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Im Krieg | Lehrerin über geflüchtete Schüler: „Diese Kinder lernen jetzt hier“


Link [2022-04-23 12:15:03]



Die Lehrerin Maja Lasić kam selbst als Jugendliche nach Deutschland. Sie ahnt: Viele ukrainische Schüler*innen werden bleiben

Zwei Drittel aller Kinder sind in der Ukraine auf der Flucht, ein Großteil von ihnen sind als Kriegsflüchtlinge im Ausland. In Deutschland versuchen die Kommunen nun, sie in ihren Schulen unterzubringen – schon lange gibt es Willkommensklassen, in denen auch viele Kinder aus Syrien unterrichtet wurden und werden. Maja Lasić hat sich diese Willkommensklassen als SPD-Bildungspolitikerin genauer angeschaut. Da sie selbst als Jugendliche aus Bosnien nach Deutschland floh, weiß sie gut, wie es ist, als Schülerin in einem fremden Schulsystem anzukommen.

der Freitag: Frau Lasić, über 50.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine lernen bereits in deutschen Schulen, so der Stand vor den Osterferien. Wie sieht es an Ihrer Schule in Berlin aus?

Maja Lasić: Wir haben schon vor dem Krieg in der Ukraine fünf sogenannte Willkommensklassen unterrichtet. Es wandern ja ständig Menschen nach Berlin zu, das gerät zurzeit etwas aus dem Blick. Das bedeutet: Wenn die ersten kommen, sind wir gut vorbereitet.

An Willkommensklassen, wie sie die meisten Bundesländer einrichten, wird Kritik laut – vor allem, weil die Schülerinnen und Schüler dort unter sich lernen.

Als jemand, der vor 30 Jahren so eine Klasse besucht hat, fällt mir vor allem auf: Die kritischen Töne kommen stets von Akteuren der Bildung. Wer sie tatsächlich besucht, wird selten gefragt. Für mich, die mit 14 aus Mostar in Bosnien kam, war der Besuch einer speziellen Klasse – den Namen Willkommensklasse gab es noch nicht – sehr hilfreich.

Inwiefern?

Sprachenlernen ist für alle, die nicht sehr jung sind, ein kognitiver Vorgang, geht also nicht von selbst. Es braucht Zeit, Anleitung, Unterricht. Auch das Lernen mit anderen in einer ähnlichen Lage bietet erst einmal Vertrautheit. Und der Einstieg in das Regelsystem hat es in sich. Ich habe lebendige Erinnerungen an Situationen, die ich als regelrecht erniedrigend empfand: weil ich Fachbegriffe nicht kannte, mir vieles zu schnell ging. Die Willkommensklasse bietet zu Beginn einen gewissen Schutzraum und verringert später den Schock nach dem Wechsel.

Oft heißt es, die Schülerinnen und Schüler blieben zu lange in diesen Klassen.

In Berlin ist die Höchstgrenze ein Jahr, außer es gab längere Zeit keinen Kontakt zum Bildungssystem. Bei den Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine gehe ich davon aus, dass die allermeisten nach diesem Jahr in den Regelunterricht überwechseln werden. Bis zur vierten Klasse, wenn das Sprachenlernen noch intuitiv läuft, gibt es ohnehin keine Extraklassen.

Die Generalkonsulin der Ukraine unterbreitete einen anderen Vorschlag: Die Kinder und Jugendlichen sollten weiter nach ukrainischen Lehrplänen unterrichtet werden. Täuscht der Eindruck, dass das – abgesehen von der Türkei, die in den 1980er Jahren einen eher nationalistischen Konsulatsunterricht anbot – ein Vorschlag ohne Vorbild ist?

Nein, der täuscht nicht. Der Wunsch ist nicht neu, ernsthaft vorschlagen kann man das aber erst durch die Digitalisierung: In den 1990er Jahren nach bosnischen Lehrplänen zu unterrichten, wäre technisch nicht möglich gewesen. Die Ukraine hat heute eine weit entwickelte Lernplattform. Dennoch kommt mir in der Tonalität der Konsulin manches bekannt vor.

Zur Person

Foto: Jonas Holthaus/SPD

Maja Lasić, 42, war von 2016 bis 2021 bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, jetzt ist sie Lehrerin an einer Sekundarschule im Berliner Stadtteil Wedding. Als sie 14 Jahre alt war, zog ihre Familie während des Bosnienkriegs aus Mostar nach Bonn

Was meinen Sie damit?

