kreativer Blick. Die Linke ist mit 2,1 Prozent bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wohl am Boden angekommen. Bei rasend steigenden Lebensmittel- und Energiekosten und einer Nichtwählerschaft von 45 Prozent ist dennoch davon auszugehen, dass Bedarf an sozialer Politik besteht. Warum aber ist die Linke für viele so unwählbar? Als ich das vor einem Jahr mal die sozial durchaus interessierte Kolumnistin Jagoda Marinić fragte, entwich ihr der Satz: Ach, die Linke sei ihr irgendwie zu unglamourös. Etwas später fragte mich auch der Linke-Politiker Jan van Aken: „Was machen wir denn falsch?“ Vielleicht sollten die beiden mal reden.

der Freitag: Jagoda, Sie findendie Linke „zu unglamourös“ – was meinen Sie damit?

Jagoda Marinić: Naja, das war natürlich keine politische Analyse, sondern entwich mir eher intuitiv ... Ich war vor Jahren mal auf einer Veranstaltung der Linken in Heidelberg und total erschrocken, wie sie dort aufeinander losgestochen haben. „Unglamourös“ meint: Da wird keine Form gewahrt, es wird schnell hässlich.

Jan, als ich Ihnen von Jagodas Beurteilung erzählte, waren Sie sauer. Sie haben darauf verwiesen, was so manche Gewerkschafter von den Grünen halten ...

Jan van Aken: Nein, meine erste Reaktion war: Es gibt niemanden, der so unglamourös ist wie ich! Ich bin kulturell ein Langweiler, durch und durch Naturwissenschaftler. Und da sind wir ja schon bei den kulturellen Unterschieden. Wohl weil ich bei Greenpeace gearbeitet habe, werde ich auch oft gefragt: Warum bist du bei der Linken und nicht bei den Grünen?

Ja, warum?

Van Aken: Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt. Mein Vater hat beim Autozulieferer gearbeitet, dann Abendschule gemacht, wurde Ingenieur. Meine Mutter war Sekretärin. Das Industriegebiet am Rande Hamburgs, in dem sie arbeiteten, lag zwischen zwei Orten: In dem einen wohnten die Angestellten, in dem anderen die Arbeiter. Wo war das Schwimmbad, das Gymnasium, das Jugendzentrum? Natürlich dort, wo die Angestellten wohnten! Ich hatte das Glück, auf das Gymnasium zu gehen – wie nur vier oder fünf andere aus meiner Schule. Einmal nannten sie uns dort die „Asozialen“.

Jagoda, Sie kommen aus einem ähnlichen Milieu wie Jan, oder?

Marinić: Ja, meine Eltern kamen als Gastarbeiter aus Kroatien nach Deutschland und arbeiteten in der Autofabrik am Band. Als Arbeiter haben sie sich viel von der SPD erhofft.

Van Aken: Ich habe mich dann über die Anti-AKW-Proteste in den 1970er-Jahren politisiert, ich hätte also durchaus auch zu den Grünen finden können. Aber schon als Jugendlicher hatte ich das Gefühl: Für die Grünen existieren meine Eltern gar nicht.

Marinić: Ich habe die Grünen auch als zu abgehoben erlebt, um die Situation meiner Eltern im Blick zu haben. Aber dafür hatten sie dann meine Generation im Blick, Nachkommen der Gastarbeiter*innen. Ich finde die Grünen in Vielem noch immer elitär, aber die Partei hat einigen einen Bildungsaufstieg ermöglicht, wie Cem Özdemir.

Van Aken: Jetzt überlege ich noch mal, was Sie damit meinen, dass die Linke zu unglamourös sei. Meinen Sie vielleicht: zu verbissen?

Marinić: Ja! Sich auf die Seite der sozial Schwächeren zu stellen, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen, für bessere Arbeitsbedingungen, für eine gerechtere Verteilungspolitik – dafür bin ich doch auch! Die Ziele der Linken sind mir sehr nah – ich habe nur die Verpackung nie verstanden. Dieses Verbissene, genau. Sobald ein Konflikt entsteht, reißt man sich schon die Jacke runter.

