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Interview | „Die Grünen müssen sich entscheiden: Klimaschutz oder Anti-AKW, beides geht nicht“


Link [2022-05-25 08:39:04]



Veronika Wendland war mal gegen Kernenergie. Nun hat sie ein Buch mit dem Titel „Atomkraft? Ja bitte!“ vorgelegt. Sie ist überzeugt: Die Energiewende schaffen wir nur mit AKWs

Die Zeit nannte sie kürzlich „Seitenwechslerin“: Denn Veronika Wendland war mal gegen Kernkraft – und hat jetzt ein Buch namens Atomkraft? Ja bitte! veröffentlicht. Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986), Fukushima (2011): Nach drei Atomkatastrophen scheint es für viele kaum noch gute Argumente für Nuklearenergie zu geben. Wendland widerspricht und sagt: Die Energiewende klappt nur mit Atomkraftwerken (AKWs).

der Freitag: Frau Wendland, im Epilog Ihres Buches schreiben Sie: „Der größte Fan des deutschen Atomausstiegs heißt Wladimir Putin.“ Was soll das denn?

Veronika Wendland: Da fällt mir eine Anekdote ein, die mir ein Journalist erzählt hat: Am Abend des Atomausstiegsbeschlusses, also im Juni 2011, hatte der russische Botschafter zu einem Empfang geladen und sprach dort von einem „großen Tag für Russland“. Warum? Weil die Deutschen jetzt mehr von ihrem Erdgas kaufen würden. Das ist nur Berliner Hörensagen, schon klar. Aber als Mitglied des Petersburger Dialogs habe ich 2019 selbst miterlebt, wie Armin Laschet bei einem Treffen in Bonn in großen Worten Russland als „Partner der deutschen Energiewende“ gelobt hat. Deren Erdgas sollte ja das Backup für die volatilen Erneuerbaren sein.

Sie finden also, der Atomausstieg war der falsche Weg?

Na klar. 2000, vor dem ersten Atomausstieg unter Rot-Grün, hatten wir 30 Prozent Atomstrom im Netz. Hätte man auf diesem Sockel die Erneuerbaren ausgebaut, wären wir nie in diese Fossil-Abhängigkeiten von Russland geraten.

Haben Sie denn nicht den neuen „Uranatlas“ gelesen? Auch Atomkraftwerke in Deutschland werden von einem russischen Staatskonzern beliefert: Rosatom.

Ja, in der EU stammt 20 Prozent des in Kernreaktoren eingesetzten Urans aus Russland. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Erdgas und Uran. Für ein Jahr Reaktorbetrieb braucht man 50 bis 60 frische Brennelemente – man kann also mehrere Jahresbedarfe problemlos auf dem Anlagengelände unterbringen. Man ist dadurch weniger erpressbar als bei Erdgas, wo direkt ab Leitung verbraucht wird und Despoten einem den Hahn zudrehen können. Außerdem gibt es viele demokratische Uranproduzenten: Kanada und Australien zum Beispiel.

In französischen AKWs kommt das meiste Uran aus dem Niger.

Für den Niger gilt wie für andere extraktive Industrien im Trikont: Da sollte man mit Lieferkettengesetzen arbeiten, damit Arbeits- und Umweltbedingungen eingehalten werden.

Sie nennen es „unterlassene Hilfeleistung“, dass Ende des Jahres auch die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden sollen. Ernsthaft?

Deutschland ist beim Ausstoß von Treibhausgasen auf Platz sechs weltweit. Und da schalten wir eine CO2-arme Technologie ab? Und setzen stattdessen auf was? Kohle! Dabei hat die Zigtausende Menschen das Leben gekostet. Bei keinem Energieträger ist die Todesrate durch Unfälle und Luftverschmutzung höher.

Zur Person

Anna Veronika Wendland, 55, ist Osteuropa- und Technikhistorikerin. Sie hat in Köln und Kiew studiert. Für ihre Habilitationsschrift über die Kerntechnische Moderne hat sie lange in Atomkraftwerken als „Maschinenethnologin“ geforscht, wie Bruno Latour diese Methode umschrieb. Sie erforschte, wie der Arbeitsalltag in einem Kernkraftwerk aussieht. In ihrem neuen Buch Atomkraft? Ja bitte! (Quadriga, 287 S., 20 €) plädiert sie aus Klimaschutzgründen für ein nuklear-erneuerbares Energiesystem.

