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Indien | Ein Muster von einem Slum: Immobilien-Investoren vertreiben Künstlerkolonie


Link [2022-03-28 08:14:42]



In Delhi muss eine Künstlerkolonie einem Wolkenkratzer-Viertel weichen. Die Bewohner wurden von Investoren hereingelegt. Ein Lehrstück über Gentrifizierung

Nur 20 Minuten sind es mit der U-Bahn vom Zentrum Delhis bis zur Kathputli-Kolonie, einer Gemeinschaft von Wanderkünstlern, die sich Anfang der 1970er Jahre im Westen der Stadt niederließen. Sie taten es auf unerschlossenem Gelände. Was einst als provisorisches Zeltquartier von Puppenspielern aus Rajasthan begann, die der Kolonie ihren Namen gaben – „Kathputli“ bedeutet auf Hindi „Marionette“ –, wurde mit der Zeit zu einem Refugium für mehr als 4.000 Künstler, die mit ihren Familien aus dem ganzen Land hierherkamen.

Mittlerweile jedoch hat es den Anschein, als sollte der Vorhang für diesen Kunstslum unwiderruflich fallen. Das Terrain wird durch den Bau von Hochhäusern und einem Gewerbegebiet gentrifiziert. Auch wenn das von der Delhi Development Authority (DDA) geplante In-Situ Slum Rehabilitation Project zum Bau von vorübergehenden Unterkünften für die Familien der Kolonie führte, dürfte es unvermeidlich sein, dass sich in diesem Quartier demnächst ganz andere Bewohner niederlassen. Noch weist das die DDA als oberste kommunale Planungsbehörde strikt von sich. Als öffentliche Einrichtung entscheidet sie über den Masterplan der Hauptstadt, um deren Wachstum zu steuern und stetem Bevölkerungswachstum anzupassen. Erstmals wurde 2007 die Sanierung von Slums erwogen, wobei eine temporäre Umsiedlung der Bewohner in Notunterkünfte während der Sanierung und die anschließende Rückkehr in das ursprüngliche Quartier vorgesehen waren. Die Kathputli-Kolonie fand sich als eine Art Musterslum auserkoren, bei dem erprobt werden sollte, was möglich ist.

Bereits im Oktober 2009 wurde das Projekt dem Baukonzern Raheja zugesprochen, der lächerliche 61 Millionen Rupien (gut 705.000 Euro) für 5,22 Hektar Boden zahlte und sich verpflichtete, das Gebiet zu sanieren. „Die Folge davon war, dass wir ausziehen mussten und für das entsiedelte Terrain nur noch der kommerzielle Gewinn von Interesse war. Raheja kündigte den Bau eines Shoppingzentrums und von Hochhäusern mit bis zu 54 Etagen, Luxus-Apartments und einem Helikopterlandeplatz auf dem Dach an. Dieses Areal grenzt direkt an das Viertel, das sie für uns bauen“, erklärt der 29-jährige Aktivist Vijay Maitri in seinem bescheidenen Büro bei der Community-Organisation. Er hat sie gegründet und mit einem Bildungszentrum ausgestattet, um für die Theaterkünstler als die bisherigen Bewohner der Kathputli-Kolonie einzutreten. Was er vor allem verlangt, ist Transparenz bei der Projektplanung. Selbst in Kathputli geboren, hat er eine andere Geschichte als seine Nachbarn. Maitri stammt zwar aus einer Künstlerfamilie, die in den 1980er Jahren zur Kolonie stieß, hat aber eine Hochschule besucht und könnte überall auf der Welt leben, wie er sagt. Stattdessen entschied er sich fürs Bleiben, um seiner Community zu helfen.

Das Projekt zur Sanierung der Künstlerkolonie wurde jahrelang vorangetrieben, ohne dass die Betroffenen davon wussten oder gar ihre Meinung – geschweige denn Zustimmung – in der Sache eingeholt worden wäre. Erst 2013 erfuhren sie, dass ihre Häuser, die sie in den vergangenen 50 Jahren mit den eigenen Händen gebaut hatten, abgerissen werden sollten. Da war das Vorhaben schon sechs Jahre in Planung. Die Slumbewohner forderten energisch, informiert und einbezogen zu werden. Ihre ersten Proteste lenkten die Aufmerksamkeit der nationalen Presse auf das Besondere ihrer Gemeinschaft, die Puppenspieler, Musiker, Zauberer, Sänger, Tänzer, Akrobaten, Jongleure, Perkussionisten, Bildhauer, Maler und Schlangenbeschwörer vereinte. Sie füllten die Straßen des Quartiers mit Musik, Tanz und Farbe, um wahrgenommen zu werden. Die Medien berichteten, und die DDA war bereit, ihnen zuzuhören. Aber stoppen konnte und wollte man das Projekt nicht mehr. „Wenn sie das Viertel sanieren und das Leben seiner Bewohner verbessern wollten, hätten sie von Anfang an mit uns reden sollen“, moniert Maitri. „Man hätte zum Beispiel eine kleine Arena der Künste erwägen können, in der sich die Bewohner präsentieren. Man hätte ein Schaufenster für das kulturelle Vermächtnis Indiens haben können. Aber dafür müsste man den Menschen an die erste Stelle setzen, nicht das Geldverdienen.“