Van Aken: Und das ist ja tatsächlich ein Problem vieler Linker: Die sind verbissen in ihrem Kampf, dogmatisch, nicht zum Lachen aufgelegt. Aber die Linkspartei hatte zu Anfang doch eine ganz gute Ausstrahlung, oder? 2009, als Gregor Gysi und Oskar Lafontaine die Partei führten?

Marinić: Das stimmt. Bei Gysi spürte man diese Lust an der Rhetorik – hier wird Politik wirklich vermittelt. Bei Lafontaine – auch wenn man inhaltlich woanders stand – spürte man politische Visionen, der hat die Verteilungsfragen thematisiert, die Gesellschaftsordnung hinter den Missständen. Das fehlt oft bei den Grünen, wenn sie sagen: Bio ist wichtig – und am Ende kann sich der Arme eben kein Bio kaufen. Wo bleibt die Partei, die sich überlegt, wie Essen wieder grundsätzlich bio sein kann?

Van Aken: Wir haben in der Linken unter Katja Kipping und Bernd Riexinger die Debatte um linke Entwürfe für diese Gesellschaft sehr ernst geführt! Es geht uns um radikale Reformpolitik, also nicht nur ein kleines bisschen verändern, sondern grundsätzlich. Das beste Beispiel dafür ist das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in Berlin. Da haben soziale Bewegung und die Linke in der Berliner Regierung zusammengearbeitet, um im Hier und Jetzt was zu verbessern, damit Wohnen bezahlbar wird.

Zur Person

Foto: Jürgen Heinrich/IMAGO

Jan van Aken ist Referent für internationale Konflikte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Bis 2006 arbeitete er als Biowaffeninspekteur der UN, 2012 – 2017 war er außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und bis Ende 2021 Mitglied des Bundesvorstands der Linken

Jagoda, was halten Sie von der Kampagne zur Enteignung von großen Wohnkonzernen wie Deutsche Wohnen?

Marinić: Ja ... puh. Es haben ja tatsächlich etliche Städte den Wohnungsmarkt ruiniert, weil sie ihn für ’nen Appel und ’n Ei an Konzerne verscherbelt haben. Eine Initiative für den Rekommunalisierung von Wohnraum ist deshalb natürlich genial.

Aber?

Marinić: Aber ich halte Enteignung für einen schlechten Begriff, denn er löst Ängste aus. Die Leute fragen sich: „Ich habe mir was angespart und mir eine Wohnung gekauft, wenn die jetzt anfangen, so einen Konzern zu enteignen, ist dann im nächsten Schritt meine Wohnung dran?“ Diese Debatte finde ich gefährlich.

Van Aken: Diese Angst vor dem Begriff Enteignung hatten auch viele in der Linken, aber ich muss sagen: Der Erfolg des Volksentscheids hat doch gezeigt, dass die Bedenkenträger*innen irrten! Über 56 Prozent stimmten für die Enteignung von Wohnkonzernen, und warum auch nicht? Es geht um die Daseinsvorsorge.

Das Grundgesetz sieht die Möglichkeit der Vergesellschaftung für den Fall vor, dass die Allgemeinheit diesen Besitz benötigt.

Van Aken: Die Kunst ist, zu vermitteln, dass mit der Enteignung eben nicht das kleine Häuschen oder das Auto gemeint ist. Das ist uns gelungen.

Marinić: In Berlin ist es gelungen – aber Berlin ist ja nicht die Bundesrepublik. Auch hier in Süddeutschland steht man vor dem Problem, wie man die Privatisierungspolitik der Kommunen wieder rückgängig machen kann. Die Linke könnte hier mit ihren Ideen durchaus auf offene Ohren stoßen – aber nicht mit dem Enteignungsbegriff. Wie bringt man diese Idee mit einem neuen Wording in die Gegenwart, das nicht gleich alte Abwehrkämpfe aktiviert – selbst bei denen, die von steigenden Mieten stark betroffen sind? Das wäre für mich Aufgabe der Linken. Und ich glaube, das ist Teil des Grünen Erfolges: Dass sie aus den Grabenkämpfen der letzten Jahrzehnte zumindest ein paar Meter herausgefunden haben.

Wieso hält die Linke so sehr am Begriff der Enteignung fest? Gibt es da so eine Lust an der Provokation, die stärker ist als das Interesse an der Anschlussfähigkeit?

