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In der Krise | Trotz allem: Zehn Entwicklungen, die uns Mut machen


Link [2022-04-17 07:33:31]



Es ist Krieg, vor unserer Haustür. Die Pandemie ist nicht vorbei, die Klimakrise in ihrer Breite noch nicht erfasst. Also fragten wir uns: Gibt es auch Nachrichten, die Hoffnung machen? Ja! Revolution von unten

Es ist eine kleine Revolution. Die überraschend kam, so wie Revolutionen nun mal kommen: Bei dem Internetgiganten Amazon hat sich in Staten Island, New York, die erste Gewerkschaft gegründet. Trotz Einschüchterungsversuchen und professionellem Union Busting hat es die unabhängige Amazon Labor Union (ALU) geschafft, eine Mehrheit der Beschäftigten für die Gründung zu organisieren.

Angeführt von dem charismatischen Christian Smalls, zwei Jahre zuvor von Amazon gekündigt, hat die ALU den Kampf David gegen Goliath gewonnen. Von dem Sieg, der ohne die üblichen Gewerkschaftsstrukturen ausgekommen ist und vielleicht gerade deshalb so erfolgreich war, könnte nun der Funke auch auf andere Amazon-Standorte im ganzen Land überspringen. Nach mehr als drei Jahrzehnten neoliberaler Privatisierungspolitik und der systematischen Schwächung der Gewerkschaften könnte dieser Sieg eine Kehrtwende bedeuten. Denn er zeigt, dass der Durchsetzungswille und das planvolle Organizing von Arbeiterinnen und Arbeitern sie in die Lage versetzt, sich zu wehren. Was als Stärke der Arbeiterbewegung altmodisch und vergessen schien, ist nun zurück: die Selbstorganisierung der Ausgebeuteten. Ines Schwerdtner

Ich habe Sônia gesehen!

Ich habe Sônia gesehen, zum Glück. Sie trug ein salbeigrünes Kleid, eine Halskette aus gelben und roten Plastikperlen und ihren Kopfschmuck aus bunten Ara-Federn. Ich habe sie auf einem Foto aus Brasilien entdeckt, wo gerade Tausende Indigene gegen den rechten Präsidenten Jair Bolsonaro, die Vernichtung des Regenwaldes, Landraub und die Zerstörung indigenen Lebens demonstrierten. „Brasilien zurückerobern“, lautete das Motto ihres Aktionscamps. Sônia Guajajára ist Präsidentin des Dachverbandes der indigenen Völker APIB (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil), der dazu aufgerufen hatte.

Eigentlich kämpfen sie dort für uns alle. 2016 begleiteten der Regisseur Werner Boote und ich Sônia ein paar Tage für unseren Dokumentarfilm Die grüne Lüge. Wir fuhren mit ihr durch die bedrückende Monotonie der Soja-Monokulturen und Viehweiden im Bundesstaat Mato Grosso do Sul und zu einer indigenen Assamblea, die sich dagegen auflehnte. Da war so viel Liebe, Klugheit, Leidenschaft, Kraft und Solidarität, dass die abstrakte Idee einer besseren Welt plötzlich real und greifbar wurde. Wenn ich den Mut verliere – so wie im Moment –, denke ich an Sônia und ihre Leute. Als ich sie auf dem Foto sah, inmitten der Widerständigen, so ansteckend lachend wie damals, stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich Sônia sagen würde, was ich gerade oft denke: „Man kann ja eh nichts machen.“

Das wäre ungeheuerlich. So ungeheuerlich, wie nur daran zu glauben, es wäre keine andere Welt möglich. Kathrin Hartmann

Wenn wir uns trauen

Ja okay, es brauchte wieder mal eine Krise, damit wir und die uns Regierenden merken, was für eine formidable Maschine das eigentlich ist, so ein Staat. Aber als das milliardenschwere Gasunternehmen Gazprom Germania, dem ein dicker Anteil an der Gasinfrastruktur Deutschlands gehört, auf dubiose Weise seinen Besitzer wechselte, da fackelte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen) nicht lange: Der Staat schritt ein und der Staat regelte das.

Der früheren Gazprom-Tochter Gazprom Germania gehören Erdgasspeicher, Anteile an Gasnetzen und Gashandelshäusern. Weil es für Deutschland von nationalem Interesse ist, dass die Gasversorgung weiterhin funktioniert, überlegte die Bundesregierung zuerst, Gazprom Germania zu verstaatlichen, und übernahm die Firma dann treuhänderisch einfach selbst, als die Eigentümer drohten, sie zu liquidieren.

