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Informationskrieg | „Ich werde ihnen nie vergeben“: Wie der Krieg ukrainisch-russische Familien spaltet


Link [2022-03-21 09:32:55]



Viele Menschen in der Ukraine haben russische Verwandte. Doch während in Charkiw oder Kiew Häuser zerstört und Menschen getötet werden, bekommen die Menschen in Russland davon nicht viel mit. Was das für die Familien bedeutet

Alexander Serdyuk spricht nicht mehr mit seiner Mutter. Er beobachtet nervös, wie der Krieg immer näher an sein Zuhause in Lwiw heranrückt. Sie lebt 2.400 Kilometer weiter östlich in Russland und leugnet, dass irgendetwas davon tatsächlich passiert. „Ich kann nicht mit ihr sprechen“, sagt der 34-jährige Russe, der vor 10 Jahren in die Ukraine gezogen ist. „Sie versteht mich nicht. Sie sagt, das seien nur Nazis, die sich gegenseitig umbringen. Und dass wir für all das verantwortlich sind.“ Frustriert fügt er hinzu: „Sie glaubt mir einfach nicht. Wir haben früher viel miteinander telefoniert, aber jetzt macht es einfach keinen Sinn.“

Ähnlich ergeht es Natasha Henova. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren kleinen Söhnen ist sie aus ihrem Dorf in der Nähe von Charkiw geflohen, als die Bomben immer näher kamen. Aber als sie ihre Cousine anrief, die in der Nähe von Moskau lebt, um ihr davon zu erzählen, war das Gespräch fast genauso erschütternd wie der Krieg selbst.

„Sie war mitfühlend, aber sagte auch, dass wir belogen werden", erzählt Henova, eine 35-jährige Englischlehrerin. „Meine Cousine sagte, das sei alles Amerikas Werk. Ich fragte: Okay, aber warum greifen die Russen uns an, wenn es nur um die USA geht? Sie antwortete, die Ukrainer seien so grausam zu den Menschen im Donbas gewesen. Außerdem sagte sie, die ukrainischen Soldaten müssten sich ergeben. Sie lud mich sogar ein, zu ihr nach Russland zu kommen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich kämpfe hier verzweifelt um die Unabhängigkeit der Ukraine, und sie lädt mich ein, nach Russland zu gehen.“

Informationskrieg auf beiden Seiten der Grenze

Während der russische Krieg in der Ukraine in die vierte Woche geht, intensiviert sich der Informationskrieg auf beiden Seiten der Grenze. Die militärischen Angriffe zerstören nicht nur Wohnhäuser und Stadtzentren in der Ukraine, sondern stellen auch viele familiäre, grenzüberschreitende Beziehungen auf die Probe, die seit Jahrzehnten, ja sogar Jahrhunderten bestehen. Die Menschen in der Ukraine können mit eigenen Augen sehen, was mit ihrem Land geschieht. Die Menschen in Russland dagegen sehen es nur durch das Spiegelkabinett des Staatsfernsehens. Und wenn diejenigen, die in Bunkern ausharren, Videos oder Nachrichten schicken, tun viele in Russland (wenn auch nicht alle) das als Fake News ab.

Natalia Ivanivna hat russische Eltern und Großeltern. Als die 62-jährige Buchhalterin Anfang des Monats aus Charkiw in ein Dorf in der westlichen Ukraine fliehen musste, gab es zahlreiche Verwandte, die sie informieren wollte. „Eine Viertelstunde nach Beginn der Bombenangriffe schickte ich ihnen mehrere Nachrichten: ‚Wir werden bombardiert.‘ Die erste Frage, die sie mir stellten, war: ‚Wer bombardiert – unsere Armee oder eure?’”

Ivanivna meint, die Weltsicht auf der anderen Seite der Grenze sei von Angst und Unwissenheit geprägt. „Ich glaube, sie fürchten Putins Regime genauso sehr, wie meine Eltern Angst vor Stalin hatten. Jetzt antworten sie einfach nicht mehr. Ich bin nicht wütend auf sie; sie tun mir leid.”

„Putin hat gesagt, dass alles in Ordnung ist“

Das russische Fernsehen ist so allgegenwärtig und überzeugend, dass sogar Zuschauer:innen in der Ostukraine auf seine Version der Ereignisse hereinfielen. Maria Kriwoschejewa, die mit ihren beiden Kindern aus Charkiw geflohen ist, hat eine Großmutter, die zurück bleiben musste, weil sie zu gebrechlich ist. „Sie hat immer nur russisches Fernsehen geschaut“, erzählt Kriwoschejewa, „und als der Krieg begann, bemerkte ich, dass sie sehr ruhig war. Sie sagte: ‚Mach dir keine Sorgen. Putin hat gesagt, dass alles in Ordnung ist.'"

