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Internet | Abgetaucht


Link [2022-02-27 09:13:33]



Philipp Winkler erzählt von strauchelnden Gestalten, die Trost im Darknet suchen

Aktuelle Zahlen über den Medienkonsum junger Leute sind erschreckend. In Deutschland hat sich die Nutzungsdauer des Internets seit 2019 verdoppelt. Einige Studien weisen für 2021 unglaubliche 241 Minuten werktäglich aus. Folgen des Lockdows, Folgen der – auch wegen des Lockdowns – immer geringer werdenden Kontrolle durch die Eltern. Wo im realen Leben Kontaktverbote das Dasein erschweren, verlagert es sich in die virtuelle Welt. Für viele, nicht für alle. 220.000 Kinder und Jugendliche gelten allein in Deutschland nach neuesten Studien als süchtig.

In diese Situation stößt der neue Roman von Philipp Winkler, Creep, hinein und erzählt von der 30-jährigen Fanni in Deutschland, die nach Tausenden von Horrorvideos in allem Harmlosen nur noch den Schrecken sehen kann. Und von Junya aus Tokio, der nach fast zwanzigjährigem Rückzug ins Kinderzimmer nur mit dem Internet überleben konnte. Philipp Winkler könnte den Roman zur Stunde verfasst haben. Der Klappentext hilft nach, wenn er schreibt: Fanni und Junya „gehören zur ersten Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist“. Zu ihr zählt auch der 1986 bei Hannover geborene und heute in Leipzig lebende Autor. Genug Motive für einen Anti-Sucht-Roman? Dieses Label ginge fehl.

Der Körper als Gefängnis

In Hool, seinem Debüt, das noch vor Erscheinen 2016 auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis gesetzt wurde, hat Winkler seine Leser mitgenommen in das Milieu der Hooligans. Man könnte meinen, der Autor setzt in Creep die Erkundung mit Gewalt besetzter Milieus fort. Er folgt seinen beiden Hauptfiguren in die Dark-Räume des Internets.Für diese Lesart spricht einiges, aber sie scheint nicht den ganzen Roman abzudecken. Dann würde am Ende des Romans ein Hinweis gegeben werden, welche Wege Betroffene und ihre Eltern gegen die Abhängigkeit vom Medienkonsum gehen können, gegen Internetsucht. Steht da aber nicht, sondern es werden Partner genannt, die im Falle von Depressionen helfen können. Wie also ist Philipp Winklers neuer Roman zu lesen? Die Geschichteentwickelt sich im Wechsel des Erzählens über Fanni und Junya.

Fannis Geschichte beginnt damit, dass sie zusammen mit den Naumanns frühstückt. Sie ist in ihrem Unternehmen für die Optimierung der Kameraleistung zuständig und schaltet sich von ihrem Büro aus am liebsten bei den Naumanns zu. Nach einem Wohnungseinbruch haben sie sich Sicherheitskameras einbauen lassen. Jetzt sind die Naumanns Fannis virtuelle soziale Kontakte, also eigentlich keine.

Der Autor legt diese Figur widersprüchlich an. Sie schöpft einiges von der Wärme der Naumanns für sich ab, ist andererseits aber gar nicht an Kontakten interessiert. Sie kann sich mit keinem Geschlecht identifizieren. Als Agender fühlt sie ihren Körper als Gefängnis. Beständig strapaziert sie sich. Tägliches Joggen und achtmaliges Duschen. Jedes Wochenende in ihrem Körpergefängnis ist für sie eine Qual.

Junya hat nicht weniger mit einer außergewöhnlichen Identität zu kämpfen. Seit Ende der Schulzeit hat er sein Kinderzimmer nicht mehr verlassen. In Japan werden Menschen mit ähnlichem Rückzugsverhalten Hikikomori genannt und ihre Zahl wird auf mehr als eine Million geschätzt. Es gibt Selbsthilfegruppen und inzwischen kommt die Krankheit stärker in die Öffentlichkeit.

Als Form von Depression ist sie schon lange nicht mehr auf Japan beschränkt. Junya fühlt sich getrieben, seinen angestauten Hass zu kanalisieren, und zieht nachts mit Perücke und Maske durch die Straßen von Tokio. Er verschafft sich Zugang zu fremden Wohnungen und schlägt auf schlafende Menschen ein. Junya und Fanni weisen beide eigentümliche Prägungen ihres Ichs auf. Diese verstärken sich durch ihr hemmungsloses Abtauchen ins Internet. Falls der Song Creep der britischen Rockband Radiohead beim Titel Pate gestanden hat, dann sind es Liedzeilen, die deutsch lauten: „Ich wünschte, ich wäre besonders, aber ich bin ein gruseliger Typ ...Ich will die Kontrolle haben, aber ich bin ein Sonderling.“ In der digitalen Welt sind die Sonderlinge willkommen, niemand kontrolliert ihren Eintritt.

Kein Anti-Sucht-Roman

War Winklers erster Roman Hool ein Entwicklungsroman, könnte Creep ein Cyberroman sein, vielleicht sogar ein Cyberthriller. Der Autor investiert viel Kraft in die Glaubwürdigkeit der digitalen Romanwelt. Leider passiert es ihm dabei, dass er die Sprache mit Fachbegriffen überflutet. Nur ein Beispiel: „... dass die Seite nicht von einer Minute auf die nächste durch eine DDoS-Attacke eines konkurrierenden Marketplaces down gehen kann oder die Seite von den Feds hochgenommen wird ...“ Viel Fachchinesisch zieht sich durch den Roman, die Hälfte hätte es auch getan. Trotzdem gebührt dem Neuererwillen bei Thema und Stoff größte Anerkennung.

Der Roman erschließt sich am besten mit einer Lesart, die Sonderlingen wie Fanni und Junya folgt. Er fragt nach unserem Verständnis für Agender und unserer Hilfe für Hikikomori. Die Anmerkung im Klappentext, dass wir es mit der ersten Generation zu tun haben, die mit dem Internet aufgewachsen ist, benennt eine Voraussetzung für das Erzählen, ist aber nicht die Botschaft.

Creep ist kein Roman gegen eine Sucht. Sie wäre auch kein Romanthema, sondern eines für Psychologen und Therapeuten. Allerdings scheint die Möglichkeit einer digitalen Welt als kultureller Endzeit hinter Fanni und Junyos Schicksal auf. In Creep bleibt der Trost übrig, dass digital nur eine Technik ist, die Inhalte machen Menschen. Die Heroes des Darknets – da ist Winkler sehr deutlich – schieben sich heran an die „pergamentene Schwelle zwischen lebendig und tot sein. Und an den großen dummen Scherz, der menschliche Würde genannt wird und der nichts als eine Illusion ist“.

Info

Creep Philipp Winkler Aufbau-Verlag 2022, 342 S., 22 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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