Was – nach Corona – wieder einmal zeigt: Es geht also doch. Wenn das Gemeinwohl auf dem Spiel steht, kann der Staat mit Leichtigkeit in Eigentumsrechte eingreifen. Also könnte er das auch in anderen Bereichen: Bei der Gesundheit. Beim Wohnen. Bei den Kohlekraftwerken. Bei der größten Quelle von Ungleichheit in diesem Land: Dem Vererben. Wir könnten so vieles, wenn wir uns nur trauten. Vielleicht bleibt unter dieser Regierung ja diesmal auch nach der Krise das Bewusstsein: Mit uns ist ein Staat zu machen. Pepe Egger

Giffey wird scheitern!

Es ist doch so: Wer es schafft, mehr als eine Million Berliner:innen dazu zu bewegen, für die Vergesellschaftung großer Wohnungsbestände zu stimmen, taugt wohl als Hoffnungsträgerin und Mutmacherin. In der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ haben sich Bürger:innen aus der ganzen Stadt zusammengetan, organisiert und den großen Immobilienkonzernen den Kampf angesagt.

Ja, es stimmt, die Berliner SPD mit Bürgermeisterin Franziska Giffey lässt kaum etwas unversucht, um die Umsetzung des Volksentscheids zu torpedieren. So gibt es statt eines Vergesellschaftungsgesetzes erst einmal eine Kommission; die hat ein Jahr Zeit, um ausgiebig „Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen der Umsetzung des Volksentscheids“ zu prüfen. Obendrein hat die SPD Kritiker der Vergesellschaftung (jawoll, alles Männer) in die Kommission entsendet. Aber wenn die vergangenen Jahre eines gezeigt haben, dann das: „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ hat nicht irgendwelche Luftschlösser gebaut, sondern die Umsetzbarkeit der Vergesellschaftung juristisch prüfen lassen – genauso wie ihre Wirtschaftlichkeit. Stellen wir uns also vor, was los ist, wenn auch die Kommission trotz aller kritischen Experten zu dem Schluss kommt: Deutsche Wohnen & Co enteignen ist machbar! Benjamin Knödler

Sie versetzen Berge

Die Familienrechtlerin Ingeborg Schwenzer stellte Ende der 1980er Jahre in ihrer Habilitation eine kühne Idee vor. Das Familienrecht, so meinte sie, sollte nicht an starren Statuskategorien haften, sondern real gelebte Familienformen abbilden. Trotz dieser mutigen Vordenkerin kennt das Familienrecht nach wie vor nur „Mutter-Vater-Kind“-Konstellationen.

Ein Kind, das in eine Partnerschaft zweier Frauen hineingeboren wird, hat auch im Jahr 2022 nur einen rechtlichen Elternteil, nämlich die Mutter, die es geboren hat. Das ist nicht trivial. Die rechtliche Eltern-Kind-Zuordnung ist Voraussetzung für die finanzielle Absicherung des Kindes, für die sorgerechtlichen Befugnisse der Eltern und auch für die Fragen, welchen Nachnamen das Kind trägt und welche Staatsangehörigkeit es bekommt. Eine unvollständige Geburtsurkunde führt zu unvollständigen Rechten.

„Schluss damit!“, entschieden 2020 gleich mehrere queere Familien und zogen vor Gericht, um der gesetzlichen Diskriminierung ihrer Kinder ein Ende zu setzen. Sie haben damit Berge versetzt. Nicht nur liegen vier der Verfahren aktuell beim Bundesverfassungsgericht (ein rechtshistorisch wohl einmaliger Vorgang). Vor allem kündigte Bundesjustizminister Buschmann kürzlich „die größte familienrechtliche Reform der letzten Jahrzehnte“ an. Das Versprechen: gleichberechtigte Mit-Elternschaft für alle und ein Familienrecht, das den Lebenswirklichkeiten der Bürger*innen besser gerecht wird. Zu sehen, wie Menschen Recht mobilisieren und die einstige Vision „Vom Status zur Realbeziehung“ Gesetz wird – ich weiß nicht, was mich dieser Tage mehr ermutigen könnte als das. Lucy Chebout