Van Aken: Hm. Die Linke will ja etwas anderes als die Grünen: Die wollen innerhalb des herrschenden Machtgefüges alles ein bisschen ökologischer machen. Die wollen keine Enteignung, und zwar nicht wegen des bösen Wortes, sondern aus Prinzip nicht: Sie wollen die kapitalistischen Besitzverhältnisse beibehalten. Wir aber wollen demokratisieren und dafür zur Not auch Konzerneigentum enteignen. Jagoda hat ja recht: In Heidelberg müsste man solch eine Kampagne anders aufziehen. Aber in Berlin war sie ein voller Erfolg!

Marinić: Moment, noch wurde Deutsche Wohnen ja nicht rekommunalisiert! Ob die Maßnahme in der Berliner Regierung durchgesetzt wird, ist unklar – und das liegt auch an der Linken: Sie hat die Durchsetzung nicht zur Bedingung für die Koalition gemacht. Wie kann man denn so einen linken Erfolg, der weltweit beachtet werden würde, auf’s Spiel setzen, um mitzuregieren? Sind der Linken dann die Pöstchen doch wichtiger als das große Ganze?

Van Aken: Nein, denn hätte die Linke die konsequente Durchsetzung des Volksentscheids zur Bedingung für die Koalition gemacht, hätten wir in Berlin jetzt eine Regierung mit Beteiligung der FDP, und dann würde ganz sicher nichts rekommunalisiert. Aber schaun mer mal. Wenn am Ende „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ gekippt wird, obwohl 60 Prozent der Wähler*innen dafür gestimmt haben – dann ist das ein Versagen der Linken. Das ist noch nicht ausgemacht.

Im Berliner Senat entscheidet nun erst mal eine Kommission darüber, ob er durchsetzbar ist.

Marinić: Wenn sie es schafft, solch eine Vergesellschaftung durchzusetzen – das wäre der große Coup. Derzeit gibt es einen leisen Zweifel, ob die Linke das Leben der Menschen nachhaltig verbessern will – oder ob es ihr doch nur um eine radikale Pose geht.

Diesen Vorwurf können Sie doch auch an die Grünen richten, oder? Dass sie sich in der Pose der ökologischen Bürger*innen gefallen, gleichzeitig aber jenes Milieu stellen, das mehr CO2 ausstößt als Geringverdienerinnen?

Marinić: Ja, das stimmt. Aber bei den Grünen sehe ich derzeit, wie Annalena Baerbock und Robert Habeck versuchen, diese Kluft zwischen grünen Idealen und umsetzbarer Realpolitik zu schließen – da ist in den vergangenen Jahren sehr viel Arbeit reingeflossen. Der Weg von der radikalen Pose zu einer gesellschaftlichen Mehrheit ist weit, und dann die Gefahr: Wird man, wie teils die Grünen in Baden-Württemberg, eine CDU im grünen Anzug? Jede Partei muss die Balance finden zwischen einer idealen Haltung und dem Anspruch, Politik auch durchzusetzen. Bei den Linken sehe ich diese Ambition schon länger nicht mehr.

Zur Person

Foto: Eventpress/IMAGO

Jagoda Marinić ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin und Kolumnistin der Süddeutschen Zeitung. Bei Parteien hält sie Vorträge, im Podcast Freiheit Deluxe diskutiert sie mit prominenten Stimmen über Gesellschaftskritik: „Wer über Freiheit reden will, muss Freiräume schaffen.“

Jan, können Sie diese Kritik annehmen? Immerhin setzen Sie sich seit Wochen für zivile Schritte gegen Wladimir Putin ein – wieso eigentlich haben Sie den Brief von Autorinnen wie Juli Zeh in der „Emma“ gegen Waffenlieferungen nicht mit unterstützt?

Van Aken: Weil ich den Emma-Brief nicht gut finde. Auch Pazifisten müssen für Kriegssituationen Antworten geben, und das tut dieser Brief nicht. Die Frage bleibt: Was müssen wir in Deutschland tun, damit Putin mit seinem Krieg in der Ukraine nicht weitermacht? Einfach nur „Friedensverhandlungen“ zu rufen, reicht nicht, es braucht konkrete Vorschläge, wie es dazu kommen kann.