Wegen Tschernobyl sind 1,4 Millionen Menschen gestorben ...

Das ist eine Behauptung von Greenpeace und anderen NGOs, die von Langzeitstudien nicht geteilt wird. Was eindeutig auf Atomunfälle rückführbar ist, sind Schilddrüsenkrebserkrankungen: wegen der Aufnahme von Radiojod. Doch das ist gut heilbar. Daher gehen Experten von einigen Hundert „vorzeitigen Todesfällen“ aus, wie es in der Fachsprache heißt. Tschernobyl war nie die Todeszone, die wir uns ausmalen. Als ich 1989 nach Kiew zum Studieren kam, waren die drei verbliebenen Blöcke längst wieder in Betrieb.

Was ist mit Fukushima? Auch da kam es 2011 zur Kernschmelze.

Dort sind, anders als in Tschernobyl, die Reaktoren selbst nicht explodiert – die Freisetzung war also geringer. Es gab keine Strahlenopfer auf der Anlage. Und laut WHO werden keine zusätzlichen Krebsfälle mit Todesfolge erwartet. Die Bundesregierung zelebriert trotzdem eine sonderbare Fukushima-Gedenkkultur, die international ihresgleichen sucht. Ich habe das Gefühl, unsere Behörden füttern die Angst vor Atomkraft.

Vielleicht haben die Leute aus guten Gründen Angst? Erinnern Sie sich an den „Atomstaat“, vor dem Robert Jungk 1977 gewarnt hat: Ein Staat, der in der Lage ist, ein AKW zu beschützen, kann dieses Know-how auch dafür einsetzen, seine Bürger zu unterdrücken.

Ja, der Verfassungsrechtler Alexander Rossnagel hat das 1984 als „radioaktiven Zerfall der Grundrechte“ bezeichnet. Ich halte diese Angst für falsch. Autoritarismus, Zentralismus und Antidemokratie sind nicht in der Technik begründet, sondern in der Gesellschaft, die die Technik macht. Umgekehrt funktioniert das doch auch nicht: Oder haben die erneuerbaren Energien demokratisierend auf China gewirkt? Das ist immer noch ein Ein-Parteien-Staat, der in Zwangsarbeitslagern Photovoltaikanlagen fertigen lässt.

Laut Bundesamt für Strahlenschutz werden auch 36 Jahre nach dem Unfall noch bis zu 100 Mikrosievert pro Stunde in Tschernobyl gemessen.

Ja, aber in 50 Prozent der Evakuierungszone herrschen auch nur Ortsdosisleistungen wie im Schwarzwald oder Erzgebirge. Kommt halt immer drauf an, wo man misst. Im Nordiran gibt es einen Wohnort namens Ramsar mit Ortsdosisleistungen zwischen 50 und 90 Mikrosievert pro Stunde. Das ist fünfzig- bis hundertmal so viel wie in Towstyj Lis, einem der evakuierten ukrainischen Dörfer.

Noch mal zur Angst: Können Sie die gar nicht nachvollziehen?

Die Angst vor Nuklearenergie hat nichts mit ihrem realen Risiko zu tun, sondern mit den vorgelagerten Wertorientierungen der Menschen. Die Sozialpsychologen Aaron Wildawsky und Karl Dake haben herausgefunden, dass Menschen mit linken Vorstellungen die Natur eher als verwundbar wahrnehmen und großtechnische Risiken daher überschätzen. Ein Libertärer betrachtet die Natur als Gestaltungsfeld des Individuums, das beherrschbar ist. Und Konservative vertrauen eher auf Experten. Kein Wunder, dass Leute aus dem grünen und linken Spektrum die Kernenergie kritischer sehen.

An einer Stelle werden Sie unfair: Sie schreiben, die Wurzeln der Anti-AKW-Bewegung lägen im Nationalsozialismus, weil der das Erbgut des deutschen Volkes vor Strahlung schützen wollte.

Nein, da beziehe ich mich auf frühe Anti-Atom-Streitschriften von NS-belasteten Autoren. Und die haben halt so argumentiert.