Leise Melodie von Zärtlichkeit

Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Vom Leitspruch der Aufklärung ist nach dreißig Jahren Neoliberalismus bloß übrig geblieben, dass Menschen sich gefälligst am Schlüpper reißen sollen, um nicht – selbst schuld! – in ihrer Misere zu verweilen. In diesem Winter verweilten in Deutschland recht viele Menschen in einer Misere, weil sie die Stromrechnung nicht bezahlen konnten. Einer davon war Joachim Temmen, ein Kraftfahrer aus der Nähe von Magdeburg, der Vollzeit arbeitet und dessen Familie dennoch mit Hartz IV aufstocken muss. Ihr Wasserboiler zog zu viel Strom, sie konnten die Rechnung nicht zahlen, die Stromsperre drohte. Die Familie wandte sich an den Verein Sanktionsfrei, der Hartz-IV-Sanktionen durch Spendengelder ausgleicht. Der übernahm die Nachzahlung. Das ist eine gute Sache.

Wirklich Mut jedoch macht, was passiert ist, als der Freitag die Geschichte veröffentlichte: Leser*innen erklärten sich bereit, Temmens Stromrechnung für 2022 zu übernehmen. Leute erklärten sich bereit, ihnen einen neuen Wasserboiler zu finanzieren. Joachim Temmen freute sich wahnsinnig, doch er sagte: „Bitte spendet stattdessen an Sanktionsfrei, damit all die anderen Menschen, die so in Not geraten wie wir diesen Winter, ihre Stromrechnung bezahlt bekommen.“ Das taten viele: Sie spendeten. Und dann passierte es. Joachim Temmens Familie, deren Energie bislang davon aufgesogen wurde, die Vollzeitarbeit, die Erziehung eines kleinen Sohnes, das Einkaufen mit Hartz-IV-Geldbeutel und die Ängste durch ihre Energie-Notlage zu bewältigen, fasste durch diese Welle der Solidarität Mut. Sie wandte sich an den Vermieter – und bekam von ihm einen stromsparenden Wasserboiler. Welche Energie freigesetzt werden kann, wenn diese Gesellschaft sich nicht mehr zum neoliberalen Takt von Spaltung und Streit bewegt – sondern zu der leisen Melodie von Zärtlichkeit. Elsa Koester

Es ist ein Nashorn!

Unbeholfen tapst das Nashornbaby durch den Sand, beobachtet von vielen Kameras: Seine Geburt Ende März in einem indonesischen Nationalpark war eine Sensation. Weltweit gibt es Schätzungen zufolge nur noch 80 Exemplare des Sumatra-Nashorns, es steht sehr weit oben auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten. Aber warum die Geburt eines einzigen Tieres feiern, während jeden Tag etwa 150 Arten für immer von unserem Planeten verschwinden? Die Primatenforscherin Jane Goodall schreibt in ihrem Buch der Hoffnung, sie glaube daran, „dass es nicht zu spät ist für eine Korrektur“. Gemeint ist unser Umgang mit dem Lebensraum von Tier- und Pflanzenarten.

Tatsächlich zeigen Studien: Die Populationen mehrerer wichtiger Thunfischarten haben sich dank strikter Fangquoten erholt. Seit 1993 konnten durch gezielte Maßnahmen mindestens 20 Vogelarten vor dem Aussterben gerettet werden. Ökosysteme erholen sich – wenn man sie nur lässt. Dafür sind aber Entscheidungen wie die der Demokratischen Republik Kongo unerlässlich: Seit letztem Jahr werden keine Konzessionen zur Abholzung des Regenwalds mehr vergeben. Theresa Leisgang

Jemen: „Caesar“ bringt „Mazout“

Das Schiff müsste „Hoffnung“ heißen. Endlich – nach 34 Tagen der Blockade auf See – kann es am 5. April den Hafen Hudeida anlaufen. Zu verdanken ist das der seit einer Woche geltenden Feuerpause zwischen den Huthi-Rebellen und der von Saudi-Arabien geführten Koalition im Bürgerkriegsland Jemen. In Wirklichkeit trägt der Frachter den Namen „Caesar“ und bringt „Mazout“: Treibstoff, mit dem sich Stromgeneratoren für Hospitäler und Schulen anwerfen lassen.

