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Im Gespräch | „Wir müssen endlich vor die Krise kommen“


Link [2022-04-26 09:38:08]



Ticken in Schleswig-Holstein die Uhren anders? Aminata Touré ist die grüne Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl am 8. Mai

In den aktuellen Landtag Schleswig-Holsteins ist sie als Nachrückerin eingezogen, am 8. Mai tritt sie nun als grüne Co-Spitzenkandidatin an: Aminata Tourés Aufstieg verdankt sich auch ihrem radikalen Pragmatismus. Sie akzeptiert Waffenlieferungen in die Ukraine und ein Terminal für Flüssiggas (LNG) zum Übergang, sie will die Polizei besser ausstatten und ihr zugleich Racial Profiling verbieten.

der Freitag: Frau Touré, in drei Wochen wird in Schleswig-Holstein gewählt, trotzdem scheint der Wahlkampf nicht so richtig Fahrt aufzunehmen. Woran liegt das?

Aminata Touré: Als PolitikerInnen stecken wir seit Monaten in der Planung, inhaltlich wie strategisch. Aber ich habe den Eindruck, dass viele Menschen sich derzeit eher mit den großen Fragen auf der Weltbühne auseinandersetzen und noch nicht richtig im Landtagswahlkampf angekommen sind.

Wechselstimmung jedenfalls scheint es keine zu geben.

Nein. Die letzten Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung mit unserer Jamaika-Koalition zu 75 Prozent zufrieden ist und dass auch Ministerpräsident Daniel Günther hohe Zustimmungswerte hat. Das ist eine andere Stimmung als in Nordrhein-Westfalen, wo man gerade eine Flut hinter sich hat und der Ministerpräsident erst seit wenigen Monaten im Amt ist.

In Schleswig-Holstein scheint es in der Landespolitik überhaupt seltsam konstruktiv und lösungsorientiert zuzugehen. Was ist da los bei Ihnen?

Wir als Grüne haben es geschafft, in dieser Koalition durchaus Konflikte auszutragen, sie aber intern zu lösen, ohne dass jemand in der Koalition das Gesicht verloren hätte. Natürlich gab es auch Punkte, wo wir uns als Grüne nicht durchsetzen konnten, aber es überwog bei allen Parteien die Geschlossenheit, die aus einem gemeinsamen Verantwortungsbewusstsein kam.

Ist das nicht auch gefährlich, wenn es allzu harmonisch läuft? Weil man dann Sichtbarkeit und Profil einbüßt?

Ich kann mich an Plenardebatten erinnern, wo ich sehr deutliche Kritik an der CDU formuliert habe, was diese übrigens nicht lustig fand. In der Afghanistan-Politik beispielsweise, oder im Klima- und Umweltbereich. Die Leute wissen ziemlich genau, wo sich unsere Positionen innerhalb der Koalition unterscheiden. Wir Grünen hatten bei der letzten Wahl hier 12,9 Prozent, jetzt stehen wir irgendwo zwischen 18 und 20 Prozent: Wir haben an Profil also nicht verloren. Eher ist es so, dass unsere grüne Politik auf die CDU abgefärbt hat. Was der aber durchaus auch geholfen hat, weil sie sich so von der CDU in anderen Bundesländern abheben konnte. Und auch sie profitiert davon, dass sie ein Landesverband ist, der keine offenen Konflikte ausführt.

Ist das das schleswig-holsteinische Modell? Die Bundesgrünen haben seit der Übernahme durch Habeck und Baerbock ja dasselbe erfolgreich praktiziert: keine internen Schlammschlachten in der Öffentlichkeit.

Ich denke, das ist unsere Aufgabe als Politik. Zur Profilierung kann man jeden Konflikt öffentlich austragen, klar hilft das einem in der Wahrnehmung. Aber wenn ich die Themen angucke, für die ich in der Koalition verantwortlich war, also Flucht und Migration oder die Gleichstellungspolitik, dann ist doch die Frage: Profiliere ich mich auf Kosten des Themas? Natürlich kann ich jeden Tag in der Zeitung stehen, Aminata Touré macht Krawall und so. Aber mir und auch vielen anderen geht es um die inhaltliche Umsetzung. Wenn man am Ende einer Legislatur dasteht und nichts vorweisen kann außer der eigenen Bekanntheit als Person: Wem ist damit gedient?