Jagoda, Sie haben den Brief des Gründers der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks unterschrieben, der die Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine fordert.

Marinić: Ich habe den Brief vor allem aus Hilflosigkeit über diesen ersten Brief unterschrieben, der – wie Jan sagt – in einer enthobenen Vorstellung von Pazifismus verharrt. Mit meiner Unterschrift habe ich sehr gehadert, weil die Forderung nach schweren Waffen hart und sehr konkret ist, keine rein intellektuelle Positionierung.

Wieso „kämpft die Ukraine auch für unsere Sicherheit und die Grundwerte des freien Europas“, wie es in dem Brief heißt?

Marinić: Über diesen Satz habe ich lange nachgedacht. Ich habe darüber mit der deutsch-ukrainischen Autorin Katja Petrowskaja gesprochen, mit dem ukrainischen Autoren Juri Andruchowytsch und mit dem US-Historiker Timothy Snyder. Sie alle haben mir aufgezeigt, wie lange wir weggesehen haben bei den autoritären Entwicklungen in Russland: Putin vertritt ein Weltbild, das Russismus als Ziel hat, die Unterwerfung nicht-russischer Völker. Wenn Putin in der Ukraine gewinnt, gewinnt das Machtgebaren atomarer Supermächte. Völkerrecht wird dann durch nukleare Erpressung ausgehebelt. Derzeit kämpfen nur die Ukrainer dagegen, weil sie überfallen worden sind – doch die Folgen treffen uns alle. Putin greift die bisherige Weltordnung an.

Van Aken: Dieses Narrativ halte ich für falsch: Wir leben schon lange in einer Ordnung, in der eine Supermacht sich das Recht nimmt, in ein kleineres Land einzufallen – und keine Konsequenzen fürchten muss. Das ist die Erfahrung von 2003, als die USA den Irak überfallen haben: absolut völkerrechtswidrig. Wir haben schon lange eine kaputte Weltordnung, nicht erst seit Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg.

Marinić: Bis zum Syrienkrieg gab es schon eine gewisse Ordnung. Die Gasangriffe in Aleppo waren dann ein Tabubruch. Die damalige Schwäche des Westens gegenüber Baschar al-Assad führte dazu, dass Russland sich jetzt noch mehr herausnimmt.

Foto: Jan A. Staiger

Die Linke sah das damals und auch heute anders – sie forderte schon lange die Ersetzung der Nato durch ein kollektives Sicherheitssystem mit Beteiligung Russlands. Was halten Sie davon, Jagoda?

Marinić: Das ignoriert die politischen Entwicklungen unter Putin. Snyder warnt vor einer faschistischen Agenda Putins, die er als „russistisch“ bezeichnet, eine spezifische Form von Nazismus. Was setzen wir solch einem Russismus entgegen, in Europa? Darauf hat die Linke keine Antwort.

Van Aken: Ich gebe zu, die Vorstellung eines kollektiven Sicherheitssystems unter Einbeziehung Russlands klingt heute völlig illusorisch. Aber wir müssen vom Ende her denken: Wie soll Europa in 50 Jahren aussehen? Sollen auf diesem Kontinent zwei hoch gerüstete Blöcke gegeneinander stehen? Oder wollen wir es schaffen, Sicherheitsgarantien für alle Beteiligten zu erarbeiten? 2009 schlug der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew eine Handelsregion von Wladiwostok bis Vancouver vor. Der Westen hat dazu Nein gesagt, weil er Russland in seiner Rolle als billiger Rohstofflieferant behalten wollte. Die Chancen auf Frieden wären auf solch einer Augenhöhe vermutlich größer gewesen.

Marinić: Auch ich denke vom Ende her: Gerade mit Blick auf die USA dürfen wir das Machtgebaren einer Atommacht nicht hinnehmen! Wenn in den USA durch die Missstände bei den Republikanern wieder ein Präsident wie Donald Trump die Macht erlangt und ähnliche Machtfantasien wie Putin verfolgt, ist nicht abzusehen, wie sich die Welt zwischen solchen autoritären Mächten weiter entwickelt. Eine Situation herzustellen, unter der Putin jetzt gezwungen ist, zu verhandeln, ist deshalb gerade für die Zukunft zentral.