Auch Schiffe mit Medikamenten und Lebensmitteln sind unterwegs, um die Fracht an den Hudeida-Kais und damit im Huthi-Gebiet zu löschen. Die mit dem logistischen Beistand der USA und Großbritanniens von Saudi-Arabien verhängte Seeblockade ist noch nicht aufgehoben – gelockert schon. Was ist geschehen? Haben 380.000 Kriegstote in sieben Jahren die Gewissen in Aufruhr versetzt? Die humanitäre Katastrophe ohnegleichen?

Bei allen Konfliktparteien scheint die Erkenntnis gereift: Das militärische Patt zwingt zum politischen Kompromiss. Ein erster Schritt ist überraschend getan. Der Anfang 2015 von den Huthis aus der Hauptstadt Sanaa vertriebene Präsident Mansur Hadi hat sich soeben selbst entmachtet und einen achtköpfigen „Präsidialrat“ ausgerufen, der die Macht mit den Huthis teilen könnte. Darüber entschieden wird in Riad. Lutz Herden

Untergang, empathisch

Nein, die sprachlichen Ausdrucksformen meiner Tochter (16) machen mir keinen Mut: Sie bereiten mir Bauchschmerzen, Anflüge von Verzweiflung und Schwarzseherei. Was soll aus einer Generation werden, die keine Bücher mehr liest? Die sich auf Denglisch verständigt und weder in der einen noch der anderen Sprache Sätze bildet, die grammatikalisch „fine“ sind? Was soll aus ihr werden, wenn sie die Grundlage unserer Zivilisation seit den Sumerern – die Schrift – einfach in die Tonne tritt? Und sich statt SMS nur noch viertelstündige Sprachnachrichten schickt, die wie Planeten auf ihrer Umlaufbahn elliptisch ein Thema umkreisen, anstatt auf den Punkt zu kommen?

Nein, die Kommunikationsformen meiner Tochter machen mir keinen Mut: Was die Form angeht. Inhaltlich ist das anders. Inhaltlich denke ich: Diese Generation ist auf einem guten Weg. Neulich hörte ich beiläufig ein Gespräch, in dem die eine 16-Jährige die andere fragte: „Und, wie geht es deiner ,mental health‘?“ Es folgte ein längeres Gespräch über Höhen und Tiefen eines Teenagerlebens, über Beziehungen zu Eltern, Freundinnen, Freunden, über den Umgang mit vergangenen Erfahrungen, mit Stress und Pandemie. Ich dachte: Wow, so offen und empathisch und, darf ich es sagen: „supportive“ hätte ich auch gerne geredet, mit meinen Freunden, damals als 16-Jähriger. Das soll nicht heißen, dass die Generation meiner Tochter nicht auch „issues“ hat, dass die Pandemie und der Spätkapitalismus ihrer „mental health“ nicht auch richtig zusetzen. Aber wenn der Umgang damit so läuft, macht es mir Hoffnung. Pepe Egger

Chile: Kraft einer Koalition

Seit dem 11. März hat Chile einen neuen Präsidenten: Gabriel Boric Font, Kandidat eines linken Wahlbündnisses, der bei der Stichwahl im Dezember 2021 seinen rechten Kontrahenten haushoch schlagen konnte. 48 Jahre nach dem Putsch gegen Salvador Allende steht die Wahl von Boric für die Hoffnung auf eine gerechtere Welt, jenseits von Märkten und Ausbeutung. Oder, wie Boric es bei seiner Amtseinführung sagt: „Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, dann kann es auch das Grab sein. Aber eines, auf dem alle Blumen blühen.“

Das Erbe der Pinochet-Diktatur mit ihrem extrem wirtschaftsliberalen Kurs wirkte in Chile lange fort. Bildung, Gesundheit, Rente, Wasser – fast alles ist privatisiert, unerschwinglich für die große Mehrheit der Menschen, das Land tief gespalten zwischen rapide wachsender Armut und einer sehr kleinen, sehr reichen Elite. Die Wut der vielen entlud sich 2019 in monatelangen Massenprotesten, die auf eine brutale Staatsmacht trafen. 34 Menschen starben, Tausende wurden eingekerkert. Am Ende aber musste die Regierung nachgeben und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zustimmen.

In Chile entwickelt der Schulterschluss einer eher akademischen radikalen Linken mit breiten Sozialprotesten eine unaufhaltsame Kraft. Eine Kraft, die am Ende sogar einen linken Aktivisten in den Monada-Palast spülen konnte. Eine Kraft, die auch uns, hier im kalten Norden, Hoffnung machen kann. Jan van Aken

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