Kommt dieser Pragmatismus bei Ihnen aus der politischen Kultur, aus Ihrem Charakter oder einfach daraus, dass Landespolitik hier halt so funktioniert?

Ich glaube, es ist eine Kombi aus allen dreien. Man kann sich auch auf Landesebene komplett zerlegen, das ist durchaus möglich. Aber die Konstellation als Jamaika-Koalition hat ziemlichen Druck auf uns alle ausgeübt: Weil es sie vor uns nur einmal gegeben hat, im Saarland, wo sie auseinandergebrochen ist, und weil sie auf Bundesebene gar nicht erst zustande kam. Wir wussten, dass unser Projekt von vielen kritisch verfolgt werden würde. Für mich persönlich besteht Politik darin, die Dinge, auf die man sich in einem Koalitionsvertrag geeinigt hat, umzusetzen. Dafür braucht es Kompromisse, um die man hart ringt, die dann aber auch gelten.

Zur Person

Aminata Touré, 29, ist in Neumünster geboren und aufgewachsen. Seit 2017 ist sie Mitglied des Landtags von Schleswig-Holstein, seit 2019 seine Vizepräsidentin. Zur Landtagswahl am 8. Mai tritt sie gemeinsam mit Monika Heinold als grüne Spitzenkandidatin an

Nach unserem letzten Interview im Juni 2020 meinte ein Kollege: Och, die Touré, die geht doch nach der Bundestagswahl sicher nach Berlin ... Warum ist das nicht passiert?

Klar hätte ich mich aufstellen lassen können. Aber ich hab mich sehr bewusst dafür entschieden, in Schleswig-Holstein zu bleiben. Weil es für mich darum ging, wo ich den größtmöglichen Einfluss habe, um Dinge vor Ort zu verändern.

In Berlin gehen Fundamentalpositionen wie etwa „Defund the Police“ leicht von der Hand; in Schleswig-Holstein setzen Sie sich dafür ein, dass es bessere psychologische Betreuung für PolizeibeamtInnen gibt.

In Berlin glaubt man manchmal, ganz Deutschland findet in Berlin statt. Das stimmt aber nicht, die Landesebene ist wichtig! Wir haben hier das Polizeigesetz reformiert und dabei sowohl über die Ausstattung für die Polizei verhandelt als auch darüber, dass wir keine weitere Militarisierung der Polizei haben wollen. Dass Racial Profiling nicht Teil der Polizeiarbeit sein darf. Dass die Wegweisung von Tätern bei häuslicher Gewalt verlängert wird. Das sind konkrete Verbesserungen, vor Ort. Wir haben einen Aktionsplan gegen Rassismus beschlossen, der alle möglichen Bereiche von der Bildung über die Justiz zur Polizei und der Landesverwaltung betrifft.

Mit welchen Kernanliegen treten Sie dieses Mal an?

Unser Anspruch ist es, Schleswig-Holstein bis 2035 klimaneutral zu machen. Wir wollen die Kitas reformieren. Und die Wohnungspolitik neu aufstellen. Da haben wir viel auf den Weg gebracht, aber zwei Instrumente nicht geschafft: eine Mietpreisbremse und die Kappungsgrenzenverordnung.

Wie ist es, während eines Krieges Landtagswahlkampf zu machen?

Man merkt es. Jedes Gespräch fängt derzeit damit an, dass man darüber spricht, dass gerade ein Krieg in Europa stattfindet. Manchmal kommen einem die Dinge, über die man im Wahlkampf diskutiert, verhältnismäßig klein vor. Zugleich spüren wir aber auch, wie wichtig es ist, dass wir in einer Demokratie leben, und die besteht ja auch daraus, dass wir uns im Kleinen um sie bemühen.

Wie stehen Sie zur sogenannten Zeitenwende, die die Bundesregierung ausgerufen hat? Zu Waffenlieferungen in die Ukraine?

Ich habe absolutes Verständnis dafür, dass man das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstützen will. Diese Position habe ich immer vertreten, auch als es um die Frage der Waffenlieferungen an die Peschmerga im Irak ging.

Und die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr?

Ich finde den Ablauf der Entscheidung fragwürdig: dass ein Bundeskanzler das einfach mal in einer Sondersitzung des Bundestages verkündet. Wir hätten zuerst eine Debatte führen müssen, was die Bundeswehr überhaupt braucht, ohne gleich eine Summe zu nennen. Außerdem sagen ja selbst viele Leute in der Bundeswehr, dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man mehr Geld ins System reinkippt: Die Strukturen in der Bundeswehr müssen reformiert werden. Was auch nicht funktionieren wird, ist das, was man kurz darauf aus dem Bundesfinanzministerium hörte: dass man anderer Stelle kürzen müssen wird, zum Beispiel bei den Sozialausgaben. SPD und Grüne werden sehr genau aufpassen müssen, dass das nicht passiert.