Van Aken: Mir gefällt an dieser ganzen Debatte nicht, dass sie nur auf einem einzigen Feld Antworten sucht: dem militärischen. Wer nicht mitmacht, wer keine Panzer liefern will, der gilt sofort als Putin-Troll. Ich bin kein Putin-Troll, aber ich will andere Antworten finden als militärische. Der Raum dafür fehlt derzeit völlig.

Marinić: Was kann die Bundesregierung denn auf dem zivilen Feld tun, um Putin zu stoppen?

Van Aken: Endlich echte Sanktionen durchsetzen! Im Moment macht die Bundesregierung nur Dinge, die möglichst niemandem in Deutschland weh tun. Waffenlieferungen zum Beispiel, das tut dem deutschen Kapital nicht weh, im Gegenteil.

Marinić: Was genau würden „echte Sanktionen“ bedeuten?

Van Aken: Weh tut es dem Kreml erst, wenn man große Kapitalfraktionen in Russland angreift. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat es deutlich gemacht: Es gibt 20.000 Multimillionäre in Russland. Sie alle könnte man auf Sanktionslisten setzen, sie haben einen Großteil ihres Vermögens in Europa! Konten in der Schweiz, Villen am Starnberger See. Das passiert nicht, weil die Bundesregierung dafür ein wirksames Transparenzregister bräuchte, was sie nicht einführen will, weil dann auch rauskommen würde, welchen deutschen Millionären was gehört. Aber wären wir diesen Weg vor neun Wochen gegangen, würden die russischen Oligarchen heute nicht mehr an ihre Konten rankommen. Was meinen Sie, was da heute los wäre in Russland.

Marinić: Da bin ich ganz bei Ihnen – und nun frage ich: Warum ist die Linke nicht in der Lage, diesen Vorschlag wahrnehmbar in die deutsche Debatte einzubringen?

Van Aken: Piketty hat ihn eingebracht, aber er dringt gesamtgesellschaftlich nicht durch.

Warum nicht?

Van Aken: Weil die Leute lieber über Waffen reden.

Marinić: Nein, so leicht können Sie es sich nicht machen. Vielleicht muss bei der Linken mal durchsickern, dass professionelle Organisation innerhalb dieses Systems nicht automatisch anti-links ist. Die Frage der Sanktionen ist zentral, da legt die Linke den Finger an die Wunde. Also los! Es muss möglich sein, damit in die Talkshows zu kommen. Eine Partei, die es nicht schafft, mit so einer zentralen Botschaft durchzudringen – der traut eben auch niemand etwas zu. Aber die Linke hat als eloquente Sprecherin leider nur Sahra Wagenknecht. Auch wenn ich nicht oft einig bin mit ihr: Sie weiß ihre Themen zu setzen.

Wir sind also wieder bei der Stilkritik. Jan, gibt es zu wenig Linke-Politiker*innen, die nach außen sympathisch und überzeugend die Inhalte der Partei vertreten?

Van Aken: Es ist schon seit über 100 Jahren ein Problem von Linken, dass jeder einzelne Linke weiß, welche Politik richtig ist. Wenn der nächste Genosse das dann anders sieht, gründet der schon eine neue Partei. Es stimmt, um solche Spaltungstendenzen zu überwinden, braucht man Persönlichkeiten, die in der Lage sind, Menschen zusammenzubringen. Aber man braucht auch die Option, wirklich etwas ändern zu können. Schauen wir uns die Syriza in Griechenland an, die war zunächst auch eine Drei-Prozent-Partei. Dann gab es, in der Krise, eine reale Veränderungsperspektive im Land – und zwei starke Persönlichkeiten, die es vermochten, die verschiedensten Sichtweisen zusammenzubinden: Alexis Tsipras und Yannis Varoufakis.

Auch die Linke leuchtete in der Wirtschaftskrise auf, bei der Bundestagswahl 2009 bekam sie zwölf Prozent.

Van Aken: Genau, das haben Gysi und Lafontaine eine Zeitlang geschafft, allerdings, indem sie die Fraktion damals ziemlich rigide von oben durchregiert haben. Ihre starke Führung wurde akzeptiert, weil die beiden ein starkes Charisma mitbrachten. Dieses Charisma hatte seither niemand.

Auch Sahra Wagenknecht nicht?