Sie behaupten, Kernenergie sei genauso sauber wie Windkraft.

Das sieht der Weltklimarat genauso: Atomkraft erzeugt 12 Gramm CO2 pro Kilowattstunde. Neuere Studien sehen AKWs sogar nur bei fünf Gramm. Und aus einem Kilogramm Uran-235 kann man rund acht Millionen Kilowattstunden Strom erzeugen. Diese Energiedichte ist das ökologische Geheimnis der Kernenergie. Meine Botschaft an die Grünen ist daher: Ihr könnt nur einer Sache konsequent anhängen, dem Klimaschutz oder eurer eigenen Anti-AKW-Biografie. Beides geht nicht.

Man kann auch ohne Atomkraft CO2 einsparen. Wie wäre es mit einem Tempolimit?

Ja, super Idee! Aber ich habe das mal verglichen: Ein Tempolimit von 120 auf deutschen Autobahnen, wie es von der Klimabewegung gefordert wird, würde 2,6 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Das ist nicht übel. Würde man aber die drei AKWs laufen lassen und stattdessen alle deutschen Braunkohlekraftwerke stilllegen, kämen wir auf die zehnfache Einsparung.

Sogar die AKW-Betreiber sind gegen eine Laufzeitverlängerung.

Da würde ich mal antworten: „Industrie folgt Staat“. Die haben ja auch eine fette Entschädigung von 2,4 Milliarden Euro vom Steuerzahler gekriegt. Wir können das als Eingeständnis der Bundesregierung werten, dass es bei der Entscheidung nach Fukushima nicht mit rechten Dingen zuging.

Stichwort Endlagerung: Auch kein Problem in Ihren Augen?

Es gibt drei Wirtsgesteine, die sich für Atommülleinlagerung eignen: Salzgestein, Tongestein und Granit. Deutschland hat alle drei.

Die Gefahren von Atomkraft würden überschätzt, so Wendland

Foto: Johannes Eisle/AFP/Getty Images

Und wie garantieren wir, dass der Müll dort eine Million Jahre sicher ist? Das Standortauswahlgesetz schreibt das ja vor.

Eine Million Jahre ist eine politische Festlegung. Den Skandinaviern reicht eine 100.000-jährige Sicherheitsgarantie. Und die reicht mit Blick auf die durchdringende Strahlung und die bei Atomabfall allmählich abnehmende Giftigkeit des Materials völlig aus. Die Wirtsgesteine übernehmen dabei wartungsfrei die Abschlussfunktion. Das heißt, es ist keinesfalls so, dass da 100.000 Jahre lang Wachleute um die Anlage rennen müssen.

Dann müssen wir nicht, wie es der Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem vorgeschlagen hat, Katzen gentechnisch so verändern, dass ihr Fell bei Kontakt mit radioaktivem Material leuchtet? So wollte er künftige Generationen vor Atommüll warnen.

Wohl kaum! (lacht) Besondere Vorkehrungen, wie sie in der Atom-Semiotik diskutiert wurden, sind nicht vonnöten: Entweder unsere Zivilisation entwickelt sich weiter, beherrscht die Wissensweitergabe und weiß, wie man sich vor dem Atommüll schützt. Oder sie bricht ab – aber dann werden die Überlebenden nicht die technischen Mittel haben, um an die strahlenden Brennelemente heranzukommen.

Für mich die skurrilste Stelle in Ihrem Buch ist die, wo Sie schreiben, man könne ein AKW auch als „anarcho-syndikalistisches Kollektiv betreiben“.

Ja, die meisten lachen erst mal und sagen: Stell dir vor, Leck in der Hauptkühlmittelleitung – und die Anarchos lassen erst mal das Plenum entscheiden. Aber was ich meinte, war Ordnung ohne Herrschaft. Also selbst organisierte Systeme autonomer Arbeiter. Die auf Eigenständigkeit kleinerer Einheiten orientierte Arbeitsweise in Atomkraftwerken passt erstaunlich gut zu diesem Gedanken. Es ist kein Naturgesetz, dass AKWs unbedingt von kapitalistischen Konzernen betrieben werden müssen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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