Die kommenden finanzpolitischen Debatten werden interessant.

Intensiv jedenfalls. Wir werden auch über die Schuldenbremse diskutieren müssen. Sie ist nicht mehr haltbar, wenn man sich die anstehenden Aufgaben anguckt: Klimakrise, Krieg, Flucht und Migration, aber auch der Wohnbereich. Wir haben so viele Bereiche, wo wir investieren müssen, da werden wir andere finanzpolitische Antworten geben müssen als das Beharren auf der Schuldenbremse.

Wird jetzt in der Krise vieles möglich, was sonst nicht gegangen wäre?

Ich finde es richtig, in Krisenzeiten schnell zu handeln. Es ist aber ein Problem, wenn die Politik sich ständig von Krisen treiben lässt und nicht vor die Krise kommt. Denn ehrlich gesagt sind viele der Herausforderungen, die wir haben, nicht neu: zum Beispiel die Notwendigkeit erneuerbarer Energien, die Unabhängigkeit von russischen fossilen Importen. Das sind alles Forderungen, die wir als Grüne hatten, aber politisch nicht umsetzen konnten. Dasselbe gilt auch für andere Bereiche, etwa Flucht und Migration. Eigentlich wäre es doch unsere Aufgabe als PolitikerInnen, Probleme zu antizipieren und schon im Vorfeld zu lösen, sodass wir nicht immer nur im Krisenmodus operieren.

Wie stehen Sie zu den Plänen für ein LNG-Terminal in Brunsbüttel?

Auch das hat eine lange Vorgeschichte. Wir Grünen waren als Partei früher für LNG, aber haben das dann korrigiert, weil wir der Ansicht sind, dass LNG keine Zukunftstechnologie ist. Bei der Ausgestaltung des Wahlprogramms für die Landtagswahl im Februar haben wir diese Debatte erneut geführt: Monika Heinold und ich als Spitzenkandidatinnen haben argumentiert, dass wir in einen Versorgungsengpass kommen werden und diese Entscheidung eine bundespolitische ist, weil nur wenige Standorte zur Verfügung stehen. Also wollten wir LNG aus energie- und klimapolitischer Sicht als Brückentechnologie sehen, die wir übergangsweise akzeptieren, allerdings nur unter der Prämisse, dass so ein Terminal später auch für Wasserstoff zu gebrauchen ist. Unsere Parteibasis war damals dagegen, das so zu formulieren. Die weltpolitischen Ereignisse haben zwei Wochen nach dem Verfassen unseres Wahlprogramms dazu geführt, dass die Bundespolitik und unser grüner Wirtschaftsminister genau dieses Projekt aus Gründen der Versorgungsicherheit nun politisch vorangebracht haben.

In der „Bild“-Zeitung lese ich, Sie duckten sich in der sogenannten Dreadlock-Debatte um die Ausladung einer Musikerin durch Fridays-for-Future-AktivistInnen weg. Ist diese Diskussion eine Scheindebatte?

Es ist keine Scheindebatte. Aber ich finde es interessant, wann man sich in Deutschland für Debatten über Rassismus interessiert. Ich habe den Eindruck, das ist immer dann der Fall, wenn es darum geht, was jemand als weißer Mensch tun darf oder nicht. Ich rede den lieben langen Tag über strukturellen Rassismus, dazu bekomme ich nicht so viele Anfragen. Wenn dann aber eine weiße Person Dreadlocks trägt und weiße Veranstalter das doof finden, dann ist es auf einmal eine große politische Frage, zu der ich mich verhalten soll. Ich denke: Nö. Ich habe in den letzten Tagen sehr viel zu strukturell rassistischen Fragen in anderen Bereichen geschrieben und gesagt: etwa ob sich die Bundesregierung darum kümmert, dass auch Drittstaatler aus der Ukraine nach Deutschland kommen können. Wo ist das Interesse bei solchen konkreten Grundrechtsfragen? Das nervt mich. Zur Frage der Cultural Appropriation habe ich mich an anderer Stelle geäußert.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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