Van Aken: Sahra Wagenknecht ist eine scharfe politische Analytikerin. Aber sie ist selbst zu meinungsstark, um die Linke zusammenzubringen – lieber greift sie die Partei in der Öffentlichkeit von außen an. Als die Grünen vor einigen Jahren keine starken Führungspersönlichkeiten hatten und dabei zerstrittene Flügel, waren sie auch nicht besonders präsent.

Marinić: Da möchte ich einhaken. Es gibt doch Intellektuelle, die kapitalistische Missstände scharf kritisieren und die medial durchaus Präsenz haben. Wieso ist die Linke als Partei nicht in der Lage, solche Leute anzuziehen? Wieso vermittelt die Linke nicht: Hier ist der politische Raum, um eure Ideen stark zu machen?

Wurden Sie von der Linken mal eingeladen zum Dialog, Jagoda?

Marinić: Nein. Ich wurde von allen anderen demokratischen Parteien eingeladen, selbst von der FDP oder der CDU, denen ich inhaltlich nicht immer nahe stehe – aber auch sie wollen in den Austausch mit Kritikern gehen! Die Linke lädt nie zu solchen Diskussion ein.

Jan, ist die Linke zu arrogant? Muss sie ihre einzig wahre Weltsicht so schützen, dass sie mit Jagoda gar nicht erst sprechen will?

Van Aken: Nein, Arroganz ist echt nicht das Problem. Ich bewege mich gesellschaftlich durchaus nicht nur in der linken Blase. Wahrscheinlich stimmt es, dass ein Dialog mit den Ideendiskutantinnen dieses Landes in der Linken zu wenig stattfindet. Ich war ja selbst im Parteivorstand und gebe zu: Ich habe an so etwas gar nicht gedacht. Das müssen wir ändern, aber das ist eine Frage von Organisation – nicht von Arroganz.

Marinić: Das ist doch eine verpasste Chance! Man kann seine Ideen schärfen und eine gesellschaftliche Relevanz herstellen, wenn man mit kritischen Stimmen in einen Austausch geht.

Van Aken: Ja, das stimmt.

Nur, dass die Linke jetzt erst mal mit sich selbst beschäftigt ist: Mit ihrem Sexismus, ihrem Mobbing, ihren Machtkämpfen.

Marinić: Also da muss ich der Linken mal beistehen: Sexismus gibt es überall, sexuelle Übergriffe sind leider Teil der politischen Alltagskultur, in jeder Partei. Es spricht für die Linke, dass das Schweigen hier durchbrochen wurde.

Van Aken: Und dennoch hätten wir schneller reagieren, Sexismus schneller entgegentreten, Übergriffe schneller aufarbeiten müssen. Im Herbst 2021 wurden sie Thema im Parteivorstand, obwohl darüber in der Linken schon seit Herbst 2020 gesprochen wurde. Wir hätten schneller, konsequenter handeln müssen.

Marinić: Das ist ein Lernprozess. Die Linke kämpft einen Kampf, der überall geführt werden müsste. Leider hält die Verlogenheit vieler anderer Parteien noch ihre – glamouröse – Fassade. Hier tut es der Linkspartei gut, diese Fassade nicht aufrechterhalten zu können. Die Frauen in der Linken leisten hier Pionierarbeit. Es könnte der Anfang von etwas Neuem sein.

Mehr zur Linkspartei

„Vier Jahre Mobbing, Sexismus, Boshaftigkeit“Sie war vier Jahre lang Bundestags-Abgeordnete der Linken. Jetzt bricht Simone Barrientos ihr Schweigen über die Zustände in der Fraktion

Andere Parteien gestalten Gesellschaft. Die Linke gestaltet interne MachtkämpfeSexismus, Mobbing und Druck auf Journalist*innen: Die Linkspartei ist politisch gescheitert – aber statt sich neu aufzustellen, verlieren sich die Genoss*innen noch mehr in traurigen Machtspielchen

Sexismus-Skandal, Führungskrise: Ist die Linkspartei noch zu retten?Wahldebakel, Führungskrise, Sexismus-Skandal: Die Linkspartei steht am Abgrund. Ist eine Trendumkehr möglich? Und wäre diese überhaupt wünschenswert?

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-20 03:49:43