Ihre Meinung änderte sie erst, als die russischen Streitkräfte begannen, Charkiw zu bombardieren. „Wir schalteten auf das ukrainische Fernsehen um, das alles zeigte, all die zerstörten Gebäude. Dagegen zeigte das russische Fernsehen Webcam-Videos von Tagen zuvor und erzählte den Leuten, in Charkiw sei alles normal. Meine Großmutter begann zu weinen: ‘Ich kann nicht glauben, dass ich all die Jahre eine Gehirnwäsche bekommen habe.‘“

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2011 haben rund die Hälfte der Menschen in der Ukraine – mehr als 20 Millionen Leute – Familie in Russland. Ein Drittel der Ukrainer:innen gab an, dort Freunde oder Bekannte zu haben. Der familiäre Austausch zwischen den beiden Ländern sei seit Jahrhunderten stark, von den Anfängen des Kaiserreichs im 17. Jahrhundert über die späte Sowjetzeit bis in die Zeit der Unabhängigkeit, erklärt Orysia Lutsevych, Forschungsstipendiatin der britischen Denkfabrik Chatham House. „Moskau war immer die Metropole schlechthin im Russischen Reich“, sagt sie. Daher seien in den vergangenen mehr als 300 Jahren so viele Ukrainer:inen nach Osten gezogen. „Es war ein attraktiver Ort für Leute, die Karriere machen wollten. Die Ähnlichkeit der Sprache machte es einfach, dort zu studieren. Die besten Institute waren dort, daher war es auch prestigeträchtig.“

Verwandte halten die Kriegsbilder für Fake

Auch Russ:innen und Ukrainer:innen in anderen Ländern fühlen Wut über die Verleugnungstendenz, die ihre Verwandten angesteckt zu haben scheint. Unter anderem bekommen sie zu hören: die Kriegsbilder sind Fake; Nazis laufen Amok; die Ukrainer:innen sollten drinnen bleiben, damit die Faschisten sie nicht kriegen.

Natascha, eine in Großbritannien lebende Russin, die ihren Nachnamen nicht nennen will, hat einen ukrainischen Vater und eine russische Mutter. Ihre Eltern leben heute beide in Westsibirien. Die Familie ihres Vaters stammt jedoch aus Winnyzja in der Ukraine, und einige von diesen Verwandten sind bereits nach Polen geflohen. Natasha hat ihren Vater gefragt, ob er mit seinem Bruder gesprochen habe. Ihr Vater bejahte und sagte, dass alles in Ordnung sei – obwohl er durch die Sirenen der Luftangriffe nicht viel habe hören können. „Ich sagte zu ihm: ‚Wie kann alles in Ordnung sein, wenn Luftangriffssirenen heulen? Wie ist das okay?‘“

Ihre Mutter plappere das russische Fernsehen nach, über das Leiden der russischen Bevölkerung in der Ostukraine und die Notwendigkeit, sie zu schützen. „Aber das klingt verrückt für mich“, erklärt Natascha, „weil meine Verwandten russischsprachig sind und nach Polen fliehen.“

„Wenn ich meine Mutter frage, ob sie die Bilder gesehen hat, die Berichte und was in den Städten passiert, erklärt sie, das sei alles gefälscht“, fügt Natascha hinzu. „Es ist so frustrierend, nicht darüber sprechen zu können. Ich bin wirklich enttäuscht, dass sie dem Präsident mehr glaubt als mir.“

Eine Frage der Generation?

Das könnte zum Teil auch generationsbedingt sein, vermutet Natasha. Die ältere Generation sei in der Sowjetunion in dem festen Glauben aufgewachsen, der Westen sei gegen sie und vertrauen könnten sie einzig ihrer eigenen Führung. Viele Russ:innen seien zutiefst davon überzeugt, die größte Nation der Welt zu sein, mit den reichsten Ressourcen, eine widerstandsfähige Nation, die alles überstehen kann. „Natürlich werden sie glauben, was man ihnen erzählt.“

Vergebung jedenfalls wird Zeit brauchen. In der Ukraine herrscht laut Orysia Lutsevych von der Denkfabrik Chatham House ein starkes Gefühl von „Wir werden nicht vergessen“ vor. Man spüre die Entschlossenheit, dass nach dem Ende der Bombardierungen Kriegsverbrechen bestraft und Leute zur Verantwortung gezogen werden müssen. Es müsse wahrscheinlich einen Wahrheits- und Versöhnungsprozess geben, ähnlich wie in Südafrika nach der Apartheid, damit Familien wieder miteinander sprechen könnten.

Der 28-jährige Fotograf Artur Kolomiitsev, der in Charkiw ausharrt, ist sich nicht sicher, ob er verzeihen kann. Seine Eltern in Russland seien verständnisvoll, erzählt er, seine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen und die Großmutter dagegen weniger: „Sie glauben nicht, dass dieser Krieg real ist. Sie glauben, wir bombardieren uns selbst und dass unsere Regierung auf Drogen ist“, erklärt er. „Wenn ich ihnen irgendwann ein Foto schicke, auf dem eine Rakete meinen Kopf trifft, vielleicht würden sie mir dann glauben. Ich will sie nicht mehr sehen. Ich will nicht mehr mit ihnen sprechen. Ich werde ihnen nie vergeben.“

Obwohl sie ihren Job, ihr Zuhause und ihre innere Ruhe verloren hat, will Natasha Henova dagegen den Kontakt zu ihrer jüngeren Cousine nicht komplett abbrechen. Schließlich war sie in ihrer Jugend auch eine enge Freundin. „Vielleicht, wenn alles vorbei ist, vielleicht in ein paar Jahren, wenn meine Familie am Leben bleibt, vielleicht kann ich ihr dann verzeihen und sie verstehen.“

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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