Albtraum Übergangscamp

Die DDA hatte bei einer ersten Zählung 2008 festgelegt, dass etwa 2.800 Familien von der Slum-Sanierung profitieren sollten. Tatsächlich waren es sehr viel mehr, denn der Zuzug riss nie ab. Auch die Spätansiedler wollten ihre Häuser nicht verlieren und in die Sanierungspläne einbezogen sein. Weil die Erstzählung so viel Unsicherheit erregte, wurde die Zahl der Berechtigten erhöht. Familien, die nachweisen konnten, dass sie zwischen 2011 und 2015 ansässig geworden waren, erhielten Anspruch auf Behausungen im Dorf Narela am nördlichen Stadtrand, gut 30 Kilometer von der Kolonie entfernt. Fast 500 Familien wurden dorthin umgesiedelt, ohne zuerst in ein Übergangscamp zu ziehen. Das ersparte ihnen einen Albtraum, wie ihn viele Kathputli-Bewohner derzeit durchmachen. Vollkommen leer gingen fast 800 Familien aus, die nicht glaubhaft dokumentieren konnten, dass sie sich bis 2015 niedergelassen hatten. Für sie kam keine der Umsiedlungsoptionen in Betracht – weder Narela noch eine temporäre Unterkunft. „Als wir herausfanden, dass die Stadt Delhi unsere Kolonie an den Baukonzern verkauft hat, gab es Demonstrationen, bei denen wir unsere Rechte forderten“, erzählt Jagdish Amra Bhatt. Der 52-Jährige aus Rajasthan ist Puppenspieler in siebter Generation, in einer Familie, in der die Tradition stets von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. „Doch die Einigkeit im Slum bröckelte. Wir entwickelten uns auseinander, da ein Teil der Gemeinschaft für den Wandel war und der andere dagegen.“ Er wolle keine Namen nennen, aber mancher Nachbar sei vom Bauherrn bestochen worden, den Protest aufzugeben.

Zwei Jahre sollten die Bauarbeiten dauern. Wer berechtigt war, wurde für diese Zeit in der Übergangssiedlung untergebracht, die der Raheja-Konzern auf einer der Stadt gehörenden Fläche baute. Sie lag auf einem Hügel vier Kilometer von der Kolonie entfernt. „Aus zwei Jahren sind mittlerweile sieben geworden. Und wenn man sich den Fortschritt der Bauarbeiten anschaut, werden wir hier wahrscheinlich noch viel länger bleiben müssen“, beschwert sich der 39-jährige Puppenspieler Vinod Bhatt verärgert. „Glauben Sie, dass irgendjemand es für nötig hält, uns zu sagen, wie lange uns diese Zumutung noch heimsuchen wird?“

Die Verzweiflung unter den Nachbarn ist spürbar, viele haben die Hoffnung verloren, wie versprochen in die Kolonie zurückzukehren. Sie sehen sich dazu verdammt, in provisorischen Fertighäusern zu leben, die auf eine Haltbarkeit von höchstens drei Jahren ausgelegt sind und zunehmend verfallen. Darin befinden sich zwölf Quadratmeter große Einzimmerwohnungen mit Wänden aus Gipsplatten, ohne Küche, mit einer einzigen Steckdose versehen und ohne Wasseranschluss. Außerhalb dieser Behausungen stehen tragbare Toilettenanlagen, die von 20 Haushalten geteilt werden. Wasser gibt es aus Gemeinschaftsreservoirs, für jede Familie nur die begrenzte Menge von zwei Kanistern pro Tag, was zu Mangel und ständigen Konflikten führt. Zudem ist die Wasserqualität schlecht, sodass viele über Hautinfektionen klagen. Es fehlt die Entsorgung von Abwasser, was unzumutbare sanitäre Zustände mit sich bringt. Während der Regenzeit sind die kleinen Straßen zwischen den Häuserzeilen komplett überflutet.

„Die ersten Familien, die 2014 hier ankamen, akzeptierten ihre Umsiedlung ohne Widerstand, sie hofften auf bessere Lebensumstände“, erinnert sich der renommierte Puppenspieler Puran Bhatt (66), von der National Academy of Music, Dance and Drama mit höchsten Preisen ausgezeichnet für seine virtuose Kunst. „Aber die meisten Familien wollten nicht, dass ihre Häuser abgerissen werden und die Nachbarschaft künftig aus Hochhäusern besteht. Und sie wollten schon gar nicht für Jahre in ein provisorisches Wohnlager abgedrängt werden.“ Doch sie wurden es. Ende 2016 musste eine weitere Gruppe von etwa 800 Familien per Unterschrift anerkennen, dass sie umzuziehen hatten und ihre Häuser verschwanden. „Im Oktober 2017 dann blieb den letzten der noch in der Kolonie Verbliebenen die Erfahrung nicht erspart, dass man in Delhi auch gewaltsam vertrieben werden kann“, schließt Puran Bhatt seinen Bericht.

Laura Fornell ist Freelancerin und berichtet für das Amalgama-Projekt aus Afrika und Asien

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