Jede Botschaft hat die Aufgabe, die eigene Community so anzusprechen, dass der Stolz auf die eigene Nation aufrechterhalten und eine Rückkehr im Blick bleibt. Das ist auch nachvollziehbar. Viel wahrscheinlicher jedoch ist, dass die Menschen über Jahre bleiben. Je schneller wir sie in das Bildungssystem integrieren, desto besser. Vor allem bei Jugendlichen läuft die Zeit; nach dem Ende der Schulpflicht ist das deutsche System eher schlecht darin, Menschen zu integrieren. Und: Für eine Beschulung nach ukrainischem System müssten die Schulgesetze der Länder geändert werden. Wenn wir das machen, was folgt dann? Forderungen, hier nach syrischen, bosnischen, russischen Lehrplänen zu unterrichten? Die Türkei haben Sie ja angesprochen: Wie würden Menschen, die der Konsulin der Ukraine nun zustimmen, es bewerten, wenn derselbe Vorschlag aus der Türkei käme?

Die Menschen aus der Ukraine kommen aus einer sehr speziellen Lage. Braucht es für besondere Zeiten nicht besondere Lösungen? Viele lernen ohnehin privat auf der ukrainischen Lernplattform.

Ich habe volles Verständnis für den Wunsch der Familien, den Kontakt zur Ukraine nicht zu verlieren! Und natürlich gibt es Grauzonen, wenn jemand kurz vor dem Abschluss steht; ergänzende Angebote in Kooperation mit dem ukrainischen Staat sind sinnvoll. Als deutsche Bildungspolitiker benötigen wir aber doch eine realistische Einschätzung. Die sagt: Auch wenn heute alle zurückkehren wollen, werden sich mit jedem Jahr mehr Menschen fragen, ob ihre Zukunft nicht in Deutschland ist.

War das auch bei Ihnen so?

Ja, natürlich, ich dachte: „Ich lerne hier ein bisschen mit, nächstes Jahr gehe ich wieder nach Hause.“ 1992 und 1993, als die meisten bosnischen Flüchtlinge kamen, war das für uns alle klar. Doch als sich die Lage beruhigte, war viel geschehen; drei, vier Jahre können die Perspektive völlig verändern. Aus meiner Bonner Klasse lebt heute höchstens jeder Zweite in Bosnien – und nicht wenige sind dort mit ihrem Deutsch erfolgreich international tätig.

Bleibt die Frage, wer Zigtausende zusätzliche Schülerinnen und Schüler unterrichten soll. Nach Berechnungen des Bildungsökonomen Klaus Klemm fehlen in Deutschland bis 2035 mindestens 120.000 Lehrer.

Für die Zukunft würde uns nur ein bundesweiter Staatsvertrag helfen, der Lehrerbildung zur gemeinsamen Aufgabe erhebt und klare Vorgaben für alle Länder macht. Kurzfristig plädiere ich dafür, alle Lehrkräfte einzubinden, nicht nur jene, die eine Ausbildung für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) haben. So wären sofort auch Fachlehrer in den Willkommensklassen. Für die Schüler hätte das Vorteile, sie bekämen etwa Fachbegriffe mit. Vor allem aber würde die Notlage gerechter verteilt – Lehrkräfte fehlen allerorten, doch Lehrer für Deutsch als Zweitsprache gibt es besonders wenige.

Sind die Lehrkräfte dafür gerüstet? Die Forderung, alle sollten in ihrer Ausbildung DaZ-Kenntnisse bekommen, ist alt, aber unerfüllt.

Was nichts an der Wichtigkeit der Forderung ändert. Warum nutzen wir nicht die Gelegenheit, sie auf diesem Wege voranzubringen? Zur Wahrheit gehört: An zahllosen Schulen, auch meiner, vermitteln Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren nebenbei Deutschkenntnisse an Schülerinnen und Schüler mit Wurzeln in einem anderen Land. Viele können das längst.

Eine andere Idee ist, ukrainische Lehrkräfte einzubinden. Manche Universitäten bieten Kurse an, die auf das deutsche Schulsystem vorbereiten, Potsdam und Hildesheim zum Beispiel. Das Problem: In vielen Ländern werden Lehrer für den Unterricht in einem Fach ausgebildet, in Deutschland sind es zwei. Zugewanderte können hier kaum vollwertige Lehrkräfte werden.

Auch hier muss sich die Kultusministerkonferenz bewegen und sogenannte Ein-Fach-Lehrkräfte zulassen– auch wenn ein paar Hundert Lehrer aus der Ukraine den Mangel nicht beheben werden. Eine andere Idee ist, für eine Übergangszeit bewährte Träger wie die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung einzubeziehen, gern in Zusammenarbeit mit ukrainischen Lehrkräften. In jedem Fall brauchen die Kinder und Jugendlichen schnell Räume, in denen sie auf Gleichaltrige treffen. Übrigens auch, um ihnen einen Schutzraum gegenüber ihren Eltern zu schaffen: Für die bricht gerade eine Welt zusammen, Kinder müssen das für ein paar Stunden vergessen dürfen.

Jeannette Goddar ist freie Journalistin in Berlin und arbeitet häufig zu Bildung in der Migrationsgesellschaft

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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